Kapitel 8 - Rückkehr zum Tatort und die grüne Nelke
Ein weiteres Mal verging die Zeit im Fluge und die ruhelosen Zeiger der Uhr drehten sich Tag ein Tag aus im selben Tempo, abgekapselt von den kurzlebigen Momenten der Menschheit, für die die Zeit ein nicht greifbares Wunder blieb. Morgenröten waren angebrochen und malten ein lebendiges Farbspektakel an den ehemals dunklen, einsamen Himmel; Abenddämmerungen kamen und zogen die dunkle Decke über das Land. Es wurde allmählich August und die alltägliche Hitze blieb fester Bestandteil des Lebens.
Lovino und Antonio sahen sich seit dem ersten Besuch immer regelmäßiger, wenn auch nur für die kurze Zeitspanne, die ihnen die Arbeit hergab. Dennoch blühten die Knospen ihrer antastenden Freundschaft regelrecht in ihrem täglichen Leben auf, stimmten sie fröhlicher und zufriedener als sonst.
Selbst Enrico und Giorgia beobachteten es, wie ihr junger Mitarbeiter entspannter und weniger bedrückt den Arbeitstag meisterte. Dass er noch vor kurzer Zeit mit den Folgen der visuellen Grausamkeit eines Mordes konfrontiert war und sich paranoid sowie rastlos durch die Stunden quälte, fiel lediglich spärlich auf. Die überwiegende Ausgeglichenheit zeigte sich auch durch das leichter Werden in Lovinos Brust; er fühlte sich nicht mehr von der gesamten Welt und ihren furchteinflößenden, messerscharfen Krallen verfolgt, die auf ihn hinter jeder Ecke lauern und über ihn herfallen könnten.
Sein Kopf war frei für Ideen, sein Geist trug das Leid nicht mehr allein durch die Finsternis, sein Körper übertraf die frühere flink auftauchende Müdigkeit...Die winzig kleine Glut der Freude, die in seinem Inneren verweilte, entfachte ein Feuer, das ihm den trostlosen, grauen Blick auf seine Welt absetzte. Lovino fühlte sich besser, wenn auch nur ein bisschen. Dennoch war es jener noch so kleiner Schritt, jede noch so kleine positive Änderung in seinem Leben, die ihm die immense Last von seinen Schultern nach und nach abnahm und ihm einen Hoffnungsschimmer am Ende seines schier unendlichen, dunklen Lebenstunnel erscheinen ließ.
Ebenso Antonio war von dem unbedeutenden Besuch weniger Wochen zuvor angetan und griff vielleicht sogar öfters als sonst zur alten, wertvollen Gitarre, trotz der schmerzhaften Erinnerung, die ihr innewohnte und seinen Rücken wie durch eine Peitsche aufschlitzte und zum Bluten brachte.
Etwas Schöneres hatte einen unauffälligen Abschnitt seines sonst so negativen Gefühls eingenommen.
Etwas Wohlgesonnenes war seiner gerissenen Seele widerfahren, das ihn in aller Verschwiegenheit heilte und alte Wunden betäubte.
Etwas hatte seine Sorge beiseitegeschoben und ihm einen neuen Blick auf die Dinge des Lebens geschenkt.
Antonio bemerkte diese kleinen Details vorerst nicht und meisterte seinen Alltag in Unwissenheit vor der günstigen Änderung in seinem Leben, dennoch fand er sich häufiger in der Lust, einmal wieder unter die Leute zu kommen und sich einen entspannten Abend zu machen. Obwohl er einige Freunde unter seinen Kollegen hatte, blieben ihm nächtliche Ausgänge in Wirtshäuser oder Bars seit Monaten aus und schlug Einladungen aus eigenem Unwohlsein sogar ab. Jahre zuvor hätte er sich die Gelegenheit niemals entgehen lassen. Er fand seine Energie immerhin in der Gesellschaft mit Menschen, ganz anders als Lovino, der unglaublich schnell ermüdete, sobald ihm zahlreiche soziale Ereignisse entgegenkamen. Der Spanier erinnerte sich bei diesem Vergleich augenblicklich an jenen Bilderrahmen, der im letzten Winkel seines Zimmers verstaubte und sein Bild vor der imaginären, perfekten Welt in Antonios Kopf versteckte, die er selbst unter einer Glaskuppel stellte. Nichtsdestotrotz kehrten die damit verbundenen, tristen Emotionen zurück und malten einmal mehr ein gequältes Lächeln auf die zwanghaft optimistische Visage Antonios und setzten seiner Scheinwelt einen heftigen Sprung auf das makellose Glas.
Er ähnelte ihm letztendlich einfach viel zu sehr.
