Kapitel 7 - Eine Leidenschaft und der Ton einer Saite
Sonnenstrahlen malten mit ihrer goldenen, warmen Farbe sachte Striche auf die hölzerne Tischplatte, heizte sie auf und machte sie angenehm warm. Worte hallten durch die wenigen, schlichten Räume und erstickten im Keim, sobald sie durch das geöffnete Fenster nach draußen gelangten. Der kaum merkbare Schall von Kirchenglocken kämpfte mit der weiten Entfernung, bemühte sich, von den abgelenkten Menschen bemerkt und wahrgenommen zu werden, doch ohne Erfolg. Erst als die alte Standuhr des Vorbesitzers ihre Mittagsstunde in schweren Schlägen ankündigte, merkten die beiden jungen Männer, wie lange sie schon beieinandersaßen und über Gott und die Welt philosophierten.
Sie hatten die Zeit tatsächlich übersehen; die vertraute, stimmige Atmosphäre lullte wohl ihr Zeitgefühl mit zeitlosen Melodien ein. Lovino schaute zu Antonio, der gerade seinen Kopf Richtung Standuhr gewandt hatte und ihn somit nicht beachtete. Er war überrascht, wie wenig negative Spannungen zwischen ihnen herrschten, trotz ihrer gravierenden Unterschiede. Der Italiener mit der auffälligen Locke, die sich nicht wie die anderen Strähnen vom Kamm bändigen lassen wollte, kannte es bis zu jenem Zeitpunkt nur als reine Belastung, wenn er mit knapp gleichaltrigen Männern arbeiten oder Kontakt aufnehmen musste. Zu oft offenbarte sich ein inneres Ungleichgewicht, sobald nur ein Gespräch aufkam, das ihn in seine Abwehrhaltung drängte und dazu brachte, zwischenmenschliche Beziehungen größtenteils zu meiden, was letztendlich dazu führte, dass sein Freundeskreis gerade so viele Mitglieder hatte, wie ein Bauer Eisenbahnen besaß.
Ebenso Antonio genoss die sonntägliche Ruhe unter ausgewählten Freunden. Anders als Lovino schöpfte er seine Energie aus der Gemeinschaft mit Menschen und konnte so erfolgreich seine Kräfte für die kommende Woche tanken. Dass Lovino ihn allerdings als Erstes um ein Treffen bitten würde, hätte er im ersten Moment, als er ihn kennengelernt hatte, nicht erwartet. Antonio kannte Typen, die ähnlich wie Lovino tickten und vorzugsweise einsam vor sich hin brodelten, bis ein extrovertierter In-den-Wolken-Schwebender Trottel auf die Idee käme, sich für sie zu interessieren.
Es war nicht das erste Mal, dass Antonio sich in einer solchen Situation wiederfand.
War er nicht genauso starrköpfig und abwehrend wie Lovino gewesen?
Als der Glockenschlag der Standuhr endlich verhallte, wurde es wieder still in der sonnendurchfluteten Wohnung, doch der Schall der unangenehm lauten Glocke surrte weiterhin in Lovinos Ohr. Wie konnte Antonio nur bei diesem Lärm nachts schlafen?
"Es ist schon Mittag, hast du Hunger?" Der Spanier wandte sich vom zögerlich bewegenden Uhrzeiger ab und schenkte Lovino seine Aufmerksamkeit. "Sonst kann ich spontan etwas machen. Was wäre ich für ein Gastgeber, wenn ich dich verhungern lassen würde?"
Aber Lovino rümpfte nur trotzig die Nase. Das Angebot war zwar freundlich gemeint und zugegeben lungerte bereits ein riesiges, nimmersattes Loch in seinem Magen, das nur darauf wartete, mit Leckereien gefüllt zu werden, jedoch gab es ausgerechnet ein Hindernis. Lovino war ausgesprochen wählerisch und verhielt sich ganz nach dem Sprichwort "Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht". Wer konnte ihm denn versichern, dass Antonio überhaupt gut genug kochen konnte und nicht auf die wichtigsten Gewürze vergaß?
Dankend sagte Lovino ab, aus der Angst, er könnte aufgrund seines hin und her gerissenen Geschmacks Antonio zutiefst beleidigen, falls er zusagte. Dass er seinem neu gewonnenen Freund durchaus mehrmals unfreundliche Kommentare um den Kopf geworfen hatte, war ihm bewusst, allerdings blühe ihm eine unangenehme Erinnerung auf, wenn er anfinge, sein Essen zurückzuweisen. Ihm selbst war die gute Küche heilig und Lovino wusste, wie sensibel er beispielweise darauf reagieren würde. Aber ausgerechnet jetzt knurrte sein Magen lauter als eine Grille, die nachts ihre nervtötenden Melodien vor sich spielte und er hielt sich instinktiv die Hand vor dem Bauch. Sein Körper musste sich auch den "passendsten" Moment suchen, um sich mittzuteilen... Es wäre weitaus weniger peinlich gewesen, hätte Antonio daraufhin nicht amüsiert und bescheuert gegrinst. Lovino hasste es, wenn er sich blamiert fühlte und die steigende, brodelnde Hitze, die sich von seiner Magengegend bis hin zu seinen Wangen zog, offenbarte seinen Scham zu jeder Menschenseele, die ihn hätten sehen können.
Lovino wurde rot.
"Nur keine Scheu, ich mache auch etwas, das du magst." Der Spanier stand auf, schob den hölzernen Sessel mit einer einfachen Handbewegung zurück zum Tisch und steuerte die naheliegende Küche an. Suchend musterte er die Regale ab, wandte sich von dem Gewürzkästchen und den lebenswichtigsten Lebensmitteln ab, ehe sein Blick an den Tomatenstauden in der sonnigen Ecke hängen blieb und ihm ein Geistesblitz schoss. "Magst du Pasta?"
Da lief dem Süditaliener sofort das Wasser im Mund zusammen. Lange hatte er auf derartige Delikatessen verzichten müssen, da ihm das Anfangsbudget der ersten Wochen kaum gereicht hat, um seine Bedürfnisse des täglichen Bedarfs zu decken, aber die Gelegenheit, einmal wieder ein gutes Nudelgericht zu verspeisen, konnte er sich nicht entgehen lassen. Daher nickte Lovino, einen rötlichen Schimmer auf den Wangen tragend, den Antonio niemals übersehen konnte.
