I
Wie jeden Sonntag ging ich spazieren. Und plötzlich sah ich sie. Sie saß auf meiner Lieblingsbank, auf der ich schon unzählige Stunden lesend verbracht hatte, weil ich eine Pause vom Leben gebraucht hatte. Als ich sie in dieser ersten Woche des neuen Jahres sah, hätte ich nicht gedacht, was sie einmal bedeuten würde, für mich und mein Leben.
In der Woche danach, als ich mich wieder auf meiner allwöchentlich Spazierrunde befand, sah ich sie wieder. Durch einen seltsamen Zufall saß sie wieder an derselben Stelle wie in der Woche davor. Mit einem Buch in der Hand, auf der einzigen Bank an der meine Route vorbeiführte. Das Buch war ein anderes und ihre Haare waren heute zu einem Dutt gebunden, doch sonst sah sie genau so aus, wie in der vorherigen Woche.
Auch in der dritten Woche sah ich sie auf dieser Bank. Dieses Mal hielt sie kein Buch in der Hand, doch mein Blick haftete trotzdem eine Weile an ihr. Mir fielen ihre wunderschönen, dunkelgrünen Augen auf. Und vielleicht, nur vielleicht, starrte ich sie ein kleines bisschen zu lange an. Irgendwann blickte sie zu mir. Für den Bruchteil einer Sekunde blickten wir uns in die Augen. Dann schaute ich weg und verschwand eilig in die Richtung des großen Waldes, an dessen Rand sich diese Bank befand. Die Dunkelheit des Waldes verschlang mich, während mein Herz immer noch heftig in meiner Brust schlug.
Als ich das mysteriöse Mädchen auch in dieser vierten Woche des Jahres wieder auf der Bank sitzen sah, begann ich zu zweifeln, ob es wirklich so zufällig war, dass sie immer zu genau dieser Uhrzeit auf meiner Lieblingsbank saß. Und gleichzeitig bereute ich mein Handeln der letzten Woche. Warum hatte ich weggehen müssen? Doch in dieser Woche zwang ich mich, einfach vorbeizulaufen. Keine ausgetauschten Blicke, ich glaube sie hatte mich nicht einmal bemerkt.
In der fünften Woche saß sie nicht auf der Bank, doch ich hatte mir fest vorgenommen, meine Fehler der letzten Wochen auszugleichen, um eine zwischenmenschliche Beziehung zwischen uns beiden nicht zu gefährden, die gar nicht existierte. Ich ließ mich langsam auf der Bank nieder und sofort erfasst mich die raue Kälte. Wir hatten Anfang Februar, weswegen Temperaturen um die 5* Celsius herrschten. Für einen kurzen Moment der Stille blickte ich in der Umgebung umher. Das helle Licht, dass nur teilweise den Wald erhellte und die Bäume, deren Schatten wie Wolken aussahen. Ich wartete eine ganze Weile, bestimmt 2 Stunden, doch sie kam nicht. Und irgendwann wurde es mir einfach zu kalt.
In der nächsten Woche hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben, sie jemals wieder zusehen, als sie auch dieses Mal nicht auf der Bank saß. Eigentlich hatte ich nicht auf sie warten wollen, sie vielleicht einfach vergessen wollen, doch dann sah ich sie den Weg entlanglaufen. Mit ihrem hellgrünen Mantel war sie vor den Bäumen, die den Weg umringten, kaum zu erkennen. Ich blieb unauffällig stehen und lehnte mich gegen einen der Bäume, um die Bank für sie freizulassen. Als sie sich langsam niederließ und ihr Buch aufschlug, merkte ich, wie sie mich für einen kurzen Moment anblickte. Doch sobald ich meinen Blick auf sie richtete, schien sie konzentriert in ihr Buch zu blicken. Für eine kurze Zeit schloss ich die Augen. Dann beschloss ich mutig zu sein. Vorsichtig ließ ich mich auf der Bank nieder, auf der sie nun schon seit einiger Zeit saß. Immer Mal wieder blickte ich zu ihr und lächelte sie an. Und manchmal hatte ich auch das Gefühl, dass ihr Blick auf mir hing.
Eine ganze Woche verging und schon war es Ende Februar. Am Sonntag der 7. Woche des Jahres sah ich sie auf der Bank sitzen. Sie schien also wieder in ihr altes Zeitmuster zurück verfallen zu sein. Diesmal war mein Mut nicht groß genug, um mich neben ihr auf der Bank niederzulassen. Stattdessen lief ich so langsam wie möglich an ihr vorbei und erwischte auch einen kurzen Blick auf das Cover des Buches, dass sie diese Woche las. "Und ich leuchte mit den Wolken" hieß das Buch. Ich erkannte es sofort. Ich liebte dieses Buch, nicht zuletzt auch wegen der lesbischen Liebesgeschichte, die den Haupthandlungsstrang bildete.
Schon von Weitem sah ich sie am nächsten Sonntag auf der Bank sitzen. Doch als ich mich der Bank näherte, fiel mir auf, dass sie nicht alleine war. Neben dem hübschen brünetten Mädchen, dass ich Woche für Woche auf dieser Bank zu sehen bekam, saß heute ein blonder Junge. Der groß gewachsene Mann hatte seinen Arm um sie gelegt, während sich die beiden angeregt unterhielten. Blicke flogen hin und her und immer begann sie zu strahlen, wenn er sich ein wenig nach vorne beugte. Trotzdem ignorierte ich sie, als ich an der Bank vorbei ging. Aus Selbstschutz vermute ich.
In der 9. Woche des Jahres, als schon die Krokusse am Wegesrand aufblühten, sah ich sie wieder. Dank des strahlenden Frühlingswetters saß sie wieder auf ihrer Bank, das Gesicht glänzend, von Sonnenstrahlen berührt. Langsam begann ich mich wirklich zu fragen, warum sie jeden Sonntag an genau dieser Stelle saß.
Zum Ende der 10. Woche des Jahres, als ich auf meiner allwöchentlichen Tour gerade wieder an der schicksalshaften Bank vorbeilief, entdeckte ich sie erneut mit einem Buch in der Hand, doch dieses Mal schien sie laut daraus vorzulesen. Außer mir, befand sich niemand in Sichtweite, was vermutlich dem schlechten Wetter geschuldet war und trotzdem hörte ich ihre Worte klar und deutlich. Warum sie laut las, obwohl keiner zuhörte, dass wusste ich nicht. Ich setzte mich vorsichtig auf einen umgefallenen Baumstamm, der nur wenige Meter von der Bank weg lag und lauschte ihrer Stimme gebannt, bis sie irgendwann aufstand und weg ging. Ich saß noch eine Weile dort. Die Stille um mich herum, stimmte mich nachdenklich.
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