
Kapitel 6 - Der Beginn einer Freundschaft
Auch nach dem Zufallen der Tür änderte sich nichts.
Verdammt, Chance verspielt, fluchte Lovino in Gedanken, bereute sein Zögern sofort. Ihm war die Möglichkeit gegeben worden, ehrlich mit sich selbst zu sein und einmal in seinem Leben nach Hilfe zu rufen, aber er hatte sie elendig fallen lassen.
Fingernägel bohrten sich leicht in seine Handinnenfläche, gaben aber kurz darauf wieder nach, als die Standuhr mit ihrem ohrenbetäubenden Gong zu läuten begann.
Lovinos Arbeitstag war somit offiziell vorbei und er könnte theoretischer Weise bereits nach Hause gehen und in seinem Ärger sowie Selbstmitleid versinken, fielen ihm da nicht zahlreiche Wortfetzen auf, deren Sprachmelodie von spanischem Akzent gefärbt inmitten der hiesigen Dialekte stark auffiel.
Lovino blinzelte, atmete ein.
Antonio war also noch in der Nähe. Vielleicht konnte er ihn noch erreichen, bevor er für diesen Tag von der Erdoberfläche verschwand und Lovino lediglich darauf hoffen konnte, dass er ihn aus Zufall wiederfand.
In diesem Moment war es Lovino klar geworden.
Er brauchte zumindest eine Person, die ihm beistand - zumindest einen Verbündeten.
Und wenn diese Person Antonio sein sollte, dann sei es so.
Lovino wollte einfach nicht mehr allein sein und aus Eigenverantwortung verkümmern...
Also schnappte er seinen Beutel vom Boden, verabschiedete sich in Sekundenschnelle bei Enrico, indem er einfach durch die Reihen rief und stürzte sich Richtung Türe, durch die er keine Sekunde später durchstolperte. Das Klingeln der Glocke nahm er nur im Unterbewusstsein wahr, denn seine Aufmerksamkeit galt lediglich der angefüllten Marktstraße. Seine Augen musterten die fein gekleideten Menschen, deren Gespräche interessierten ihn aber nicht.
Lovino biss sich auf die Unterlippe. Wo könnte der Spanier nur stecken? Er hatte ihn soeben noch hören können...
Da.
Auf einmal hörte er seine Stimme wieder; ganz leise und weiter entfernt, aber dennoch hier.
Er musste Richtung Hauptplatz gegangen sein.
Lovino begann schneller zu gehen, lief aber noch nicht. Weiterhin durchsuchte er die Menschenmenge nach dem jungen Mann mit den zerzausten Locken, die einen Kamm womöglich noch nie zu Gesicht bekommen haben.
Die Sonne schien heiß auf ihn herab, seine eigenen Haare heizten sich auf.
Immer wieder zwängte er sich durch Menschenansammlungen, musste dem ständigen Schubsen der Größeren ins Auge sehen und sich deren Beschwerden anhören.
Da stachen ihm plötzlich ein paar grüner Iriden ins Auge und Lovino blieb wie gebannt stehen. Sein Herz setzte aus, seinen Beinen entzog es jegliches Gespür. Er hielt den Atem an und realisierte erst jetzt, dass er sich geradewegs durch das kleine Grüppchen gedrängelt hatte, mit dem sich Antonio unterhalten hatte.
Es waren zwei Damen gewesen sowie ein riesengroß gewachsener Mann, die mit ihrer ungewöhnlichen Kleidung unmöglich in das süditalienische Stadtbild passten. Zwei davon wirkten als kämen sie aus dem Norden und ihre Aussprache besiegelte diese Annahme, die kleinste unter ihnen allerdings brachte eher etwas Südliches mit sich. Eine der Damen hatte kurzes brünettes Haar in denen eine grüne Schleife besonders stark hervorstach, trug ein dazu passendes grünes Kleid, die ihre fast porzellanweiße Haut noch geisterhafter erscheinen ließ. Sie war geschätzt maximal dreiundzwanzig, während er die andere Frau eher wie zwanzig wirkte. Sie war etwas kleiner, ihre Haut war dunkel und ihre dunkelbraunen Zöpfe trug sie in roten Schleifen. Der fremde Mann besaß allerdings eine einschüchternde Aura - könnte bestimmt auch um die drei Köpfe größer als Lovino sein - und veränderte seine grimmige Miene nicht. Ein Zigarrenstummel schaute an seinem rechten Mundwinkel heraus; es glimmerte sogar noch. Er jagte Lovino regelrecht einen Schauer über den Rücken.
Lovino spürte, wie er rot wurde. Er hatte nicht miteingeplant, dass andere Leute mithören konnten, wenn er Antonio hier und jetzt ansprach.
"Lovino!", und da war der übereifrige, erfreute Dummdödel schon wieder am Quatschen, "Du hast es aber eilig. Willst du wirklich um diese Uhrzeit noch joggen?"
Lovino hatte keine Zeit zum Antworten, denn der Mann in Titanengröße wandte sich schon zu Antonio, ohne Lovino eines Blickes zu würdigen. Das Grimmige verschwand aber nicht. "Ist das 'n vriend van dir?" Antonio wechselte den Blick für einen Augenblick zu Lovino, dann wiederum zu dem Niederländer vor sich. "Ähm...sí?"