Er hatte es ebenso verabscheut, zu lange in zu großer Gesellschaft zu sein.
***
"Lovino, bitte hol einen Mörser und eine Schale dazu aus dem Lager!"
"Lovino, hast du auch aufgepasst, dass die Kräuter im Hof nicht vom Regen nass werden? Sie sollen trocknen!"
"Lovino, hast du nachgesehen, ob wir noch genug Alkohol dahaben, sonst kannst du gleich neuen bestellen, sobald der Herr Rossi da ist!"
Lovino hin, Lovino her, so ging es bereits den ganzen Tag und auch die restliche Woche einher. Der junge Erwachsene dachte schon, Enrico würde ihn mit all dem Herumgerenne verarschen wollen, damit er sich nicht eine Sekunde lang entspannen konnte, weil er vielleicht ein einziges Mal verschlafen hatte. Bestimmt wollte er ihm eins auswischen. Normalerweise stresste der Typ nie so...
Zudem kratzten die feinen Staubkörner und Pollen der getrockneten Kräuter und Blüten im Lagerraum wie verrückt in Lovinos Nase, sodass er bereits vermutete, hier und jetzt an dem ganzen Mist zu ersticken wie ein gieriger Vogel an einem verdammten Kern. Er konnte die trockene, staubige Luft förmlich im Sonnenlicht sehen, die ihn versuchte, umzubringen.
Was hatte ihm Enrico als Letztes aufgetragen?
Lovino hatte es bei all den anderen Aufgaben total vergessen.
War es das Öl in der bräunlichen Glasflasche, das er bringen sollte oder doch das riesige Fass voll verdorrter Blätter? Verdammt, seine Gedanken kreisten wie verrückt umher, wiederholten oder unterbrachen sich und hielten ihn davon ab, sich einmal zu konzentrieren.
Verloren sah sich der junge Erwachsene zwischen den hölzernen Regalen um, hoffte darauf, dass ihm sein gesuchtes Objekt zufällig zwischen den tönernen Vasen und gläsernen Fläschchen ins Auge stach und seinem Gedächtnis auf die Sprünge half, jedoch blieben alle seine Bemühungen vergebens. Hätte er sich doch nur nicht so sehr ablenken lassen...
Aber dann...
Ein weiterer Ruf.
"Lovino! Komm mal kurz her, bitte."
Und schon wieder ging dasselbe Spiel von vorne los und Lovino fühlte sich immer mehr wie ein Hund, der auf Anpfiff gehorchen musste. Leider blieb ihm in seiner momentanen Situation nichts Anderes übrig, er bliebe ohnehin die Nummer zwei und zugleich der erste Kandidat, der bei einer Entlassung abgeschossen werden würde, was auch logisch war, wenn er der einzige Aushelfer war, der nicht zur Familie gehörte.
Artig wie er war, stolperte er im Laufschritt - jedoch eine gequälte Mimik tragend - zu Enrico zurück zur Theke, wo dieser bereits mit einem großen Paket vor den Füßen auf ihn wartete.
"Sag mir bitte nicht, dass ich schon wieder einen Lieferdienst an die alte Schachtel am Stadtrand machen muss. Das letzte Mal habe ich einen extremen Muskelkater mit nach Hause genommen...", schoss es Lovino sogleich durch den Kopf, als er schon erahnte, was ihm einmal mehr blühte.
Oh Mann, wie sehr er diese Lieferdienste hasste...Konnten die Kunden nicht einfach mal wie normale Menschen vorbeischauen und sich ihr Zeug selbst holen?
"So, dieses Paket hier gehört bitte ins östliche Wohnviertel gebracht, du brauchst vielleicht zehn Minuten dahin. Jemand ist dort in die leerstehende Wohnung eingezogen, nachdem Alessandros Familie seine Sachen abgeholt hat. Die genaue Adresse steht nochmal auf dem weißen Zettel, aber ich denke, du wirst da schon hinfinden."
Plötzlich traf es Lovino wie ein Blitz und er fror augenblicklich ein. Alessandros alte Wohnung? Wieso musste er ausgerechnet dorthin zurückkehren? Es benötigte lediglich einen verschwendeten Gedanken an die Gräueltaten an jenem Ort und es drehte ihm den Magen augenblicklich um. Auch wenn Lovino am liebsten weggerannt und nie mehr wiedergekommen wäre, hieß es leider Augen zu und durch. Es blieb ihm ohnehin keine andere Möglichkeit übrig.
