Kapitel 28 - Die erste richtige Flugstunde
Die Genehmigung erwies sich als sehr nützlich. Denn als die anderen Schüler aus den Ferien zurückkamen, war es im Schloss wieder so voll und laut wie eh und je. Über die Ferien war meine Toleranzgrenze wohl ganz schön nach unten gewandert, denn ich wollte mich am liebsten vor dem ganzen Lärm und Trubel verstecken. Und dafür eignete sich die Verbotene Abteilung ganz wunderbar. Evangeline war zwar etwas enttäuscht, dass die Genehmigung nicht auch für sie galt, aber es war schon schwer genug, mit der Erlaubnis als Erstklässlerin an Madam Pinch vorbei in den verbotenen Teil der Bibliothek zu kommen. Sie hatte mich beim ersten Mal bestimmt fünf Minuten gemustert und mich meine gesamte Tasche und deren Inhalt zeigen lassen, bevor sie mich hineinließ. Herausgefunden hatte ich zwar immer noch kaum etwas, aber die Ruhe war trotzdem angenehm. Die wenigen Fünft- und Siebtklässler, die wegen ihrer anstehenden ZAGs und UTZs ebenfalls die Erlaubnis erhalten hatten, in der Verbotenen Abteilung zu sein, ignorierten mich meistens und blickten verzweifelt auf den Berg an Büchern, den sie noch durchlesen mussten. Ich hatte mit Evangeline eine Tisch entdeckt, der an der Absperrung stand und an dem Eva sitzen konnte, während ich hinter dem verschnörkelten Gitter an einem Tisch saß, den ich mir extra dorthin geschoben hatte. Na gut, ich hatte es nicht alleine geschafft, sondern mit einem Ravenclawfünftklässler, der mir bereitwillig geholfen hatte.
Die ersten paar Schultage waren bereits seit den Weihnachtsferien vergangen, sodass bald wieder Flugunterricht anstand. Kaum zu glauben, aber ich hatte tatsächlich immer noch kein einziges Mal hier in Hogwarts auf einem Besen gesessen. In der ersten Stunde war der Unfall mit Neville passiert und an allen Folgeterminen hatte mich Madam Pomfrey krankgeschrieben. Ich war also fast noch nervöser als bei der ersten Stunde, als wir aufs Quidditchfeld liefen. Mittlerweile konnten die anderen nämlich eigentlich alle ganz gut fliegen, sodass sie nicht mehr länger im Innenhof üben mussten. Evangeline war bei Weitem nicht so euphorisch wie ich, da sie beim letzten Mal aus drei Metern Höhe vom Besen gerutscht war und sich den Knöchel verknackst hatte. Missmutig stapfte sie neben mir her und kommentierte meinen aufgeregten Monolog nur hin und wieder mit einem „Schön für dich!" und „Warten wir's mal ab, bis du das erste Mal runterfällst." Doch ich wusste, dass sie das nicht ernst meinte und auch nicht wirklich so grummelig drauf war.
Auf dem Spielfeld standen bereits einige andere Schüler, eingehüllt in ihre wärmsten Sachen, da es immer noch eiskalt war. Harry war es freigestellt worden, ob er weiterhin am Flugunterricht teilnahm, da er sein Flugtalent ja schon reichlich zur Schau gestellt hatte. Außerdem hatte er so dann noch mehr Zeit für die Hausaufgaben, denn das Quidditchtraining fand öfter statt denn je. Heute war Harry aber da.
Er stand umringt von anderen Schülern mitten auf dem Feld. Sie bettelten darum, auch einmal auf dem Nimbus 2000 fliegen zu dürfen. Harry gab dem Drängen nach und reichte den Besen an Parvati weiter. Diese betrachtete das Flugobjekt erst staunend und drehte dann eine Runde über das Feld. Der Flugunterricht war bei ihr zumindest sehr erfolgreich gewesen, denn Fliegen konnte sie. Langsam wurden meine Knie weich, denn ich hatte einiges aufzuholen. Hoffentlich würde ich mich nicht blamieren. Oder ganz wie Eva vom Besen fallen.
„Was ist, wenn ich runterfalle?", sprach ich den letzten Gedanken laut aus.
„Dann bist du eben unten. Und ich bin nicht mehr das Gespött von allen", antwortete Eva mit grimmiger Miene und giftgrünen Haaren. „Könntest du also bitte runterfallen?"