"Och, ist der aber süß. Wie heißt er denn?" Die Frau mit Kurzhaarschnitt lächelte Lovino freundlich an und Lovino lächelte peinlich berührt zurück, wohl wissend, dass diese Aussage seinem inneren Schweinehund nicht passte. "Er heiß-"
"Ich glaub, ich kann schon ganz gut allein reden...", zischte Lovino Antonio mitten im Gespräch rein, "Mein Name ist Lovino."
"Aww, Toni, du hast mir gar nicht erzählt, dass du so einen niedlichen Freund gefunden hast." Die Belgierin war genau wie Antonio. Übertrieben gut gelaunt, dass es schon fast unrealistisch erschien. "Ich bin Emma, das ist mein Bruder Abel", sie zeigte auf den Riesen neben sich, "und das Mädel neben mir ist meine Freundin Michelle." Michelle winkte. "Hallo!"
"Hey", mehr bekam Lovino vor lauter Anspannung gar nicht heraus.
Könnten die anderen vielleicht für den Augenblick von der Erdoberfläche verschwinden, damit Lovino es endlich hinter sich bringen kann? Anscheinend nicht. Lovino war dabei die Fassung zu verlieren, sein Geduldsfaden war kurz davor zu brechen. Für Sozialisation war er eindeutig nicht in der Lage, auch wenn die beiden hübschen jungen Frauen sich sehr freundlich und einladend zeigten. Sein Blick wanderte zu Antonio, der neben dem mindestens 1, 90 Meter großen Schrankmenschen winzig klein aussah.
Wer zum Teufel hatte Gott erlaubt Abel so lange Beine zu geben und Lovino nicht?
"Brauchst du etwas, Lovi? Du wirkst so gestresst", eine warme Hand legte sich auf seine sonnengewärmte Schulter und hinterließ ein unangenehmes Stechen, Lovino musste sich einen Sonnenbrand eingefangen haben. Ein knapper Blick nach links verriet ihm, dass es Antonio war, der sich um ihn sorgte. Eine Brise der Erleichterung erfasste seine braunen Haare und gab ihm neuen Atem.
Er war nicht einfach untergegangen wie sonst.
"Ja. Denke ich", stammelte Lovino mit blankem Gesicht und zwang sich dazu, Abel, Emma und Michelles Anwesenheit zu ignorieren. Ein interessierter Blick lag auf ihm, dessen Träger aufmerksam auf eine mögliche Bitte wartete.
"Könnten wir unter vier Augen sprechen? Irgendwann mal, demnächst?"
***
Lovino konnte es nicht glauben. Dass Antonio ihn aus gerechnet zu sich nach Hause einlädt, war eindeutig nicht Teil seiner Wunschvorstellung für ein Gespräch. Viel lieber hätte er sich draußen aufgehalten, vielleicht in einem ruhigen, unbelebteren Stadtteil, wo er jederzeit nach einer spontanen Verabschiedung greifen und kurz danach verschwinden könnte. Da er jedoch bei Antonio eingeladen war, war keine seiner abrupten Fluchtmöglichkeiten zur Auswahl gestellt worden. Übrig blieb lediglich die aufgezwungene Geduld, die bis zu einem guten Zeitpunkt darauf warten musste, dass sich Lovino die Dinge so in die Wege leitete, um zeitig wieder zu gehen.
Zwar war es ihm wichtig, mit Antonio zu reden und sich ihm anzuvertrauen, jedoch wollte er dies auch mit dieser einzelnen Gefühlsduselei belasten. Er weigerte sich strikt, länger zu bleiben, als es sein Kummer erlaubte. Etwas Anderes hatte Lovino ihm ohnehin nicht zu sagen.
Einen knappen Seufzer auf den Lippen tragend, gefolgt vom ungeduldigen Augenrollen, legte der Süditaliener seine linke Hand auf das warme, bereits vom Rost bedeckte Geländer mit den blattartigen, schnörkeligen Enden. Die Oberfläche zeigte sich rau und von der abgekratzten Farbe unterschiedlich in Erscheinungsbild und taktiler Prägung. Das Wohnhaus, zu dem Lovino sich mithilfe von Beschreibungen hinlotsen ließ, kauerte am Rande einer uralten, fast nur von Greisen bewohnte Straße und versteckte den Eingang durch die abgewetzten, glatten Steinstufen in einer Höhe, in der Kinder sich bereits einen Turm vorgestellt und zahlreiche Märchen imitiert hätten. Dabei war es für Erwachsene nichts weiter als ein Katzensprung, der bei feuchtem Wetter in einem aufgebrochenen Schädel enden könnte, wenn man die rutschige Stiege missachtete.
Hätte Lovino lediglich die Hand in die Höhe gestreckt, würde er bereits die herzförmigen, flauschigen Blätter des benachbarten Zitronenbaums erwischen, dessen Äste weit über die steinerne, ockerfarbene Mauer hinausreichten. Ein typisch ländlicher Teppich begrüßte den jungen Erwachsenen, als er endlich die Eingangstür unter dem winzigen Unterstand erreichte. Es bereicherte seine Brust mit einem Gefühl von Nostalgie, sogar Heimweh, wenn er daran dachte, dass sein Großvater denselben alten Fetzen vor der Eingangstür liegen hatte. Wieder blickte Lovino verloren zur Seite, genoss den kühlen Schatten des Unterstandes, den er mit ein bisschen Fantasie als schlichten Pavillon bezeichnen könnte, und der frische Geruch von Zitronen und Orangen strömte ihn mit dem sachten Windstoß durch die Nase.