Dieser lächelte sanft, empfand Lovinos Spontanität in der Laune als sympathische Eigenschaft und machte sich zugleich an die Arbeit, alle notwendigen Zutaten zu suchen. Währenddessen entschied sich Lovino dazu, Antonios kleines Apartment auf eigene Faust zu erkunden, denn sein Kaffee war seit langer Zeit leer und das einsame Herumsitzen konnte er auch zuhause machen.
Gedankenlos streifte er mit den Fingerspitzen über die wenigen Buchbände, die durch die vergilbten Seiten uralt erschienen. An ihren Buchrücken ragten geschwungene, vergoldete Buchstaben hervor, die Worte zusammensetzten, die Lovino niemals verstehen würde. Ihm waren wenige Begriffe in der spanischen Sprache bekannt, jedoch endete damit auch sein Wissen, weswegen es ihm nichts nutzte, weiterhin die unbedeutenden Bücher in den verstaubten Ecken zu begutachten.
Etwas Schwarzes stach Lovino hinter dem offenen Regalrücken ins Auge, brachte ihn dazu, einen Schritt näher heranzutreten, um seine plötzliche, ungebändigte Neugierde zu befriedigen. Von Weitem wirkte es wie ein Stück Stoff, der zackige Fadenlauf fügte dem Ganzen ein dichtes Muster hinzu. Ebenso dunkel schimmernde Knöpfe zierten die Seiten des einfärbigen Ärmels und veredelten den versteckten Anzug.
Doch...wieso hing dieser Anzug nur hinter all den alten Regalen versteckt?
Eigenartig, Lovino schaute über die Schulter zu seinem neuen Freund hinüber, Antonio war ein komischer Kauz.
Ob er keinen Platz mehr im Kleiderschrank hatte?
Plötzlich stach ihm ein lebendiges Grün ins Auge und zog Lovinos gesamte Aufmerksamkeit an sich, als handelte es sich um einen geheimen Schatz, der sich vor den Augen Sterblicher hütete. Zarte gekremte Blüten zogen sich ringsum wie Seidenpapier zusammen, formten dabei winzige Schlaufen und Bögen, die der auffällig gefärbten Blume einen vollkommenen Charme verlieh. Eine Nelke! Lovino hatte sie in Skizzen bereits oft abgezeichnet und erkannte ihre Erscheinung auf dem ersten Blick. Eine grün gefärbte Nelke hatte er allerdings noch nie erblickt und bestimmt war diese entweder ein Produkt von talentierter Menschenhand oder ein Ergebnis der Blumenkreuzung.
Grüne Nelken...dieser Begriff kam ihm bekannt vor, wenn auch nur vage. Hatte sich eine alte, kindliche Erinnerung mit dieser Botschaft verstrickt und sich in seiner Seele festgesetzt?
...Schlimm! In der Stadt gibt es komische Leute. Die Männer mit dem grünen Unkraut in der Jackentasche sind die irrsten...Vor allem sind es so viele! Das muss ein schlechter Trend sein, denn zu meiner Zeit..."
Die Stimme seines Großvaters und die des Nachbarn schlugen in seinem Kopf Alarm. Auch Szenen von einer schlichten Nachbarschaftszelebration blinkten kurz auf, lösten das lückenhafte Puzzle Schritt für Schritt. Lovino musste gerade mal älter als fünfzehn gewesen sein, als ihm jene Aussage zu Ohr kam, denn sie wirkte zu neu. Verstehen konnte er den Phrasenwirrwar jedoch nicht. Begründungen fanden sich keine für den Vorwurf.
Lovino warf erneut einen Blick auf Antonio, fragte sich, weshalb gerade er in das Bild jener abwertenden Beschreibung passte, die man sich auf dem Land hin- und herwarf.
Grüne Nelken...was war an ihrer Bedeutung schlimm?
Auch wenn Lovino in seiner Ahnungslosigkeit gefangen war und sich lediglich vorsichtig der Antwort annähern konnte, vermutete er, dass man aus dem ländlichen Gerücht ein übertriebenes Vorurteil gemacht hatte. Antonio war vielleicht ziemlich blöd und ein hirnloser Trottel noch dazu, aber irrer als die nervigen Gören von Lovinos alter Nachbarschaft war er bestimmt nicht. Zumindest konnte man sich mit ihm unterhalten, ohne direkt die Geduld zu verlieren, was bei den dickköpfigen, ungezogenen Rotzpippen von nebenan nie der Fall war.
"Dafür, dass deine Wohnung auf den ersten Blick aussieht wie ein zusammengepferchter Abstellraum, besitzt du schon einige teure Sachen...", der Süditaliener grinste keck in Antonios Richtung, "...so wie du oft daherkommst, hätte ich mir eher Motten in den Schränken erwartet."
"Oh?", Antonio hatte gerade erst den altmodischen Herd mit Feuerholz befüllt und zum Glühen gebracht, die ersten Funken sprühten in ihrer rötlich-gelben Farbe in die Höhe, "Das meiste hier ist gebraucht oder war bereits hier, als ich eingezogen bin, falls du das meinst." Er sah genauer hin, sah Lovino in der Nähe seines versteckten Anzugs, schluckte plötzlich und wandte seinen Blick spontan und sichtlich unter Druck gesetzt ab. "Ach so...du meinst den da."
Verwirrt hob sein Gast eine Augenbraue, doch Antonio weigerte sich, auch nur einmal hinzusehen. Schweißperlen kündigten sich an seiner Stirn an und die sommerliche Hitze reflektierte sich nun auch von innen heraus. Seine Muskeln spannten sich an. Wieso traten in Lovinos Anwesenheit dauerhaft seine unangenehmsten Szenarien ein, die er vorzugsweise bis an sein Lebensende verdrängte. "Der Anzug ist...von einem alten Bekannten. Er hat ihn hier vergessen; vor einiger Zeit." Der Spanier bemerkte gar nicht, wie seine Stimme Wort für Wort schwerer klang, als hingen abertausende Gewichte an ihnen, die ihn zu Boden zerrten.