„Ich gebe mir Mühe." Insgeheim dachte ich jedoch, dass ich mir vielleicht noch nicht einmal Mühe geben musste.
„Hey Leute", begrüßte uns Neville. Schon jetzt glänzte über seiner Oberlippe der Angstschweiß. „Du fliegst heute zum ersten Mal, oder Eleonora?"
Ich nickte.
„Oh gut", sagte Neville, auf einmal deutlich glücklicher. „Dann bin ich vielleicht nicht der Schlechteste."
Ich sah ihn schlecht gelaunt an. Toll, dass er so viel Vertrauen in mich hatte. Viel schlechter als Neville konnte ich eigentlich gar nicht sein, denn Eva hatte mir von seinen Eskapaden erzählt. Einmal hatte er es sogar geschafft, rücklings von seinem Besen zu fallen und nur von seiner Socke gehalten fünf Meter über dem Boden zu schweben. Madam Hooch hatte mit ihm immer noch alle Hände voll zu tun.
Deshalb wirkte sie auch nicht sonderlich glücklich darüber, jetzt auch noch mich als Anfängerin dabeizuhaben. „Hat irgendjemand in deiner Familie Quidditch gespielt?", wollte sie mit zusammengekniffenen Augen von mir wissen.
Ich nickte überrascht. Bisher hatte mir kein einziger meiner Lehrer Fragen über meine Familie gestellt und ich bin auch davon ausgegangen, dass das so bleiben würde. Schließlich war die Familie Black ebenso bekannt wie die der Malfoys oder der anderen reinblütigen Familien.
„Dann weißt du hoffentlich, wie man mit einem Besen umgeht, Mädchen", knurrte sie in ihrer mürrischen Art und ließ mich sprachlos zurück. Eva trat neben mich. „Na? Hat sie dir eine ihrer motivierenden Reden gehalten? Ich wette, es kam mindestens einmal 'dein Cousin hat bei den Chudley Cannons gespielt, du musst das doch irgendwie im Blut haben' vor. Das sagt sie zumindest immer zu mir."
Ich musste grinsen. „Dein Cousin hat echt bei den Chudley Cannons gespielt?"
Sie nickte niedergeschlagen. „Ja, und trotzdem fliege ich wie eine einbeinige Nacktschnecke mit Verwirrungszauber! Das hat Malfoy beim letzten Mal echt so zu mir gesagt!"
„Draco sagt viel, wenn der Tag lang ist und er Leute ärgern möchte. Außerdem habe ich noch nie eine Nacktschnecke mit nur einem Bein gesehen." Das brachte sie etwas zum Schmunzeln. „Und außerdem habe ich dich noch gar nicht fliegen sehen, könntest du es mir vielleicht mal zeigen?", ermutigte ich sie und schlang den Arm um sie. Ihr Gesicht hellte sich auf und ihre Augen nahmen einen entschlossenen Grünton an. Ich war froh, dass zumindest die Slytherins nicht mehr beim Unterricht dabei waren, denn da ja alle die Grundlagen beherrschten – oder es zumindest sollten- fand die Flugstunde nur noch alle zwei Wochen statt und das dann auch nur mit dem jeweiligen Haus.
Eva begleitete mich zu der Stelle, an der die ganzen Schulbesen auslagen. Wir schnappten uns die zwei Exemplare, die am wenigsten aussahen, als hätte man in den vergangenen drei Jahrhunderten die Toiletten damit saubergemacht.
Da Madam Hooch gerade Neville davon abhielt, mit dem Kopf voran Richtung Boden zu stürzen, blieb uns wohl nichts anderes übrig, als ohne sie anzufangen. Wir stiegen auf die Besen, wobei ich Eva einfach jede Bewegung nachmachte. Sie stieß sich zuerst vom Boden ab und meine Nervosität stieg. Gleich würde ich wirklich fliegen! So fest ich konnte stieß ich mich ab und schoss in die Höhe. Und alles ging schief.