So idyllisch dieses kleine Glück auch wirkte, es passte nicht zu Antonio. Nie im Leben herrsche an einem Platz, wo er wohnte auch nur das kleinste bisschen Ordnung. Allein die Vorstellung, dass ein fröhlicher Chaot wie Antonio, ohne Beschwerden anderer, zuverlässig genug war, um seinen Freigeist und Schleiß unter Kontrolle zu halten, hinterließ einen misstrauischen Eindruck.
Vielleicht schätzte er den Spanier auch falsch ein und in ihm steckte viel mehr, als man vorerst erwartete. Auf jeden Fall wollte Lovino nicht unbedingt eine Begegnung mit dem Vermieter der Wohnungen heraufbeschwören, indem er verloren im gähnend leeren Vorhaus stand, das das Quietschen der sich langsam schließenden Tür gegen jede Wand und Winkel warf.
Zögerlich und mit heruntergeschluckter Nervosität zielte Lovino nun Antonios Wohnung an, die er ausschließlich durch das weitere Erklimmen von Treppen erreichen konnte. Er schnaufte. Warum konnte sich Antonio nicht einfach eine Wohnung nehmen, die im Erdgeschoss lag? Es erspare ihm unglaublich viel Anstrengung und Stiegensteigen, das ihm die Luft aus der Lunge jagte.
Lovino nahm die letzten Stiegen in einem Satz, kippte für den Augenblick gefährlich nach vorne, ehe er sich glücklicherweise fing und sein spontan in die Höhe geschossener Puls die Gelegenheit hatte, sich zu normalisieren. Er schaute nach links, an das Ende des sonnenlichtgetränkten Flur, das durch die geöffneten Fenster das Schattenmuster der Bäume sanft an Boden und Wand malte, während der Rest vom goldenen Licht der Sonne illuminiert wurde. Feine Stoffkörnchen befanden sich in der Luft, tanzten in den sachten Brisen, die ihren Weg in diese Wohnbaute fanden. Jenseits dieses alltäglichen und doch so ruhigen, schönen Phänomens, das ein jeder bereits in Kindestagen kennenlernte, erwartete ihn die unauffällige, gewöhnliche Holztür zu Antonios simplen Apartment.
Ein letztes Mal ließ er sich seine baldigst ausgesprochenen Lasten durch den Kopf gehen, spürte den unwohlen Brocken von innerer Unruhe und Angstzuständen im Magen, hob den Arm knapp an und formte seine Hand in eine lockere Faust. Tief einatmend, als würden die nächsten Sekunden sein Weiterleben bestimmen, klopfte er an die hölzerne Wohnungstür und wartete.
Hoffentlich nahm der Spanier ihn auch ernst, dachte sich Lovino und das mulmige Gefühl wurde immer größer und unangenehmer. Was wäre, wenn er, ihn abwies, seine Sorgen beiseiteschob und als grundlos und lächerlich abstempelte?
Es nagte an Lovinos Verstand, obwohl ihm die ehrliche, dämlich-freundliche Art Antonios keinerlei Zweifel bescheren sollte.
Vielleicht waren es die eigenen negativen Erfahrungen mit dem Zeigen von Gefühlen.
Vielleicht war es der herrschende, patriarchale Zustand der Gesellschaft, die ihm seine Unsicherheiten abzuwürgen versuchte, um in ihr Wunschschema zu passen.
Vielleicht war es aber auch seine Leichtsinnigkeit, jemanden wie Antonio, den er lediglich ein paar Mal getroffen hatte, derartig zu vertrauen, sodass er sich ihm stufenweise öffnete und Intimes mitteilte.
Ein Klacken drang durch den Türspalt, gefolgt von einer sich langsam runterdrückenden Türklinke. Vor ihm eröffnete sich endlich eine Pforte in die schlichte Wohnung und er wurde von niemand anderem als Antonio mit einem einladenden Lächeln begrüßt. Lovinos Brust schnürte sich rasant zu, raubte ihm die Luft. Dieser ständige, eindeutige Optimismus machte ihn nur noch grimmiger, aber auch neidisch. Wie konnte jemand durchgehend gut gelaunt bleiben? Für Lovino selbst war es schon schwer genug, überhaupt einmal Freude aufkommen zu spüren.
"¡Buenos días, Lovino!", der Spanier riss die Tür weit auf und bat seinen Gast mittels lockerer Handbewegung herein, "Du hast aber lange gebraucht, hast du nicht hier herfinden können?"
Lovino ging kopfschüttelnd auf das freundlich gemeinte Scherzen ein, steckte seine Hände in die dünne Jackentasche und versuchte so lässig wie möglich dazustehen. "Ich denk nicht, dass ich dumm genug bin, um den ganzen Weg hierher zu vergessen. Ich hatte einfach keinen Bock früher aus dem Bett zu steigen."
Antonio schloss die Tür hinter sich, als Lovino in seine eigenen vier Wände eintrat und sogleich die Schuhe von den Füßen kickte. "Ach so. Dabei warst du doch derjenige, der sich selbst hier eingeladen hat."