"Oh. Ach so." Lovino gab nach, bohrte nicht ungewollt weiter nach und gab sich mit der Antwort, ohne Hintergedanken zu pflegen, zufrieden, was seinem neu gewonnenen Freund gerade recht kam. Es dauere jedoch nicht lange, bis der Süditaliener einen weiteren Stressoren fände, der Antonio erneut ins Schwitzen brächte.
Denn rastlos fuhr er fort, gelangweilt von der Idee, nutzlos herumzusitzen, und stieß auf die handgroßen, eingerahmten Fotos, die kreuz und quer auf seinem Nachtkästchen verstreut standen und lagen wie eine Sammlung herrenloser Glasmurmeln. In Lovinos Ohren knisterte es. Das Feuer im Herd begann wohl endlich, sich zu verstärken, während ihm die Visagen auf den Kindheitsbildern auf abgewandelte Weise bekannt vorkamen. Trotz des schwarz-weißen Kontrastes, der es schwer machte, den Hintergrund vom Hauptmotiv zu trennen, lag es auf der Hand, dass der kleine Junge mit den kurzen Locken und rundem Gesicht Antonio sein musste, denn gerade seine wandelnde Gestalt auf den Fotos blieb allgegenwärtig und gleichbleibend.
Zur Rechten befand sich ein traditionelles Familienfoto: Vater, Mutter, Großeltern und Kinder. Auffallend war hierbei die Person, die neben dem jungen Antonio abgebildet war. Er hatte langes, dunkles Haar, das in einem tiefsitzenden Pferdeschwanz zusammengehalten wurde und in seiner linken Hand ruhte dieselbe Gitarre, die nun eingestaubt und unbenutzt herumstand. Ein Muttermal kennzeichnete die Wange des Unbekannten, aber sein Gesicht hätte beinahe eine genaue Wiedergabe von Antonios Erscheinungsbild sein können.
Heh, schoss es Lovino durch den Kopf, anscheinend hatten sie doch mehr gemeinsam als zunächst erwartet. Auch Antonio hatte wohl oder übel Geschwister am Hals.
Lovinos kleine Erkundungstour setzte fort und sein Blick blieb an dem umgedrehten, schwarzen Rahmen hängen, dessen Bild den Tisch berührte und von keiner Seite sichtbar machte. Neugierde wisperte ihm schlechte Entscheidungen zu, bemühte sich um die Versuchung, Lovino dazu zu bringen, weiterzugehen als es ihm erlaubt war. Sich sachte auf die Zunge beißend, ignorierte er das forciert verkehrte Bild. Er konnte es sich ohnehin nicht erlauben, seinem neuen Freund unerwünscht zu nahe zu treten, immerhin wollte er diesen ersten, potenziellen sicheren Hafen nicht aufgrund von vermeidbaren Kleinigkeiten aus seinen Händen gleiten lassen.
Plötzlich, eine sanfte Wärme, die sich wie ein Seidentuch an seinen Rücken legte, aber nicht berührte.
Rhythmisch, gleichbleibend rauschte eine fremde Atmung in seinem Ohr, obwohl sie meilenweit von ihm entfernt war.
Und mittendrin das vertraute Knacksen von verkohltem Holz.
"Dass du so neugierig bist...", eine Stimme erklang gespielt vorwurfsvoll direkt hinter ihm, schreckte ihn aus seiner Trance heraus, "...du tust so, als wäre dir jeder und alles egal, aber sobald man dich aus den Augen lässt, schnüffelst du schon in meiner Vergangenheit." Der belustigende, übertriebene Ton befreite das Gesagte aus dem Ernst des Inhaltes, verharmloste es sogar. Lovino hob knapp den Kopf, ohne sich umzudrehen. Sein Herz pochte wie ein kräftiger Paukenschlag gegen seine Brust, klang allerdings kurz darauf wieder ab. Es war Antonio. Lovino hatte wohl gar nicht mitbekommen, wie sich der Spanier bereits neben ihn gestellt hatte und ihm über die Schulter schaute.
Nicht einmal die Schritte waren ihm aufgefallen.
"Ich-", weiter kam Lovino nicht, als er sich umdrehte; seine Stimme kratzte vor Überraschung ab.
Antonio kicherte amüsiert und es blieb ziemlich offensichtlich, dass ihm Lovinos Erkunden und Neugierde nicht störten. "Ist schon gut, ich nehme es dir nicht böse. Ich habe halt einiges an Erinnerungsstücken aus meiner Heimat hier. Wie sollte man sich als Gast denn anders beschäftigen?"
Peinlich berührt brummte Lovino in sich hinein. Mann, war das peinlich.
Doch da zeigte der Brünette bereits auf das rechte Bild. "Das da sind mein Bruder Tomás und ich mit unserer Abuelita, Mama und Papa. Ich glaube, damals war ich so um die neun Jahre alt."
Der Süditaliener nickte, schenkte Antonios kleinen Geschichten über seine Familie aber nur halbherzige Aufmerksamkeit, weshalb er das meiste sofort vergaß. Viel interessanter erschien ihm da das eine, aus der Reihe tanzende Bild, das Antonio wohl bewusst nicht zeigte.
In seinen Adern kitzelte es.
Verdammt, warum war er nur so neugierig?
In seiner nachdenklichen Trance gefangen streckte er die Hand danach aus, wollte ohne Nachzudenken nach dem Bild greifen und verwarf seine vorhin großgeschriebene gute Moral. Sein Wissensdurst hatte die Überhand ergriffen.
Seine Finger streiften die kalte, schwarze Kante, spürten das feinsäuberlich geschliffene Holz darunter, als keine Sekunde später jemand mit zittrigem Griff sein Handgelenk packte und es zur Ruhe brachte. Der unebene, schwindende und steigende Druck der Finger an seiner gebräunten Haut beunruhigte Lovino und ließ ihn wieder zu Sinnen kommen. Zögerlich verfolgte er dem Arm, der ihn stoppte und pausierte einen Moment, ehe er in Antonios Augen sah. Man sah ihm einen inneren Konflikt an; Unruhe und Unwohlsein wurden in seiner nervösen Körpersprache sichtbar. Zugleich schossen Hektik und Verlorenheit empor, die wie Stromschnellen durch die Adern des Spaniers flossen und ihn zwischen den Dingen hin und her rissen. Schweißperlen suchten bereits ihren Weg nach draußen.