"Ja, ist klar", antwortete der junge Mann knapp und hob bereits die überraschend leichte Schachtel vom Boden auf, den anbahnenden Knoten in seinem Hals gekonnt ignorierend. "Dann bis nachher..." Und ohne sich noch einmal umzudrehen, zielte er schon Richtung Tür an, deren Klinke er wohl oder übel mit dem Ellbogen hinunterdrücken musste, um überhaupt erst auf die Straße zu kommen. Dabei klingelte die silbrige Glocke hell auf, als die Ecke der Tür ihren Klangkörper traf und zum Schwingen brachte.
Kaum hatte Lovino den angenehmen Schatten der dunklen Stube verlassen, blendete ihn die am Zenit stehende Sonne auf den ersten Schlag und überströmte ihn mit einer unerwarteten Hitzewelle. Für den Moment erblindete er, fand aber innerhalb weniger Sekunden sein Augenlicht wieder, wenn auch die grünlichen Fäden in seiner Sicht erhalten blieben. Kleine Menschengruppen waren unterwegs und legten einen extra Umweg ein, als sie den kurzgewachsenen Lovino mit der riesigen und dennoch tragbaren Box stehen sahen. Von Weitem stach ihm bereits der riesige blonde Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel ins Auge, den er vor Kurzem erst mit Antonio getroffen hatte.
Diesen Typen würde er immer wieder sofort bemerken, der Riese war einfach unübersehbar. Vielleicht war Lovino aber auch nur verdammt eifersüchtig auf seine Körpergröße.
Jedoch vergaß der Süditaliener den Gedanken so schnell, wie er Abel aus den Augen verlor. Er hatte ohnehin keine Zeit und je schneller er das Paket wegbrachte, desto schneller kam er aus dieser unangenehmen Aufgabe heraus. Wenn er könnte, hätte er das Päckchen schon längst mit aller Kraft weggeworfen, sodass er gar nicht erst wie ein Blöder nach dem Haus herumsuchen und den unangenehmen Erinnerungen ausharren muss. Doch leider erreichte er genau die Gegenden, die ihm ein flaues Gefühl im Magen verpassten und als er nach links an den gepflasterten Straßenrand blickte, rümpfte er bereits verärgert die Nase.
Scheiße, war das mit der Straße damals peinlich. Wehe Antonio hatte es irgendjemandem rumerzählt, ansonsten würde er ihm augenblicklich, ohne zu zögern, den Kopf abreißen.
Plötzlich blieb Lovino stehen, spürte einen kurzen Blitzschlag in seiner Brust und riss die Augen erschrocken auf. Für den Augenblick hielt er den Atem an und lauschte seinem lautstark hämmernden Herzen, ehe er sich endlich umdrehte und in die gähnend leere Gasse schaute. Wenn er gerade bei dieser einen Straße vorbeigekommen war, von deren Zwischenfall niemand mehr ein Wort verlieren sollte, dann war er vor lauter Denken tatsächlich an Alessandros ehemaliger Wohnung vorbeigelaufen. Verdammt, jetzt hatte er tatsächlich mehr Sport gemacht als nötig. Totale Zeitverschwendung.
Wäre er nur nicht so unaufmerksam...aber letzten Endes hätte er den Weg sowieso zurücklegen müssen, also hieß es einmal mehr "Rückzug und nochmal von vorn".
Es dauerte nicht lange - eventuell waren es nur drei Minuten - bis Lovino endlich wieder in die Gasse einbog, nach der er gesucht hatte. Doch jeder vollzogene Schritt brachte eine neue Flut an panischen, hektischen Gefühlen einher, die in Lovinos Magen wie heißes Wasser tobten und kochten.
Nur noch ein paar Schritte...
Die feinen Härchen an seinen Armen stellten sich eins nach dem anderen auf, bescherten zugleich ein unerklärliches Frösteln in seinen Adern.
...Und dann setzte er Fuß auf jenen Boden, auf jenes Parkett, auf dem ein junger Mensch die Welt der Lebenden verließ und seinen letzten Atemzug machte.
Sein Herz rutschte ihm bis zum Hals hinauf, stahl ihm den Atem und etwas zerrte wie verrückt an seinem Magen.
Zögerlich griff der junge Mann nach dem grau schimmernden Ring des Türklopfers, der im Maul eines grimmig schauenden Eisenmännchens steckte und ließ ihn in derselben Sekunde mit einem lauten Klacken gegen die Tür zurückfallen. Hoffentlich würde ihm der Neueingezogene bald aufmachen, denn allein das Verweilen an jenem Ort fühlte sich an, als zerrten ihn finstere, dämonische Gestalten an den Knöcheln in ihre Unterwelt, weit entfernt vom Licht.
Lovino biss sich nervös auf die Unterlippe, wechselte hektisch die Blicke von links nach rechts.