"Ich wollte nur unter vier Augen reden, DU warst derjenige, der sich in den Kopf gesetzt hatte, es müsse in deiner eingedreckten Wohnung sein." Der Italiener zog die Augenbrauen zusammen, lächelte dabei aber verschmitzt.
"Ich habe vor einer halben Stunde erst geputzt, Lovino. Hier ist gar nichts dreckig." Er klopfte dem Kleineren gut gemeint auf die Schulter und ließ die abwertenden, überspitzten Kommentare an sich vorbeiziehen. Es war belustigend, Lovino in seiner absichtlich übertriebenen Ausdrucksweise zu beobachten. Antonios Ansicht zufolge machte ihn das ausschließlich interessanter.
"Es geht hier ums Prinzip, Toni." Der Süditaliener schnaufte und ließ sich von seinem Bekannten ins Wohnzimmer führen, das sich zugleich als Küche und Schlafzimmer entpuppte. Etwas Anderes hatte Lovino auch nicht erwartet, immerhin müsste man schon adelig oder reich sein, um sich bessere Lebensumstände zu erkaufen und gerade in Zeiten wie diesen, wo Aufstände und ein innerer Groll des Volkes Alltag war, wurde es schwierig, sich gegen gesellschaftlich höher Gestellten aufzulehnen.
Der gegenseitige Hass der Menschen und die brodelnde Rivalität gegen die wohlhabenden Bürger im Norden machte es nicht sonderlich besser.
Ein Wunder, dass es sein Bruder Feliciano überhaupt geschafft hatte, mit dem Großteil des Familienbudgets eine Stelle in einer reichen Stadt wie Venedig zu finden. Womöglich bekam er einen Zuschuss oder man hatte Mitleid. Sein Talent allein konnte ihm nur in Ausnahmefällen geholfen haben...
Lovino bohrte seine Fingernägel knapp in seine Handfläche. Seine Gedanken lagen stets an der glücklichen Lage seines jüngeren Bruders, anstatt sich auf den Anlass zu konzentrieren, weswegen er hier auftauchte. Scheinbar weigerte sich eine innere Kraft dagegen, jene Last ans Licht zu bringen, da es ihm Scham, Schwächegefühle und Unannehmlichkeiten verschaffte.
Aber irgendwie musste er dieses übervolle Glas an Sorgen leeren, ehe es vom internen Druck gänzlich in tausende Scherben zersprang und ihm den Weg des Lebens mit messerscharfen Splittern bestäubten.
Lovino stand orientierungslos in der Mitte des Raumes, wartete, bis der gastfreundliche Spanier ihm die Erlaubnis gab, Platz zu nehmen. Die Auswahl war nicht sonderlich groß. Entweder setzte er sich an den Tisch oder an sein mickriges Bett, weswegen er vorzugshalber den Tisch wählte und sich plötzlich wie eine alte Dame fühlte, die für Kaffee und Kuchen vorbeikam. Lovinos Augen durchforsteten den Raum. Einige Bücher und Fotoalben versteckten sich in einer simplen Ablage des Nachtkästchens, eine Gitarre verweilte links daneben. Sie schien sehr alt zu sein, denn die aufgetragene Farbe um das Schallloch herum zeigte bereits einige Kratzer auf und die davon ausgehenden Striche erschienen unregelmäßig.
Antonio bemerkte den interessierten Blick Lovinos, setzte sich mit zwei Tassen Kaffee neben ihn und durchbrach die peinliche Stille. "Die Gitarre ist schon sehr alt. Eigentlich wurde sie sogar mehr zum Staubfänger." Ein bitteres Lächeln malte sich auf seine Lippen und seine sonst so gehobene Stimmung verfiel einer schwachen Melancholie, die Lovino im ersten Moment glücklicherweise nicht bemerkte. Der Spanier stand seinen inneren Spannungen gegenüber und lang unterdrückte Gefühle wurden ein weiteres Mal nur heruntergeschluckt, als wären sie stechend kaltes Quellwasser im eisigen Griff des Winters.
"Also spielst du nicht wirklich oft?"
"Nein, eigentlich kaum." Antonio spürte die Hitze in seinen Wangen aufsteigen. Es war ihm peinlich, zuzugeben, dass er ein Instrument besaß und im Endeffekt keinen Nutzen dafür im Alltag fand. Sein Gast musste ihn bestimmt für eigenartig halten...oder sogar faul. Dabei blieb der wahre Grund dafür hinter einer frohgesonnten Fassade verborgen.
"Hm...", Lovino dachte nach, sah einmal in Antonios durchaus attraktives Gesicht und dann wieder auf die angestaubte Gitarre, "Wenn sie nicht so alt wäre, könnte man sie sicher für gutes Geld verkaufen. Aber vielleicht zählt sie ja schon als Sammlerstück, dann dürfte es leichter von der Hand gehen."
Ein dumpfer Schlag fand sich in Antonios Brust wieder und seine Finger zuckten, ehe er diese in einer Faust auf dem Tisch versteckte und mit den Knöcheln die raue Tischplatte berührte. In seinem Magen zog sich alles zusammen, schnürte ihn ab, als bestände er nur aus Stoff. Seine Gitarre konnte er unmöglich verkaufen, egal wie stark sie auch zum Staubfänger mutierte. Sie sollte niemals in die Hände anderer gelangen, dafür trug sie einen viel zu großen Wert.