"Lass das Bild bitte umgedreht." Antonios Stimme klang rauchig, allerdings auch flehend, als träfe ihn die Verschwiegenheit hinter dem Bild mitten ins Gemüt. "Es gibt Tage, da kann ich es einfach nicht sehen, lo siento." Darauf hoffend, dass jene Bitte ausreichend war, löste er seinen Griff um Lovinos Handgelenk und trat einen beschämten Schritt zurück. Der betroffene junge Erwachsene entgegnete ihm jedoch lediglich mit Verwirrung und einer Prise Misstrauen, ehe er sich wortlos von der Fotosammlung abwandte.
"Danke", seufzte Antonio in sich hinein und fasste sich mit der Hand aufs Herz.
Nachdenklich und mit schiefgelegtem Kopf musterte Lovino ihn von der Seite. Was musste sich nur hinter dem Bilderrahmen verstecken, sodass ein sonst so quirliger Mensch wie Antonio ins Schwitzen geriet? Eines Tages würde er dem auf den Grund gehen, soviel stand fest, aber für den Tag war das Limit an gezeigter, unkontrollierter Neugierde erreicht.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis Lovino wieder beginnen würde, herumzupfuschen. Die Intuition, dass etwas falsch liefe, begleitete ihn von Minute zu Minute, bis ihm die Ursache irgendwann entgegenkäme.
Ach, warum musste er nur dauerhaft so penetrant nervig sein?
Lovino war sich selbst bewusst, dass er zumeist aus dem Gefühl aus Mist baute. Es war nichts Neues, aber dennoch ein unnötiger Klotz am Bein. Antonio hatte währenddessen seinen Fokus auf Sinnvolles gelegt, indem er in unbeholfener, bemühter Weise versuchte auf der ungleich beheizten Herdplatte zu kochen. Armselig und verloren zögerte er in seiner Auswahl, nicht wissend, wie er einer wählerischen Person wie Lovino das Essen recht machen sollte. Was, wenn er gewisse Zutaten nicht vertrug oder verabscheute?
Lovino grauste es, als er sah, wie sein Freund sich anstellte und er zuckte kurz zusammen. Antonio hätte bereits anders anfangen müssen, denn nun verlor er sich in überkomplizierten, gestressten Arbeitsschritten, die er sich ersparen hätte können. Seufzend und mit dem inneren Drang, selbst einzugreifen, begann Lovino unbewusst an seinen Fingernägeln zu kratzen. Die Spannungen die an seinen Adern, Blutgefäßen und Fleischsträngen zerrten und ihn mit starkem Herzklopfen überraschten, bescherten ihn mit Unruhe und Stress. Der Geduldsfaden des jungen Erwachsenen war seit Anbeginn der Zeit eine hauchdünne Angelegenheit und gerade in jenem Moment drohte dieser zu reißen.
Daher drängelte er sich instinktiv in Antonios Nähe, behinderte ihn damit vielleicht sogar, und unterbrach dessen geduldige Vorgehensweise mit seiner ungebändigten Spontanität. In der Sekunde, als Lovino endlich einen Blick auf seine Arbeitsfläche erhaschen konnte, dachte er bereits, ihm bliebe das Herz in der Brust stehen. Es war eine Katastrophe. Wenn nichts geändert werden würde, stünden sie noch bis zum nächsten Tag in dieser stickigen, aufgeheizten Wohnung. Aufgebracht stemmte der kleingewachsene Italiener die Hände in die Hüften und konfrontierte, ohne zu zögern, seinen Freund. "So geht das doch nicht! Wer hat dir das Kochen beigebracht?"
Antonio brabbelte Unverständliches; stotterte perplex. Er hatte nicht erwartet, dass Lovino als Gast in der Küche eingriff. "Meine Mutt-"
"Ich will es gar nicht wissen, wer es war. Du bist so unorganisiert! Du hast nicht einmal alle Sachen beisammen!" Genervt verdrehte Lovino die Augen, brummte vor sich hin und wollte Antonio schon instinktiv das Schneidbrett aus der Hand reißen, als ihm im Augenwinkel die auffällig geformten Blätter einer Pflanze jenseits des hölzernen Fensterrahmens entgegensprangen.
Lovino wurde aufmerksam, beruhigte sich und stapfte wissbegierig an das kleine Fenster mit den teils milchigen Fensterscheiben. Vorsichtig bewegte er den rostigen Haken aus seinem Verschluss, wich einen Schritt zurück und lehnte sich einen Augenblick aus dem Fenster. Die warme Sommersonne strahlte ihn ins Gesicht, erblindete ihn für den Bruchteil einer Sekunde, sodass ihm die grünlich blauen Flecken in seinem Sichtfeld erhalten blieben. Mit zusammengekniffenen Augen richtete der Brünette seinen Kopf dem Boden entgegen, fühlte die knappe Brise von links an seinen Ohren vorbeizischen, und entdeckte eine prächtig wachsende Tomatenstaude vom Balkon des unteren Geschosses, dessen Früchte beinahe bis vor Antonios Wohnung reichten.
Es war perfekt! Gerade diese frischen, oftmals als Gemüse betitelten Früchte kamen ihm gerade recht. Ohne lange darüber nachzudenken, lehnte sich Lovino schon weit aus dem Fenster, den Tomaten entgegenstreckend. Ob es sicher war, sie vom Fenster aus zu pflücken oder ob es doch besser gewesen wäre, einen Umweg zu gehen, kam dem jungen Mann gar nicht in den Sinn. Stattdessen war es eher Antonio, der gerade unter einem halben Herzinfarkt litt. "Lovino, was zum Teufel machst du da?"
"Ich hole Tomaten, was sonst?", antwortete der Italiener, würdigte seinen Freund aber keines Blickes.