Bald wäre es vorbei und er könnte in Sekundenschnelle wieder verschwinden...er musste nur diese wenigen Minuten ausharren. Wenn doch nur diese Erinnerungen aus seinem verdammten Kopf verschwinden würden, dann wäre sein beschissenes Leben vielleicht ein klein wenig erträglicher.
Plötzlich bewegte sich etwas und man hörte das sachte Klacken eines geöffneten Schlosses und ehe sich Lovino versah, öffnete sich mit einem Mal die Tür und sein Herz blieb stehen. Vor ihm stand eine junge Frau, etwa in seinem Alter. Ihr langer brauner Zopf legte sich locker über ihre Schulter und ein freundliches Lächeln strahlte ihm entgegen. Ihre linke Hand legte die Frau behütend auf ihren kugeligen Bauch - Sie schien schwanger zu sein. Das erklärte wohl, warum Lovino zum Lieferdienst verdonnert wurde. Allerdings hatte die Dame echt Mumm, sich als Hochschwangere tatsächlich eine Wohnung zu suchen, in der vor wenigen Wochen jemand ermordet wurde. Hätte Lovino einen Uterus und ein Kind im Bauch hätte er es sich bestimmt zweimal überlegt. Selbst ohne Kind hätte er Schiss davor, auch nur eine Nacht in dieser Gegend zu verbringen. "Ah, buongiorno! Du bist der junge Herr aus Enricos Apotheke, oder?" Lovino nickte und bejahte ihre Frage, seine braunen Haare fielen ihm dabei fast ins Auge.
"Vielen Dank für die Hilfe!", die Brünette warf einen kurzen Blick auf das Stiegenhaus hinter ihr, "Würde es dir etwas ausmachen, die Lieferung bitte nach oben zu tragen? Wie du siehst, ist es momentan etwas schwierig..." Ihre braunen Iriden hefteten an ihrem Bäuchlein und sie strich sich peinlich berührt ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht.
"J-Ja ja, klar!" Wenn auch etwas stutzig, schenkte er der jungen Frau ein nettes Lächeln und eine helfende Hand. Die Worte und Weisheiten seines Großvaters hatte er sich immerhin bis aufs kleinste Detail eingebläut:
"Eine Frau respektiert und hilft man. Sei immer nett und höflich zu ihnen, Lovino, das ist dein goldener Grundsatz als anständiger Mann."
Abgelenkt von seiner eigenen Zuvorkommenheit und Freundlichkeit, vergaß der Italiener seine panische Angst, als er über die Türschwelle in das schmal gebaute Haus eintrat und augenblicklich mit den Schatten einer schwach belichteten Wohnung konfrontiert wurde. Fenster gab es anscheinend nur wenige und das Tageslicht füllte nicht einmal eine Ecke gut genug aus. Der Boden zu seinen Füßen brachte in lediglich einer schmalen Linie einen starken Kontrast zum restlichen Fußboden. - Das Holz wirkte sauberer und neuer und weniger abgenutzt als die übrigen Bretter. Ein länglicher Teppich musste wohl den Weg zwischen Tür und Stiege verbunden haben.
Auf einmal knackste und knarzte es und Lovino wurde augenblicklich aus seinem Fokus gerissen. Er begann sich zu sehr auf seine herumschwirrenden, ängstlichen Gedanken zu konzentrieren und die unterdrückten Gefühle brachen hinter ihrer glücklichen Fassade hervor. Lovino atmete scharf ein.
Er war tatsächlich hier.
Wie weiche Butter zergingen seine Beine bei jedem Schritt; sie fühlten sich an wie Pudding.
Er war an dem Ort, an dem ein Mann, den er kannte, verschwand und im Nachhinein auch tot aufgefunden wurde.
Seine Wahrnehmung verschwamm, alles zerfloss vor seinen Augen wie zerronnene Ölfarben.
Die Bilder.
Die Bilder von jenem Tag kehrten wie in Zeitraffer zurück, zischten wie ein Schuss einer Pistole an seinem inneren Auge vorbei.
Alessandros leichenblasses Gesicht. Das Blut. Wer wusste, ob Alessandro bereits hier starb oder erst im Wald?
Lovinos Magen schnürte sich schmerzhaft zusammen, sein Frühstück kündigte bereits seine Rückkehr an, doch er würgte alles wieder hinunter. Kalte Schweißperlen thronten auf seiner Stirn, versteckten sich insbesondere an seinem Haaransatz.
Wieso war er hier? Er hatte vergessen...Wo war er nur? Wieso fühlte sich alles an wie ein endloser Albtraum? Wie ein geteerter See, der seine Bewegungen verlangsamte?