"Auch wenn das Geld knapp werden könnte und mich mit gerade annehmbaren Wohnverhältnissen zufrieden geben muss...Ich könnte die Gitarre nie verkaufen...", der Brünette mit den smaragdgrünen Augen warf einen trüben Blick auf das Instrument und Lovino hob verwundert die Augenbrauen, "Es ist etwas Persönliches, deshalb."
Still nickend und dennoch verwundert betrachtete Lovino Antonio. So trübselig, wie der Spanier im Moment erschien, hatte er ihn noch nie erlebt. Es war ungewohnt, eine Frohnatur wie Antonio so still und deprimiert zu sehen. Für den Augenblick erinnerte er Lovino sogar an ihn selbst, als er in seiner eigenen kleinen Welt Rückzug suchte, als er sein Bemühen daraufsetzte, die Geschehnisse im Wald zu verarbeiten. Stundenlang lag er nach der Arbeit im Bett, hatte still zur Zimmerdecke hinaufgeschaut und weder gedacht noch ein Wort über seine Lippen kommen lassen.
Da spürte Lovino auf einmal seine alte Taschenuhr in der Jackentasche herumkugeln. Auch er hatte ein Objekt, dessen Bedeutung größer war als der allgemeine Verkaufswert am Markt. Etwas Persönliches hing an der Taschenuhr, denn sie trug eine von vielen möglichen Geschichten mit sich, die sich dem Kenner bei bloßem Ansehen offenbarte. Ob es bei Antonios Gitarre dasselbe war?
Vielleicht waren Antonio und er sich gar nicht so unähnlich.
"Weißt du, ich hab da auch ein Ding, was ich theoretischer Weise für viel Geld verticken könnte, aber ich mach's auch nicht", geschwind griff Lovino nach seiner Taschenuhr, zeigte sie Antonio und betrachtete, wie das feine Metall in der hereinscheinenden Morgensonne glänzte und schimmerte. Sprachlos zog die kleine Uhr Antonios Aufmerksamkeit in ihren Bann. Die kleinen, eingravierten Schwingungen und Linien veredelten das Metall, machten etwas derartig Einfaches zu einem handgroßen Schatz. "Also von dem her kann ich verstehen, warum man nicht alles für Geld rausschmeißen würde. Ich bin da nicht viel anders", fügte Lovino noch knapp hinzu. Er war selbst überrascht, wie viel Verständnis und wenig Unhöflichkeit er aufbrachte, immerhin tat er sich normalerweise schwer mit Worten.
Ob es vielleicht daran lag, dass kein Fokus auf ihn gerichtet war und er eine seiner Eigenarten mit jemandem teilen konnte?
Jedenfalls schien Antonio wieder entspannter zu wirken; fast sogar erleichtert, als hätte man ihm eine unsichtbare, bleischwere Kette abgenommen. Ein kurzer Funken von Zufriedenheit entsprang in Lovinos Brust wie ein kürzlich entflammtes Streichholz. Hatte er ihn mit diesen wenigen Sätzen aufheitern können? Anscheinend war Lovino doch nicht so sozial unbeholfen, wie es ihm viele verübelten.
"Stimmt", antwortete Antonio und nippte vorsichtig an der heißen, dunklen Brühe in seiner Tasse. Ihr wohlriechender Dampf stieg zögerlich auf, streichelte ihm sanft über Wangen und Nase und verlockte ihn bereits dazu, einen großzügigen Schluck zu nehmen, der ihm jedoch mit brennendem Leid entgegen lachte. Plötzlich schwappte eine brühheiße Welle gegen seine Lippen und Zungenspitze und betäubte mit einem Mal jegliches Gefühl. Leise fluchend zuckte er zurück, hielt sich reflexartig die Hand vor den Mund und erwartete bereits, seine Geschmacksknospen für den Rest des Tages komplett abgebrannt zu haben und seine Mahlzeiten nicht im vollen Ausmaß genießen zu können. "Ah, verdammt! Ich hab mich verbrannt!" Der Spanier begann übermäßig mit der Hand zu fächern und hoffte, damit etwas Positives zu bewirken, jedoch ohne gravierenden Erfolg. Der Schmerz blieb dennoch erhalten.
Lovino guckte nur stumm, blinzelte einige Male, bis ihm ein Schmunzeln über die Lippen kam und er mit der Hand vor dem Mund zu prusten begann. Antonio sah einfach zu komisch aus, um ernsthaft zu bleiben, insbesondere weil er sich anstellte, wie ein unaufmerksames kleines Kind, obwohl gerade er der ältere der beiden war.
"Hey, was soll das!", protestierte der Spanier augenblicklich und zog verärgert die Augenbrauen zusammen. Die taub gewordene Zungenspitze hielt er dennoch aus dem Mund heraus, was es Lovino nur erschwerte, ernst zu bleiben.
"Machst du das mit Absicht oder bist du wirklich so blöd?", ein unterdrücktes Lächeln zeichnete sich auf Lovinos Lippen ab, das Antonio sofort verstummte. Lovino ehrlich lachen zu sehen, auch wenn es sich hierbei um Schadenfreude handelte und er selbst dabei den Kürzeren zog, war eine Seltenheit, die Antonio augenblicklich in seinen Bann zog und seinen Ärger vergessen ließ. Lovinos Lächeln war trotz der starken Zurückhaltung wunderschön. Er sollte es sich öfter erlauben zu schmunzeln, es stand ihm so viel besser als der bleibende grimmige Gesichtsausdruck, den er ansonsten immer bei sich trug wie eine verewigte Narbe, deren Heilung lange Zeit ausblieb.