Die Tomaten waren bereits zum Greifen nah, er konnte ihre glatte sonnengewärmte Haut bereits mit den Fingerspitzen berühren.
Antonio schüttelte nur den Kopf und fuhr sich angestrengt durch die Haare. "Lovino, du kannst nicht...Ich meine... Die gehören nicht uns, wir sollten zuerst fragen!"
Lovino zitterte als er die erste Frucht in den Händen hielt, schreckte jedoch nicht davor zurück, sie zu pflücken. Doch plötzlich verlor er die Balance in einem Moment der Unaufmerksamkeit, zuckte spontan nach unten und sein Herz blieb augenblicklich mit einem raschen, tiefen Stechen stehen. Im Augenblick der Gefahr fühlte er nichts mehr, war weder tot noch lebendig. "Wahh!" Hatte ihn das Risiko übergangen oder würde er noch heil davongekommen? Erst als ihn etwas Warmes an der Taille packte und ihn davor schützte, im Fall zu sterben und sich das Genick zu brechen, konnte er wieder Aufatmen und zu Sinnen kommen.
Während es Lovino zunehmend besser ging, begann für Antonio gerade erst das schmerzhafte Nachspiel eines Schreckens in der Brust. Vermutend, dass es ihm das Herz zerreiße, atmete er tief und leise vor sich hin und in seinem Hals knotete sich nach und nach ein Kloß zusammen, der ihm die Luft versperrte. Die Angst stand ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Was fiel Lovino nur ein, sich so gewissenlos in Gefahr zu begeben? Wenn er nicht dagewesen wäre, um ihn zu stützen, wäre er vielleicht schon nicht mehr unter den Lebenden.
Es durfte nicht noch einmal passieren.
Still betete Antonio in seiner Muttersprache vor sich hin, redete sich selbst ein, endlich zur Ruhe zu kommen und spürte bald darauf die schwindende Last. Er durfte sich nicht aus dem Konzept bringen lassen.
Allmählich kletterte der Italiener zurück, einen kleinen Stoß an Tomaten im Arm haltend. Von dem Schockmoment, der ihm gerade widerfahren war, gab es keine Spur. "Zu deiner Aussage: Schon zu spät und außerdem fällt das eh keinem auf. Der oder diejenige oder wer auch immer da unten wohnt, würde niemals bis nach ganz oben kommen. Die Tomaten wären zuerst faulig geworden." Mit diesen Worten ließ er die roten Früchte auf den Tisch rollen, und wischte sich mit dem Arm über die verschwitzte Stirn. "Aber danke dafür, dass du kurz für mich Geländer gespielt hast, ansonsten läge ich wahrscheinlich mit dreifachem Genick- und Wirbelsäulenbruch im Grab und ich will nicht 'Todesursache: zu unfähig fürs Tomaten ausleihen' auf meinem Grabstein haben."
"Ja, ja 'ausleihen'. Ausleihen gilt nur dann als Ausleihen, wenn man es wieder zurückgeben kann. Lovino, das, was du gemacht hast, ist Diebstahl, das darf man nicht!" Antonio, der immer noch mit der geisterhaften Blässe in seinem Gesicht zu kämpfen hatte, verschränkte streng seine Arme vor der Brust. Etwas wütend war er schon auf Lovino. Es war nicht okay, dass er sich einfach so die Sachen anderer nahm, ohne zu fragen. Zugleich schien sein Ärgernis dennoch auch darauf zu basieren, dass Lovino etwas passieren hätte können, wenn er nicht da gewesen wäre. Der Typ war viel zu unvorsichtig unterwegs!
"Glaubst du, mich interessiert das? Lieber gefühlt drei versteckte Tomaten vom Nachbarn mitgehen lassen, als mit Menschen reden zu müssen. Weißt du eigentlich wie anstrengend das ist? Da bekommt man zuerst eine halbe Panikattacke." Augenrollend schnappte der Brünette mit den Bernsteinaugen nach dem Messer mit dem hölzernen Griff und dem zerkratzten Schneidbrett, das mindestens genauso viele diverse Brauntöne vorwies, wie die fünfzig Jahre alte Kirchenbank, die schon eine Holzwurmepedemie überlebte.
"Ehm....nein?", Antonio wusch trotz seines Widerwillens die Tomaten im Wasserkübel ab - den er während Lovinos Erkundungstour bei der Bassena im Gang aufgefüllt hatte -und händigte sie anschließend seinem Freund aus, der sich die Führung beim Kochen bereits unter den Nagel gerissen hat, ohne dabei etwas sagen zu müssen, "Normalerweise geht das ganz einfach. Man geht hin und fragt ganz nett, am besten mit 'bitte' und 'danke', dann bekommt man am ehesten das, was man will."
"Ugh...", ein sauberer Schnitt endete mit einem flachen 'Klack' gegen das Schneidbrett und beide Hälften der Tomate fielen auseinander, "...du bist extrovertiert und tust dir beim Reden leicht, du kannst da nicht mitreden, bei dem, was ich durchmache."
"Das stimmt vielleicht, ich kann deine Erfahrungen schlecht nachvollziehen, aber ich kann dir zumindest zuhören und dir sagen, wie ich es anstelle, ohne komisch zu wirken. Je länger man sich darüber den Kopf zerbricht, desto schlimmer wird es, das kann ich dir versichern." Antonio tätschelte ihm mitleidig den Kopf, ehe er sich in Ruhe eine Pfanne aussuchte, damit Lovino die Soße darin schmoren lassen konnte. Doch Lovino seufzte nur, gab aber endlich nach und löste den Drang nach Beschwerde auf. "Wie du meinst..."
Stille herrschte für die nächsten Minuten, lediglich die Frage nach Gewürzen oder Zutaten hielt eine Konversation aufrecht.
Das Holz im Ofen verbrannte; wurde zu rabenschwarzer Asche.
Das sattrote, wohlriechende Gemisch aus Kräutern, Gewürzen, Knoblauch und Tomaten blubberte unter der ständigen Hitze der Herdplatte und wartete schon darauf, endlich mit den Nudeln gemischt zu werden.