In der Dunkelheit des Eingangsbereiches verschwand sein Bewusstsein für den Bruchteil einer Sekunde, schnappte aber augenblicklich mit spitzen Krallen wieder zu und Lovino spürte sich wieder in der Gegenwart.
Er war hier...
Sein Blick fiel auf die freundliche Frau.
Und er war nicht allein...
Der Druck um sein Herz wurde leichter, Lovino konnte wieder atmen. Still und ohne auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen, folgte er ihr die Treppe hinauf, blieb stehts hinter ihr und blieb geduldig.
Bald würde er von diesem Ort verschwinden können...
Die Holzbretter der Treppen ließen etwas nach, knacksten bei jeder Berührung und hallten umso lauter in Lovinos Ohren umher. Jeder noch so kleine Ton verstärkte sich. Lovino war vulnerabel, er fühlte sich ungeschützt und verletzlich in jeder Hinsicht und jede falsche Entscheidung könnte sich als Katastrophe entpuppen, die in einem Zusammensturz seines Bewusstseins enden würde.
Nur noch drei Stufen und er war angekommen.
Die Dame schritt voran, öffnete direkt die gegenüberliegende Tür zu ihrer kleinen Wohnung und hielt sie Lovino zuvorkommend auf. Sie merkte gar nicht, wie durcheinander ihr Helfer war und wie sehr ihn diese unscheinbaren, kurzen Augenblicke zerstörten. Lovinos Maske war wie eine fest errichtete Mauer, die niemand zu umgehen vermochte...niemand würde sehen, was in seinem Inneren vorging.
Endlich...er war oben angekommen.
Mit zittrigen Beinen stellte er das braune Paket ab, freute sich zumindest daran, keine Last mehr in den Armen zu halten.
"Vielen lieben Dank dafür", die Brünette verbeugte sich knapp mit dem Kopf und Lovino entgegnete ihrer ehrlichen Dankbarkeit mit einer lässigen Handbewegung.
"Schon gut. Ich helfe gern." Es war keine Lüge, aber dennoch sehnte er sich danach, bereits verschwunden zu sein. Flott griff die Frau nach einem ledernen Säckchen auf dem Tisch, suchte sich passende Silbermünzen heraus und übergab sie Lovino. "Hier ist der Betrag für die Ware und die Lieferung. Den Rest kannst du dir behalten. Als Dankeschön."
"Danke", das war das Einzige, was der gestresste Einundzwanzigjährige herausbrachte.
Und nun nichts wie weg.
Die beiden verabschiedeten sich und Lovino war nun allein im Vorhaus.
Beinahe rennend schwebte er die Stufen hinunter; jegliche unterdrückte Übelkeit kämpfte sich nun mit aller Kraft hervor. Lovino musste sofort verschwinden, seine Nerven brannten bereits durch. Schnell hielt er sich die Hand vor dem Mund, mit der anderen öffnete er fast hysterisch die Tür. Unsicher sah er nach links und rechts, bemerkte im Augenwinkel plötzlich eine eigenartige Einkerbung in der Tapete und hielt die Luft an. Wie eine Schachtel ragte ein leicht eingeritztes Quadrat in einem Winkel des Eingangsbereiches; winzige Fasern standen aus der Tapete heraus, ließen es so erscheinen, als hätte jemand eine Tür von...innen geöffnet. Von der Seite, die von der Wand kam...
Doch Lovino hatte keine Zeit. Es interessierte ihn nicht, was in dem Haus vor sich ging.
Einzig und allein sein Wohlergehen stand nun an erster Stelle, jedoch würde ihm dieses ungewöhnliche Bild nicht allzu schnell aus dem Kopf gehen.
Kaum stürmte Lovino nach draußen auf die Straße, atmete her schwer und tief ein und sein Schwindel und Übelsein lösten sich wie ein Knoten auf. Vorsichtig entfernte er seine Hand vom Mund und strich sich stattdessen erschöpft durch das angeschwitzte Haar.
Er hatte es geschafft.
Er hatte es tatsächlich geschafft dort hineinzugehen und ohne zu kotzen oder ohnmächtig zu werden.
Lovino war stolz auf sich, auch wenn es knapp war, und es fiel ihm regelrecht ein Stein vom Herzen.
Er hatte es durchgestanden.
Die aufgebaute Last und Furcht fiel mit einem Mal von seinen Schultern und er fühlte sich auf einmal so leicht. War das eine Konsequenz seines immensen Stresses, der aufhörte, ihn zu peinigen?
Lovino vermutete es zumindest, aber er war glücklich, es endlich hinter sich zu haben. Er musste nur hoffen, dass er dennoch nicht allzu schnell an diesen Ort zurückkehrte.
***
"Endlich Ruhe...", gähnte Lovino und streckte sich ausgiebig. Die Verspannungen an seinen Schultern lösten sich etwas und es fiel ihm bereits leichter aufrecht zu gehen. Der heutige Arbeitstag hatte sich immens in die Länge gezogen, sodass Lovino bereits glaubte, er höre nie wieder auf. Erschöpft steckte er den Schlüssel in das Schlüsselloch, sperrte die Tür zur Apotheke gewissenhaft ab. In der Regel war es Enricos oder Giorgias Aufgabe, den Laden zu schließen, doch gerade heute gingen sie zusammen mit ihrer Tochter und deren Freundin aus, weswegen Lovino die Aufräumarbeiten allein bewältigte. Auch wenn Lovino sehr ungern Extraarbeit aufgetischt bekam oder sich auch nur eine Minute länger als nötig hier herumtrieb, schätzte er es durchaus wert, dass Enrico und Giorgia ihm genug vertrauten, um ihm den Laden und auch ihre Wohnung für ein paar Stunden zu überlassen. Als einfacher Assistent hätte er bereits an seiner Kompetenz gezweifelt.
Lovino atmete tief ein. Die kühle Luft des Abends vermisste er tagtäglich, wenn er in den stickigen Lagerräumen herumgeisterte und nicht einmal einen frischen Atemzug machen konnte, ohne durch den Staub der getrockneten Kräuter elendig zu husten.
Die ersten Sterne blitzten auf, das wohlig warme Rot des Himmelszeltes verblasste, wurde vom dominanten Blau wie Wasserfarbe überdeckt und die ersten Stadtbewohner zündeten ihre Öllampen an. Es war überraschend schnell spät und dunkel geworden. Mit den klimpernden Schlüsseln in der Hand spielend schlenderte Lovino die Straße entlang und begegnete neben leicht angetrunkenen Jugendlichen auch noch alte Pärchen, die mit ihren Haustieren eine letzte Runde vor dem Schlafengehen drehten. Die Röcke der Damen streiften beinahe die gepflasterte, ockerfarbene Straße und ihre Kopftücher trugen sie entweder bei den Haaren zusammengebunden oder sie rahmten ihr Gesicht locker damit ein. Die Herren bevorzugten es allerdings, herausstechende Farben bei ihren Halstüchern zu wählen, weswegen schnell Blicke auf sie geworfen wurden.
Nach all den Wochen, die er bereits in jener Stadt verbrachte, fielen ihm die einst ungewöhnlich feinen und teuren Kleider der Menschen jedoch nur mehr wenig auf; sie waren allmählich zu seiner alltäglichen Umwelt geworden.
Dunkelheit brach über die Stadt herein, stahl ihnen das letzte Fünkchen Sonnenlicht am Horizont und überließ den Schatten die Herrschaft über die Nacht. Lovino kniff die Augen fast zusammen und streckte seinen Arm halb aus. Es war bereits so finster geworden, sodass es ihm schon schwerfiel, seine eigene Hand zu entdecken. Ausschließlich das Licht der Wohnanlagen und Wirtshäuser sowie das einzelner Straßenlaternen erleuchteten den Weg und halfen ihm dabei, nicht verloren zu gehen. Leise surrend schwebten Gelsen und andere nachtaktive Insekten um die gasbeleuchtete Laterne, die von ihrem strahlenden Licht eingelullt keinen anderen Weg mehr einschlagen konnten.
Hoffentlich kam dieses Ungeziefer nicht auf die Idee, Lovino von allen Seiten zu zerstechen, ansonsten war der Tag ein kompletter Reinfall, wenn ihm noch eine Unannehmlichkeit zwischen ihm und sein Bett kam. Eine gute Mütze Schlaf war ein verlockendes Angebot, das Lovino nicht abschlagen konnte. Er hatte ohnehin einen Berg an Stress zu verarbeiten. Ein lautes Gähnen rutschte dem Einundzwanzigjährigen heraus, wobei er sich augenblicklich die Hand vor den Mund hielt. Ein warmes Bett...das wäre jetzt echt schön.
Völlig verschlafen trottete er den Gehsteig neben den geschlossenen Geschäften und den leuchtenden Gasthäusern entlang, als ihm plötzlich eine bekannte Stimme durchs Ohr schallte. Instinktiv riss er sich aus seiner Trance heraus und er entdeckte zwei Gestalten bei der nächsten Straßenlaterne stehen. Lovino sah genauer hin und erkannte Antonio und Emma von Weitem. Die junge Frau trug wie gewöhnlich ihr grasgrünes Haarband, das bereits zu ihrem Erkennungszeichen geworden ist, allerdings besetzten auch liebliche Veilchen die Ränder ihres Haarbandes und wurden auch in ihre kurzen braunen Haare elegant verflochten. Zudem war sie für einen herkömmlichen Abend zu schick angezogen, sie musste wohl mit Freunden ausgehen.