"Ich denke, ich bin tatsächlich blöd genug dazu. Danke der Nachfrage", nahm Antonio die Situation mit Humor und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. "Aber ich war wenigstens nicht derjenige, der neben die Straße gekotzt hat", nuschelte er in sich hinein und erwartete eine impulsive Rückmeldung seitens Lovino. "Das war ein Mal! Außerdem...", aus der lauten, dominant wirkenden Stimme wurde auf einmal ein zurückhaltendes Brabbeln, "...hast du gesagt, dass das unter uns bleiben kann."
"Wir sind doch unter uns, Lovino, ich hab unser Versprechen also nicht gebrochen. Kein Grund gleich auszurasten." Den Kopf mit der Hand abstützend musterte Antonio sein Gegenüber, grinste ihm spielerisch entgegen, um den Ernst aus der Situation zu nehmen. "Zudem bist du doch genau deswegen hergekommen, damit wir zwei einmal unter uns sind." Auf einmal wurde Lovino hellhörig, setzte sich gerade hin und atmete tief ein. Sein Brustkorb hob und senkte sich bewusst. Anscheinend hatte er den Grund für sein Kommen spontan verdrängt und beiseitegeschoben, sodass ihn der Themenwechsel überraschte und für den Moment schweigen ließ.
Lovino biss sich flüchtig auf die Unterlippe; wusste, wie trocken sein Mund sich anfühlte und wie er nach Wasser flehte. Zwiegespalten darüber, wie und wo er anfangen sollte, schaute er lediglich auf seine locker auf der Tischplatte ruhenden Hände. Der Drang sich in seinen Handballen zu kneifen, um mit dem inneren Stress fertig zu werden wuchs heran wie eine wuchernde Rosenranke um eine herabgekommene, leblose und verkümmerte Hütte, die niemand mehr beachtete. Lovino musste reden, immerhin war gerade er es gewesen, der nach einem Gespräch gesucht hatte, aber nun verschlugen ihm unsichtbare Zwänge und Hemmungen die Sprache vollkommen. Er wollte seinen Schmerz von der Seele reden...aber er konnte nicht...es war unglaublich schwer, etwas derartig tief Verankertes zu teilen. Seine intuitive Abwehrhaltung stellte sich als Hindernis dar.
"Also, Lovi, was ist los mit dir? So aufgelöst, wie du letztens warst, muss es etwas Wichtiges gewesen sein."
Lovino schluckte, spürte das Adrenalin blitzschnell durch seine Adern schießen. "Ich...ähm...", grummelnd zog er die Augenbrauen zusammen, schaute seinem Bekannten gar nicht erst ins Gesicht. Seine dumme Fresse machte sowieso alles nur noch schlimmer. "Hast sicher schon von dem Scheißdreck gehört, der im Wald passiert ist. Sowas spricht sich normalerweise schneller rum als 'n Rabatt beim Markt."
Antonio schaute verdutzt und blinzelte verwirrt, ehe ihm anscheinend ein Licht aufging und langsam nickte. "Oh, du meinst das mit der gefundenen Leiche? Ja, davon hab ich das ein oder andere gehört."
Ein unzufriedenes Brummen kam ihm sofort entgegen. Lovino spannte sich an. "Genau, 'lustigerweise' war ich ja mit Enrico unterwegs als wir das da gefunden haben. War echt ekelig, bestimmt ist er schon am Verwesen gewesen, ugh..."
Lovinos Stimme wurde höher, die Überspitztheit in seinem Ausdruck wurde immer auffälliger und der versteckte Schmerz kam allmählich ans Licht. Es war klar, dass Lovino seinen Kummer mit den schlechtesten Wörtern wie möglich ausdrückte, um seinen Ehrbegriff zu verteidigen.
War eine unsichtbare, selbst konstruierte Ehre tatsächlich mehr wert als Ehrlichkeit und Gesundheit?
"Lovino." Antonio wollte etwas sagen, die Besorgnis und der Ernst in seiner Stimme präsentierte sich immer stärker, aber dennoch redeten sie aneinander vorbei.
"Ganz ehrlich, das war echt grauenvoll anzusehen. Gut, dass keine Kinder anwesend waren, sonst würden die heulen und Albträume kriegen, ha."
"Lovino." Dieses Mal probierte Antonio es lauter, aber Lovino hörte nicht auf zu reden. Er hatte sich selbst in seinem Dilemma verfangen und distanzierte sich in Worten und Aussagen von seinem Kummer, indem er ihn indirekt anderen Nicht-Involvierten zuschrieb.
"Zum Glück war keiner mit schwachen Nerven da, den hätte es bestimmt umgehauen", versuchte Lovino indirekt von sich abzulenken, obwohl das seinem Plan, sich seine Sorgen von der Seele zu reden, kontraproduktiv entgegenkam.
"Sowas kann einen sonst noch Ewigkeiten lang begleiten. Ich kann mir vorstellen, wie scheiße sowas sein muss." Indirekt deutete er auf sein eigenes Leid hin, auf seine physischen und psychischen Beschwerden, die ans Tageslicht kamen und Antonio bereits miterlebt hatte.