Mittendrin blühte Lovino regelrecht auf und ließ sich keinerlei Trübseligkeit anmerken. Konzentriert meisterte er den Großteil der Arbeit im Alleingang und vergaß dabei sogar, dass Antonio ihm zu Beginn zumindest angeboten hätte, ihm zu helfen. Die Vorfreude, etwas Eigenständiges gelungen zu beenden, löste eine Euphorie in Lovinos Brust aus, die wie tausende Schmetterlinge hin und her schwirrte. Die einst verlorene Energie machte sich in seinen Adern breit, regenerierte sich und weckte den jungen Mann aus seiner eintönigen, grauen Lebenstrance, die wortlos an ihm vorüberzog. Es machte ihn glücklich, kochen zu dürfen, ohne eingeschränkt zu werden. Vertieft in seine versteckte Leidenschaft schlich sich ein mildes, aber ehrlich zufriedenes Lächeln auf seine Lippen und verwandelte den sonst so grimmigen Hitzkopf in einen ausgeglichenen, geduldigen jungen Mann, der Antonio die Sprache verschlug.
Dass ihm eine alltägliche, kaum besondere Aufgabe derartig aufheitern und mit Freude bescheren konnte, hätte Antonio nicht erwartet. Als ihm aber das kleine Lächeln Lovinos ins Auge stach, wurde ihm augenblicklich warm ums Herz und ein erfüllter Grinser stand ihm einmal mehr ins Gesicht geschrieben. Er mochte es, wenn all der invertierte Ärger Lovino verließ, und wenn es nur einen Augenblick lang währte. Seine seelische Plage schenkte ihm endlich einen Moment der Erholung, inmitten des täglichen Stresses.
Lachend piekte der Spanier Lovino in die Wange, schenkte ihm einen weichen, vertrauensvollen Blick. "Weißt du, du siehst viel besser aus, wenn du lachst."
Lovino hörte auf, platzte aus seiner sicheren Blase der Glückseligkeit und beinahe wäre ihm der Kochlöffel aus der Hand gefallen. "Lachen? Ich lache nicht, wer hat behauptet, ich würde lachen?", in die Verteidigung gehend unterdrückte Lovino sein Lächeln und setzte lieber einen gespielt-beleidigten Schmollmund auf. Mann, er schämte sich ausnahmslos vor jedem Mal, wenn seine Mundwinkel nach oben zuckten. Es war so peinlich...
Was wenn es komisch wirkte?
Würden sich andere darüber etwas denken?
Bestimmt sah er grauenvoll aus...
Lovinos Selbstwertgefühl sank aus eigener Kraft in die Tiefe. Sein ständiger, stiller Input, wie lächerlich er doch sei, manipulierte es so lange bis, jene vergiftenden Aussagen sich tief in seiner Seele verwurzelt hatten und sich verfestigten.
Dennoch gab ihm Antonio keine Zeit sich weiterhin selbst zu zerstören. Sein dämliches, Offenheit ausstrahlendes Lächeln machte Antonios insgeheimen Titel des liebenswerten Idioten alle Ehre. Zudem hatte er tatsächlich die Nerven, sich mit einem Löffel eine Geschmacksprobe von der köchelnden Tomatensoße zu stibitzen. Empört verfolgte Lovinos Blick den matt schimmernden Löffel, der sofort in Antonios Mund verschwand, ehe er etwas darauf kommentieren konnte. Schwärmend schloss der Spanier für einen Moment die Augen, war überrascht und überwältigt, wie lecker bereits das unfertige Gericht schmeckte. "Boah, das ist voll gut, Lovino! Aber wirklich jetzt, du solltest Koch werden!"
Hitze sammelte sich in Lovinos Wangen, malten einen rötlichen Schein nach außen hin. Peinlich berührt über das Lob vermied er automatisch den Blickkontakt, sah gezielt weg und zwang sein Lächeln dazu, sich nicht zu offenbaren. "Danke, aber dafür ist es zu spät. Ich hab bereits eine Stelle und als Assistent eines Arztes bekommt man vielleicht noch eher einen finanziellen Zuschuss, wenn ich mich nicht ganz so blöd anstelle", ratterte er binnen Sekunden herab, ohne ein einziges Mal in Antonios Augen zu sehen. "Außerdem hätte man hier keinen Bedarf mehr an Köchen, in der Stadt sind die Wirtshäuser ohnehin gut besucht, da hätte ich keinen Platz und mein Opa meinte sowieso, dass sich das nichts bringen würde, da ich auch anscheinend andere Talente hätte."
Schnaufend griff er nach den Tellern mit den gräulichen Kratzspuren, welche durch das viele Benutzen von metallenen Bestecken verursacht wurden, und portionierte geduldig, aber betrübt über seinen beruflichen Werdegang die schnell gemachte Pasta für Antonio und sich. Wie sehr wünschte er sich nur, dass Antonios Lob und Vorschlag Wirklichkeit wurden?
Ein Koch zu sein und anderen mit seinen Gerichten ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern wäre ein Traum, der womöglich ewiglich in seinem Kopf spuken würde. Hätte er die Chance dazu, würde er sie ergreifen, jedoch versperrten ihm zahlreiche Hindernisse den ohnehin steinigen Weg. Großvater meinte immer, die Köche und Gastronomiearbeiter seien arme Hunde, müssten sich tagtäglich die Beschwerden und unmöglichen Verhaltensweisen der Gäste antun und riete Lovino unter allen Umständen ab, sich in einen Teufelskreis wie diesen zu stürzen, insbesondere aufgrund der Gefahr, dass ein Restaurant so schnell in den Ruin getrieben werden konnte, wie eine sterbende Zimmerpflanze am heißesten Augusttag des Jahres.
Sich aus den überflüssigen Gedanken entziehend stellte Lovino nun endlich das dampfende Essen auf den Tisch; sein Magen knurrte bereits wie ein Rudel Wölfe und Antonio lief das Wasser im Mund zusammen. Die ersten paar Nudeln auf die Gabel drehend beobachtete Lovino bereits, wie sein neuer Freund sich anscheinend als Schnellgenießer entpuppte und innerhalb kürzester Zeit die Hälfte des Tellers leeraß. Es passte keineswegs in das sonst so gelassene, eher langsame Bild, das er von Antonio aus Erfahrung gemacht hatte, deckte aber eine völlig neue Seite an ihm auf.