Antonio schien ebenfalls etwas vorzuhaben, denn er hatte sich tatsächlich das alte Frack übergeworfen, das Lovino vor Kurzem in Antonios Wohnung voller Staub erblickt hatte.
Ob er Emma wohl auf eine Veranstaltung begleitete oder sogar ausführte?
Nein, sie winkten sich gerade zu und ihre Wege trennten sich.
Entweder befanden sie sich bereits auf dem Heimweg oder sie hatten gänzlich andere Ziele vor Augen. So oder so, es hatte Lovino neugierig gemacht und er würde sich nicht davon abhalten lassen, die Details aus ihnen herauszuquetschen.
Passenderweise kam ihm Antonio direkt entgegen, sein Blick war jedoch abgeneigt, haftete an den ungeraden Pflastersteinen und er wirkte abwesend und unaufmerksam, als würde er über etwas nachdenken. Lovino zeigte sich dem gegenüber blind; er bemerkte Antonios Versunkenheit nicht und war diesmal derjenige, der sich positiven Gefühls dem anderen ein Gespräch anbot.
"Hey, Antonio!"
Der Angesprochene zuckte vor Schreck zusammen und blieb abrupt stehen. Die plötzliche Begrüßung hatte ihn aus der Fassung gerissen und er benötigte einige Sekunden, ehe er sich wieder fassen konnte und in der Realität ankam.
"Wo gehst du denn hin, dass du dich mal nicht wie ein armer Hund anziehst? Ist jemand gestorben? Hat wer geheiratet von dem ich nichts weiß?"
Perplex blinzelte ihn der Spanier an und realisierte erst im Nachhinein, wer vor ihm stand. "Lovino?"
Bedächtig stieg der Brünette mit der ungebändigten Locke in den hellen Lichtkegel der Straßenlaterne, der ihren einsamen Platz illuminierte und die Finsternis der Nacht verdrängte. Beiderlei Männer standen sich nun gegenüber; allein in ihrer persönlichen kleinen Welt und ungestört von äußerlichem Einfluss. Smaragdgrüne Iriden erfassten das spitze Gesicht ihres Gegenübers und prägten sich jedes noch so kleine Detail ein. Die bernsteinfarbenen Augen mit ihren grasgrünen Sprenkeln an der Seite, das braune, wild fallende Haar und die schmalen Lippen... Antonio stockte kurz, spürte wie sich die feinen Härchen im Nacken nacheinander aufstellten und ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagten.
Dann sah er auf die grüne Nelke, die in seiner Anzugtasche steckte und ein scharfer Stich brannte wie Feuer an seinen Wangen und färbten sie in ein sachtes Rot. Blitzschnell steckte er diese tief in seine Tasche hinein und hoffte, dass Lovino sie nicht bemerkt hatte.
Warum musste er auch gerade jetzt auftauchen?
"A-Ah, hola, Lovi", brachte der Spanier stotternd heraus und kratzte sich angespannt an der Wange, "was machst du denn hier um diese Uhrzeit?"
"Um diese Uhrzeit gehen noch viele Leute raus, du eingeschlossen, warum sollte ich nicht hier sein?" Der Süditaliener verschränkte die Arme vor der Brust und grinste hämisch. "Warum denn auf einmal so verlegen? Gibt es etwas zu erzählen? Sag schon, ich erzähl's auch keinem!", bohrte Lovino nach.
Antonio begann zu schwitzen und druckste herum. "Ha, ich weiß gar nicht, was du meinst. Was soll denn sein?"
Die Unsicherheit in seiner Stimme machte es jedoch sehr deutlich, dass er etwas zu verschweigen hatte.
"Mhm, sieht man... Sieht man..." Unbeeindruckt hob Lovino eine Augenbraue. "Trotzdem interessiert es mich brennend, was du vorhast. Einfach so aus Spaß würde sich keiner in der Nacht so anziehen wie du. Sieht ja keiner, nicht mal du selbst."
Antonio seufzte und legte den Kopf schief. Sein Freund war echt eine harte Nuss und wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließe er nicht locker, bis er eine Antwort erlangte, die seine Neugierde zufrieden stellte. "Okay, ich gebe mich geschlagen. Ich wollte mal wieder ausgehen."
"Hab ich mir denken können... Und das war der Grund, warum du so gestresst bist? Du hast echt ein Problem, wenn das allein schon schlimm für dich ist zuzugeben."
Peinlich berührt kratzte sich Antonio am Hinterkopf.
Lovino hatte also nicht verstanden...Ein Stein fiel ihm vom Herzen und er fühlte sich bereits leichter und unbeschwert in seiner Brust. Nichtsdestotrotz nagte das Gewissen fest an ihm. Ehrlichkeit war ein unerlässlicher Bestandteil einer Freundschaft und jeglicher anderen zwischenmenschlichen Beziehung; auch Antonio wollte nichts lieber, als ehrlich zu Lovino zu sein...aber...war es dafür vielleicht noch zu früh? Doch da bewegten sich seine Lippen schneller, als er denken konnte und er verlor sich selbst in seiner verplappernden, dusseligen Art, ehe er sich selbst stoppen hätte können.
"Naja, es ist so dass..."
Ein schwarzer Umhang wandelte durch den zarten Lichtkegel, nur eine Kreuzung von ihnen entfernt...
Antonio stockte, erhob seinen Blick und sah hinter Lovino vorbei.
Fast geisterhaft schwebte der Schatten vom Licht zurück ins Dunkle, als stecke hinter jenem Mantel nichts als Luft. Er verschwand ebenso schnell, wie er erschien. Und doch besaß er etwas Unheilvolles an sich, als erübrigte sich innerhalb kürzester Zeit ein Unglück, das er nicht verhindern konnte.
"Antonio?"
Antonio hörte Lovino nicht.
Er war wie eingefroren.
Er hielt den Atem an.
Er suchte bange, ohne hinzusehen, nach Lovinos Arm, packte ihn und raunte leise, ohne den Blick von den benachbarten Straßenlaternen abzuwenden.
Er betete, dass er sich jenes Bild nur eingebildet hatte.
Aber, was wenn es echt war? Konnte er sich auf seine Intuition verlassen und das Risiko akzeptieren?
"Es ist so dass...", wiederholte er sich, "wir...wir sollten lieber hier verschwinden." Kaum verließen diese Worte Antonios Mund, zog er bereits seinen Freund mit sich, zwang sich dazu, nicht ein einziges Mal nach hinten zu sehen und ging nur gerade aus...Hauptsache weg von diesem Ort. Doch Lovino wehrte sich und konnte Antonios plötzlichen Sinneswandel nicht nachvollziehen. Was war denn nur in ihn gefahren? "Hey, was soll das, bist du bescheuert?!", protestierte der Jüngere lautstark, was Antonio nur noch mehr in Panik versetzte. "Shhh! Sei bitte leise!"
"Erst wenn du mir sagst, was zum Teufel mit dir los ist!" Der Süditaliener erkannte den Ernst der Lage keineswegs, während Antonio ihn weiterhin mitschleifte. "Halt den Mund, verdammt!", zischte er flüsternd, "Ich hab etwas gesehen...und ich bin mir sehr unsicher, ob dieses Etwas freundlich und nett ist..."
Lovinos Augen weiteten sich und er atmete scharf ein. "Du meinst...?"
"Ist jetzt egal, wir reden später...erst müssen wir weg."
Lovino nickte, schluckte den aufkommenden Kloß im Hals mit flauem Gefühl im Magen hinunter und folgte seinem Freund wortlos. Er führte sie in die nächstgelegene Bar am Ende der Straße, die Lichter malten helle Streifen auf den Boden, Gelächter und Geschnatter drangen durch die Ritzen der Tür und die gekippten Fenster heraus. Tief einatmend stolperte Lovino über die Treppen zur Eingangstüre und sah angsterfüllt nach links auf den Gehsteig, wo sich noch wenige Minuten zuvor keine Menschenseele hätte fürchten müssen. Er schluckte, als auch er sich einbildete, einen dunklen, menschlichen Schatten inmitten des strahlenden Lichts erblickt zu haben, der still und unberührt sowie fast leblos dastand und in ihre Richtung blickte.
Adrenalin schoss mit einem Mal durch seine Adern, drängten ihn dazu, sich schnellstmöglich hinter den sicheren Mauern und geschlossenen Türen der Bar zu verstecken. Diese kleine, aber gut besuchte Bar war die einzig sichere Option, um nicht allein in diesen verfluchten Gassen herumzuirren und sie sollten keinesfalls weiterziehen, wenn sich jene Gestalt noch in ihrer Nähe befand. Vielleicht würde sie in ein paar Stunden verschwunden sein und sie konnten wohlgetrost heimkehren, doch nun verlangte ihre brenzlige Situation spontane Maßnahmen.
Lovino hoffte nur, dass sich der Abend noch zum Guten wenden konnte...doch die Todesangst blieb bestehen.
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