"Lovino!", brach die Stimme des Spaniers plötzlich durch Lovinos geistiger Abwesenheit, überraschte ihn wie eine eisige Welle, die einem vom weiten, tiefen Meer in den Rücken geschwemmt wurde. Der junge Mann wurde hellhörig, brach sein Selbstgespräch ab und erschauderte sogar kurz aufgrund der spontanen Dominanz in Antonios Stimmlage. Lovino hatte Antonio noch nie in solch einem Ton reden hören.
Doch da atmete sein Gegenüber tief ein, sammelte sich wieder und legte sein strenges Durchsetzen ab. "Lovino, dich bedrückt die Situation von damals, oder? Du kannst es ruhig zugeben." Antonios Stimme wurde weich, gar verständnisvoll und willkommen heißend, sodass es für den Kleineren leichter hätte sein müssen, sich die Dinge von der Seele zu reden.
Lovino schwieg, starrte lediglich verloren in den dampfenden Kaffee vor sich und zog angestrengt die Augenbrauen zusammen.
"Ist es dir...", der Brünette machte eine Pause und bemühte sich um Augenkontakt, "...etwa so ähnlich ergangen wie damals bei der Straße?"
Kein Wort fiel darauf hin, die Stille hielt an und zeigte sich als stetig unangenehmer, je mehr Zeit verging. Mit den eigenen Unsicherheiten kämpfend, begann Lovino damit, nervös an seinen Fingernägeln herum zu kletzeln. Was sollte er sagen? Oder sollte er überhaupt noch etwas von sich geben? Diese innere Spannung stresste den jungen Mann, führte ihn in die Irre und anschließend wieder zurück zum Anfang. Der Entschluss, mit einem prompten Nicken zu antworten, erschien ihm als das kleinste Übel.
"Oh." Eine sinnlose Antwort Antonios. Dieses kleine Wörtchen sagte ihm nichts Direktes aus. Dennoch begegnete es Lovino mit Verständnis, Zugänglichkeit und Interesse und machte ihm weiß, dass es auf dieser trügerischen, verfallenen Welt Menschen gab, die sich seiner freiwillig und guten Willens annahmen. Etwas in Lovinos Seele schmunzelte erleichtert, erhellte die andauernde Finsternis ihres vergänglichen, fleischlichen Gefäßes für den Moment und verjagte die Einsamkeit. Vielleicht war es das geteilte Leid, das ihm endlich von den Lippen abgelesen wurde und nun nur mehr einen kleineren Berg an Lasten ertragen musste, das ihn beflügelte und befreite. Nichtsdestotrotz lungerte ein Ärger auf sich selbst in seiner Brust, der ihn stichelte und die Fassung verlieren ließ.
"Argh, weißt du, da komm ich extra her, um von diesem Wahnsinn wegzukommen und das Einzige, was ich mache, ist still dahocken. Ich bin ja auch komplett bescheuert. Ich steh mir ja selbst nur im Weg", schimpfte Lovino mit sich selbst und raufte sich grummelnd die Haare, ehe er den Kopf müde auf die Tischplatte legte. "Ich bin ein hoffnungsloser Fall, los, lach mich aus, ich hab Zeit."
Perplex blinzelnd und der prompten Verwirrung verfallen, legte der Spanier den Kopf schief, fragte sich, was er tun sollte. Die Atmosphäre lesen zu können und die richtigen Worte zu finden, besonders wenn es um eine komplizierte Person wie Lovino ging, gehörte nicht gerade zu seinen Stärken. Das hatte sich in ähnlichen Fällen in der Vergangenheit mehrmals bewiesen. Daher tastete er sich lieber vorsichtig heran und antwortete seinem Gegenüber nur zögerlich.
"Ist schon gut, ich kenn's in gewisser Weise auch von mir. Ich bin genauso unfähig, wenn es um Persönliches geht."
"Ach so, unfähig bin ich also auch...", murrte der Brünette leise in sich hinein, "Du schaust aber eher so aus, als plapperst du alles raus, was dir durch den Kopf geht. Egal wie dumm es ist." Er drehte seinen liegenden Kopf zur Seite und schaute Antonio still in die wunderbaren smaragdgrünen Augen, die im Licht der einfallenden Morgensonne kurz aufleuchteten.
"Ich bin zwar direkt, aber bei gewissen Sachen habe ich auch die Schwierigkeit, den Mund aufzumachen", Antonio wechselte angespannt den Blick im Raum hin und her.
Ein violetter Schein blitzte in seinem inneren Auge auf.
Bei manchen Angelegenheiten war es besser zu schweigen.
Lovino erschauderte. Eine Gänsehaut überraschte ihn und jagte die feinen Härchen seiner gebräunten Haut dazu auf, sich starr aufzustellen. Die Unsicherheit des Spaniers setzte sich ebenso in ihm fest und terrorisierte seine verlangsamte, zögernde Lebenszeit.
"Es ist auch schwierig, überhaupt ein Gespräch zu finden", nun stützte sich Lovino auf und hielt den Kopf in den Händen, "ohne von jedem deswegen verarscht zu werden. Wenn du als Typ außerhalb deiner eigenen vier Wände das sentimentale Balg spielst, bist du für deine Artgenossen sowieso abgeschrieben."
"In meiner Heimat ist es nicht wirklich anders." Der Spanier warf einen Blick auf die eingerahmten, alten Familienportraits in den Bilderrahmen, deren hauchdünner Staubfilm bereits einige Details ergrauen ließ. "Da lästert man auch gern, wenn der Mann nah am Wasser gebaut ist, anstatt seiner Dominanz freien Lauf zu lassen."
"Ja, aber zumindest bist du nicht so einer, der beim kleinsten Tropfen Blut einen halben Aufstand macht wie ich...", der Süditaliener seufzte, fiel lässig in seinen Stuhl zurück und bewahrte sich gerade noch davor, mit dem Boden Bekanntschaft zu machen, "Uff, und da haben wir's wieder. Ich jammere einen wildfremden Mann mit meinen jämmerlichen Problemen an. Mein Opa würde sagen, ich solle mich endlich mal am Riemen reißen, denn so ginge es nicht weiter mit mir." Abweisend enthielt sich Lovino dem Augenkontakt und wollte so wenig wie möglich Angesicht an Angesicht mit Antonio sprechen. Der massive Druck, der sich daraus ergäbe, verschreckte ihn und hätte ihm die Sprache sofort verschlagen.
"Wildfremder Mann? Lovi, wir sind doch Freunde und Freunde sind doch dazu da, sich gegenseitig zu unterstützen, das ist vollkommen ok. Ich bin zwar ein katastrophaler Ratgeber, der um alles herumredet, aber ich kann mich bemühen, dir zuzuhören." Lovino spürte Antonios warme Hand an seiner Schulter liegen, hielt für den Augenblick den Atem an und traute sich letztendlich doch, zu Antonio aufzuschauen, der ihm mit einem milden Lächeln begegnete. Seine smaragdgrünen Iriden leuchteten hell und lebhaft auf, als das vom Fenster gebrochene Sonnenlicht mit einem warmen Strahl auf sie traf. Der herumliegende, gläserne Schnickschnack aus seiner Heimatprovinz sammelte das Licht und malte im Schutze des Raumes wunderbare Regenbogenmuster in die kleinsten, unscheinbarsten Ecken wie ein einsamer, einzelner Pinselstrich. Lovino hielt die Luft an, sein Herz klopfte und in seinem Bauch herrschte ein Tumult, der sich nicht beruhigen ließ, sondern von einer heftigen, spontanen Gefühlswelle überrascht und gelenkt wurde. Es war die platonische Euphorie, die sich in sein Herz, in seine Seele schlich und ihre unklaren Machenschaften vollstreckte und Lovino wie eine willenlose Marionette an ihren unsichtbaren Fäden nach ihrem Belieben steuerte.
Freunde.
Irgendwie mochte er dieses Gefühl; es löste unnennbares Glück und Zufriedenheit in ihm aus, auch wenn es zunächst nur wie ein schwacher Funken das Licht der Welt erblickte.
Freunde...
Lovino hatte bis jetzt niemanden in seinem Leben als Freund bezeichnet, geschweige denn wusste er, ab welchem Zeitpunkt die Grenze zwischen Bekanntschaft und Freundschaft verschwamm.
Freunde...
Vielleicht sollte er Antonio die Chance gewähren, sich als Freund und Kamerad zu bewähren.
"Ich kann mich nicht daran erinnern, dir erlaubt zu haben, mich so zu nennen. Und Freunde...huh? Ich brauche keine Freunde, sie enttäuschen mich nur...", log er zunächst, wartete auf eine Reaktion des Spaniers, die letzten Endes in einem betroffenen Gesichtsausdruck resultierte, "Okay, vielleicht kann ich mir eine Freundschaft leisten. Immerhin springt sicher auch einmal etwas für mich raus."
Antonio strich sich erschöpft durch sein wuscheliges, lockiges Haar. Einige Löckchen fielen ihm ins Gesicht, hoben die leuchtend grünen Augen mit ihrem dunklen Farbton stark heraus. Er lachte leise. "Sehr charmant, Lovino. Du bist ja ein richtiger Charmeur."
"Ich weiß", schmunzelte Lovino frech zurück, die aufkommende Euphorie in seiner Brust entflammend. Die herrschende Harmonie zwischen ihren Seelen spannte sich über große Weiten ihrer Persönlichkeit und verwandelte das graue, fahle Himmelszelt ihrer Existenz mit sachten Farbtupfern in ein zartes, lasiertes Aquarellgemälde, das nur darauf wartete, mit kräftigen Farben versehen zu werden. Trotz ihrer individuellen Differenzen und Gegensätzen schaffte es das Vertrauen, sich unter ihnen dazu zu schleichen und reife Früchte zu tragen, die sich als sicherer Hafen beider Gefühlsstürme entpuppte.
Lovino und Antonio unterhielten sich an jenem Tag noch lange miteinander, wurden miteinander vertrauter und teilten sich Aspekte ihres Lebens in ungewohnter Ruhe und Gelassenheit mit. Vielleicht war gerade diese Freundschaft, die sich zurzeit noch in den Kinderschuhen befand, so erleichternd für Lovinos negativen Gegenpol, da sie all die aufgestaute Trauer und Angst auslaufen ließ, auch, wenn er den Großteil seiner Bedenken nur im Stillen für sich behielt und lediglich Antonios Optimismus und lebhafte Art ausharrte, die die Finsternis seiner Seele verblassen ließ wie der lang erwartete, erste Sonnenstrahl an einem kühlen Wintermorgen.
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