Oder er war einfach kurz vorm Verhungern.
Eines der beiden Dinge musste es sein, soviel stand fest.
Allerdings stellte sich ihm nun die Frage, wie der Spanier eigentlich den ganzen Tag verstrich. Er hatte ihn seit seiner Ankunft in dieser Stadt noch nie zur Arbeit gehen sehen, geschweige denn erfahren, was er gerne tat. Dass er arbeitslos sei, kam nicht in Frage, ansonsten könnte er niemals diese Wohnung erhalten oder sich Lebensmittel besorgen. Es sei denn, seine Eltern sorgten dafür, falls er wohlhabender Abstammung wäre und nicht so ein Bauerntöpel wie Lovino. "Sag mal, Antonio, was machst du eigentlich den ganzen Tag? Ich hab dich bis jetzt nirgendwo getroffen, wenn ich mal auswärts ging."
"Ich?", mampfte der junge Erwachsene mit vollem Mund, ehe er den unangenehm großen Kloß an Nudeln forciert runterschluckte, um anständig reden zu können, obwohl nun seine Brust tierisch zu stechen begann.
Hätte er sich doch noch einige Sekunden Zeit gelassen.
"Ich bin meistens irgendwo unterwegs, wo man mich hinschickt. Üblicherweise sind es einfache Beobachtungen von Menschen, die ich notieren muss. Oder es sind Berichte über meine Ergebnisse, also nichts Aufregendes."
Lovino legte den Kopf schief, verstand nicht direkt, was Antonio meinte und bohrte nach. "Also stalkst du Menschen quasi und sollst einen auf Pseudo-Journalist machen." Sein Ausdruck zeigte sich einmal wieder überspitzt.
"Nein, nein, nicht ganz", Antonio kratzte sich am Hinterkopf und die Gabel klirrte knapp gegen das Teller "Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht genau für was mein Chef die Berichte braucht, aber ich vermute, es ist für eine Verhaltensforschung, da einige Kollegen auch am Land Aufzeichnungen machen und letztens haben wir verglichen."
"Ach so", wortlos setzte Lovino mit dem Essen fort und setzte erst einige Zeit später fort, "dachte schon, du wärst arbeitslos. Dir würde ich es nämlich zutrauen."
***
Die Zeit verging wie im Fluge, die Zeiger auf der großen Standuhr drehten sich parallel zum gleichmäßigen Pendel konstant in ihrer eigenen Geschwindigkeit. Dichte, bauschige Wolken schoben sich vor die grelle Sonne, kühlten die heiße Erde der süditalienischen Landschaft ab. Dennoch herrschte ein anstrengendes, schwüles Klima.
Lovino verweilte tatsächlich länger als geplant außer Haus und vergaß in sorglosen Momenten des Tages die Zeit. Seine innere Uhr hätte ihm bereits dafür den Hals umgedreht; seine verletzte Seele nutzte gerade diese Vergessenheit aus, um einer wohlverdienten Katharsis entgegenzublicken. Kaum hatten sie den Mittag beendet, hatte sich Antonio dafür bedankt, dass Lovino das Kochen übernommen hatte, auch wenn es ihm ein bisschen peinlich war, dass er als Gastgeber keinerlei Hilfe zeigen konnte. Doch Lovino scherte sich nicht um derartige Lappalien, dachte dabei immer wieder an seinen ersten Tag zurück, an dem ihm Antonio mehr als nötig aushalf. Damals war er kurz vorm Verhungern gewesen und Antonio begegnete ihm mit Gutmütigkeit; diesmal würde Lovino sich dafür revanchieren, wenn auch indirekt. Daher konnte der sonst so Faulheit-Liebende leicht über die ungefragte Arbeit hinwegsehen, die er sich selbst zu verantworten hatte.
Aber nun beherrschte der volle Klang gezupfter Saiten die enge Stube. Wie Glitzerstaub tänzelten die feinen Staubkörner im hereinscheinenden, goldenen Sonnenlicht und wurden bei jeder Bewegung erneut aufgewirbelt und weggestoßen. Helle und dunkle Schatten zeichneten sich im spitzen Gesicht des Spaniers ab und schufen dabei Perspektiven seines Antlitzes, die Lovino noch nie erkannt hatte. Beispielsweise waren ihm die langen Wimpern und braunen Farbtupfer in den ansonsten reingrünen Iriden Antonios noch nie aufgefallen.
Schnell und kaum verfolgbar hüpften die Fingerkuppen Antonios von Saite zu Saite, erfüllten den ehemals stillen Tag in ein heimeliges Konzert. Seit Ewigkeiten hatte er das Instrument nicht mehr in den Händen gehalten, geschweige denn hätte er vermutet, jemals wieder zu spielen. Viel blieb ihm nach all den Jahren der Vergessenheit nicht mehr übrig; Unbeholfenheit begleitete sein Spiel. Dennoch hatte er sich genau eine Melodie, ein Lied, einverleibt, das er auch nach Ewigkeiten zu spielen vermochte, als spielte er bereits seit Kindestagen. Vielleicht war es auch das Einzige, was er jemals gelernt hatte.
Erinnerungen flossen mit dem Strom der Musik, verknüpften sich wie Seegras mit anderen Stängeln der Vergangenheit und formten ein weit reichendes Geflecht an Lebenszusammenhängen, die gegen die Stromschnellen des Lebensflusses nur schwer ankamen.
Wieso hatte sich Antonio überhaupt dazu entschieden, ein geschichtetragendes Instrument wie jene Gitarre erneut in die Hand zu nehmen? Ob das persönliche Interesse an Lovino Grund dafür war? Oder sehnte sich sein Herz sich bereits seit langer Zeit danach, sich mit der unterdrückten emotionalen Pein auseinanderzusetzen, indem es sich dem gegenüberstellte, was es fürchtete?
In trübsinnigen Gedanken versunken, stolperten seine Finger von Saite zu Saite, brachten die einst wunderbar bittersüße Melodie ins Schwanken und unterbrachen sein Spiel, bis es ihn endgültig in Frust zerriss und er seinen Kopf in die Hände stützte.