Obwohl ich bisher erst einmal auf einem Besen gesessen hatte, hatte ich Draco oft genug neidisch beim Fliegen beobachtet. Niemals war er so schnell so hoch gestiegen, wie ich es jetzt tat. Mein Schrei wurde mir beinahe aus dem Mund gerissen. Ich raste vorbei an Eva, die mir nur verblüfft hinterhersehen konnte, vorbei an dem verdutzten Neville, der mit auf dem Besen der ebenso verdutzten Madam Hooch saß. Auch Parvati auf dem Nimbus 2000 musste abrupt bremsen, um nicht mit mir zusammenzustoßen. Innerhalb von Sekunden war ich so hoch, dass die Menschen unten auf dem Spielfeld aussahen wie Ameisen. Doch auch jetzt war nicht Schluss. Der Besen schoss wie ein Korken aus einer Flasche nur noch höher. Ich umklammerte den Besenstiel, um nicht herunterzufallen. Glücklicherweise hatte ich keine Höhenangst, sonst wäre das nicht gut ausgegangen.
Bald war auch Hogwarts nur noch ein Fleck unter meinen Füßen etwa in der Größe einer Wassermelone. Ich bekam es nun wirklich mit der Angst zu tun. Was, wenn der Besen nicht stoppte? Und immer weiter flog, bis irgendwann der Sauerstoff ausging? Dann würde ich bewusstlos werden und fallen. Wenn es dazu kommen würde, könnte ich gar nicht mehr zum Gespött der ganzen Schule werden, denn dann wäre ich nur noch ein Fettfleck irgendwo auf dem Spielfeld.
Was sollte ich denn jetzt tun? Plötzlich fiel mir mein Zauberstab ein, den ich in meine Umhangtasche eingesteckt hatte. Fast traute ich mich gar nicht, mit einer Hand den Besenstiel loszulassen, aber das musste ich. Also umgriff ich mit meiner schweißnassen Hand das Holz noch fester. Zum Glück rutschte ich nicht ab. Mit der anderen Hand griff ich in meinen Umhang und holte zitternd meinen Zauberstab hervor. Der kalte Wind peitschte mir ins Gesicht. Dennoch war ich mir sicher, kleine Stromstöße über ihn jagen zu sehen.
Jetzt musste mir nur noch irgendein Zauberspruch einfallen. Blöderweise war mein Hirn wie leergefegt. Der einzige Zauberspruch, der mir noch einfiel, war Expelliarmus. Und der würde hier nicht funktionieren. Meine Güte, musste bei mir denn alles schiefgehen? Oder viel zu gut gehen? Ich kniff die Augen zusammen und betete, dass ich wieder wohlbehalten auf die Erde zurückkommen würde. Ganz genau stellte ich mir vor, wie mein Besen langsamer werden würde und dann umdrehen würde. Und dann ganz sanft auf dem Boden aufsetzen. Dann könnte ich absteigen und nie wieder einen Besen auch nur berühren.
Irgendetwas hatte sich verändert. Vorsichtig spähte ich unter meinem Lid hervor und keuchte erschrocken auf. Der Besen flog nicht mehr höher. Stattdessen neigte er sich langsam der Erde zu und raste mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der ich mich entfernt hatte, wieder auf sie zu. Wenn ich nicht sogar schneller als vorhin war. Wieder klammerte ich mich am Besen fest. Meine Knöcheln waren schon ganz weiß angelaufen vor Anstrengung. So sollte eine erste Flugstunde definitiv nicht aussehen.
Hogwarts wurde unter mir immer größer und größer. Schließlich wuchs es auf die Größe eines Pferdes. Dann konnte ich die Menschen auf dem Quidditchfeld auch wieder erkennen. Als ich noch näher heransauste, merkte ich, dass sie mich ausnahmslos anstarrten. Noch einmal beschleunigte der Besen seine Geschwindigkeit. Es fühlte sich an, als würde mir mein Gesicht abgeschält werden, wie bei einer Orange. Wieder schrie ich, aber sofort entriss ihn mir der Wind. Die Menschen unten gestikulierten wild mit den Händen und ich sah mehr als nur einen auf mich gerichteten Zauberstab. Aber instinktiv wusste ich, dass ihre Zauber mir nicht helfen würden. Eher würden sie sich verbinden und explodieren. Da konnte mir der einzige Zauber, an den ich mich noch erinnern konnte, doch helfen. Ich brüllte dem Wind: „Expelliarmus!" entgegen und hoffte, dass es funktionieren würde. Ich war nur noch etwa zwanzig Meter vom Boden entfernt. Zehn. Nur noch fünf. Dann drei. Und dann schließlich nur noch einen.
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