Lovino dagegen hob fast abwertend eine Augenbraue und seufzte. "Wenn dich ein kleiner Fehler schon so fertig macht, dann liegt dein begrenztes Können eher an deiner Einstellung als deinem Talent." Antonio bejahte seine Aussage nur halbherzig, wusste genau, dass er sich an keinen Rat halten würde und dass jedes gut gemeinte Wort bei einem Ohre hinein und beim anderen wieder rauskam.
"Hast ja recht", ein nervöses Lachen kam aus Antonios Mund, "Es ist nur, dass ich zumindest dieses Lied niemals vergessen möchte, daher nervt es mich, wenn ich es nicht gut genug widergeben kann." Ein dumpfer Ton erklang, als Antonio die Gitarre zurück in ihren Ständer sinken ließ und anschließend zärtlich über deren leicht staubiges Griffbrett strich.
"Was ist denn so besonders an dem Lied? Ich meine, es war schön und so, aber warum möchtest du es nie vergessen? Es wird nicht ohne Grund sein." Lovinos Neugierde blieb ungebändigt, gar hartnäckig und anstrengend. Antonio kam bereits ins Schwitzen, obwohl Lovino es nicht böse meinte, schaffte er es immer wieder ins Schwarze zu treffen, wenn es um seine wunden Punkte ging. Anscheinend hatte der Italiener das Talent dafür.
Antonio lächelte bitter, bemühte sich nichts anmerken zu lassen. "Ach, es ist nur ein Lied von meinem Bruder. Als ich noch klein war, hat er mir es oft vorgesungen, bis zu dem Tag, als er nach Portugal ausgewandert ist."
Ungewöhnlich interessiert setzte sich nun auch der stehende Lovino neben ihn und stützte seinen Kopf mit einer Hand. Ein Blick in seine bernsteinfarbenen Augen verriet Antonio, dass Lovino ihm geduldig zuhören würde und ihm erlaubte, jedes noch so unnötige Detail aus seinem jahrelang verschlossenen mentalen Fass an Verdrängung zu schmeißen.
Schon etwas ruhiger fuhr Antonio fort, vergaß dabei völlig die Unruhe, die ihn bei jenem Thema normalerweise vereinnahmte.
"Er war erst siebzehn, als er unser Elternhaus in Aragón verließ. Tomás größter Traum war es, Musiker zu werden und wollte sein Glück in Portugal versuchen. Ich war damals erst zehn geworden und, obwohl mein Bruder und ich uns wahnsinnig oft gestritten haben, seine Entscheidung zu gehen hatte mich hart getroffen. An dem Tag, an dem er wegging, sangen wir unser Lied das letzte Mal zusammen und er versprach, bald wieder die Familie zu besuchen und als Berühmtheit heimzukehren." Antonio verstummte für den Moment, Totenstille beherrschte den zu Ende gehenden Tag. Sein Hals schnürte sich zusammen und stahl ihm das letzte bisschen Luft, das ihm gegeben war, Gänsehaut überraschte ihn mit Frost trotz der jahreszeitlichen Hitze und sein linkes Bein begann angespannt hin und her zu wippen. Sein Herz erschwerte sich und die bedrückende Angst und Pein blühte in ihm auf. Wie kleine Dämonen knabberten sie an seinen Knöcheln und wollten ihn mit aller Kraft zu Boden reißen, um ein für alle Mal über ihn herzufallen. Seine Last, sein eigenes Kreuz, das ihm das Schicksal auferlegte, bohrte sich regelrecht in seinen menschlichen Körper und machte ihn vulnerabel wie ein schutzbedürftiges Tier. Dennoch drohte er allen aufkommenden, katastrophalen Emotionen im Keim zu ersticken; sie sollen niemals das Tageslicht erblicken.
Sie sollen keinen anderen belasten.
Sie sollen nicht zum Problem derer werden, die mit ihren eignen Dämonen kämpften.
Daher behielt er das bittere Lächeln auf seinen trockenen Lippen wie ein Kind, das sich verzweifelt an das Bein der Mutter krallte, in der bebenden Angst, ihnen könnte etwas geschehen. Er konnte nur hoffen, dass Lovino mit seiner Geschichte nicht in Panik geriet.
"Zwei Wochen darauf fand man ihn mit blutüberströmter Brust am Ufer eines Flusses. Leblos, verblutet und im Wasser erfroren. Das letzte Überbleibsel, das man uns zurückgab, war seine geliebte Gitarre."
Geschockt und mit Übelkeit durch die erzeugten Bilder im Kopf saß Lovino still da, brachte kein Wort über die Lippen und wiederholte in Gedanken. Mord. Etwas anderes konnte jene Szene nicht anders beschreiben. Lovino spürte, wie ihm der Schwindel bereits entgegenkam. Antonio dagegen trug keinerlei Emotion mit sich, weder negative noch positive Gefühle hätte Lovino anhand Antonios Mimik erkennen können. Es war offensichtlich, dass er sich zur Ruhe zwang und sich weiterhin in Stille dahinquälte.
Antonio tat ihm leid.
Tomás tat ihm leid.
Doch Lovino fehlten einfach die Worte.
Das Einzige, was ihm noch blieb, war es, seine Hand Rückhalt gebend auf seinen Rücken zu legen und ihm mit nüchternen, unbeholfenen, aber lieb gemeinten Gesten zu versichern, dass jemand bei ihm war.
~0~
Zunächst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass so lange kein Kapitel kam. Meine mentale Gesundheit sowie eine riesige Schreibblockade haben mich manchmal tagelang vom Schreiben abgehalten und wenn ich mich dann doch dazu überwunden habe, etwas zu arbeiten, wurde es zu einem regelrechten Kampf mit diesem Kapitel.
Nun ja, falls ich mal eine Überarbeitung der bisherigen Kapitel mache, werde ich wohl oder übel dieses hier am meisten editieren.
Dennoch hoffe ich, dass euch das Kapitel in irgendeiner Art und Weise gefallen hat und ich wünsche euch noch einen schönen Tag.
~6240 Wörter
Over and Out
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro