Kapitel 5 - Gefühlslose Welt
(TW: traumatöse Zustände, gore)
Dornen - Klagelied
Still und leise erstrecket sich,
Ein zartes Röslein gen Licht.
Es war jung, es hatte noch keine Dornen,
Noch niemand hatte es verdorben,
Bis der Tag kam, an dem es verdurstete, vertrocknete und starb,
Wie das Kindelein, das in der Roses Schoße lag,
Wie der Vater, die ihr keine Liebe gab.
Wie die Mutter bei ihrer Geburt,
Wie der Gatte, der zum letzten Male murrt.
Schreie, Verzweiflung, Angst und die tiefe Trauer
All das wurde Teil ihrer festen, schützenden Mauer.
Und solange sie auch trauerte unter dem Schutze der Weiden,
Solange hielt an la Lloronas Leiden.
{verfasst in einem alten Tagebuch; verloren an einem fahlen Schreibtisch}
Frost überzog den kraftlosen, zerstörten Körper und bemalte ihn nach und nach mit seinen wunderbaren Eisblumen, deren Blüten sich wie Lauffeuer verbreiteten und wuchsen. Ein toter Wald endlos hoher Bäume, die in eine dicke Nebeldecke reichten, sperrte ihn ein und trennte ihn vom warmen Sonnenlicht, das ihn von der Eiseskälte hätte erlösen können. Raureif hüllte jegliches Leben ein, versteckte es hinter seiner weißen Pracht vor den Gefahren der Welt.
Lovino fühlte sich wie benommen, Schwindel war sein ständiger Begleiter. Ob er sich in der Realität befand oder nicht, blieb unklar.
Welche Jahreszeit war zurzeit?
Lovino hatte es gänzlich vergessen und wirkte nunmehr so als wäre er geradewegs aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht.
Regentropfen nieselten auf seine gefrorene Nasenspitze, kitzelten dabei aber kaum. Jegliches Körpergefühl und Schmerzempfinden existierten nicht mehr. Der Boden, auf dem er lag, schien zu schwanken und verschwamm sekundenweise mit seiner Umgebung. Lovinos Kopf blieb unglaublich leicht, auch nachdem er sich aufsetzte und wie eine Maschine gefühlslos Bewegungen ausführte, die sich von ihm distanzierten wie der Schall eines zu Boden fallenden Tropfens. Er war nicht mehr er selbst. Lovino erlebte sich als Steuerer und bemerkte die Dissonanz seines Wollens und seiner Realität, denn sein Körper horchte nicht immer auf seine Wünsche.
Eines blieb jedoch noch offen: Wo war er nur gelandet?
Einen leblosen, fahlen Wald wie diesen kannte er nicht, selbst die Bäume blieben ihm völlig fremd und erinnerten ihn eher an Illustrationen in Fabeln. Schwerfällig richtete Lovino sich auf, erblickte erst jetzt den permanenten Frost an seinem Körper, der ihm jeglicher Selbstbestimmung beraubte. Der kaputte Leib mit all seiner Gefühlslosigkeit...es musste das Werk der eisigen Kälte sein, die an jenem geheimnisvollen Ort ihr Heim gefunden hatte.
Verloren wie ein orientierungsloses Kind blickte Lovino umher, hielt Ausschau nach einem Ausweg, doch es gab nichts.
Es gab kein Leben.
Es gab keine Geräusche.
Es gab keinen Anhaltspunkt mehr...
...bis aus der Windstille eine kräftige Brise hervortrat, die Lovino einen Schauer über den Rücken jagte, ihm die Gänsehaut mit all ihrer Anspannung wie ein feiner Pinselstrich auftrug. Angespannt drehte er sich um - seine Ohren blieben taub - spürte wie sein Herz aussetzte und mit es einem immensen Riss in der Brust die Zeit einfror. Sein Rachen schnürte sich zu und verbot ihm die lebenswichtige Luft, die er dringend zum Leben gebraucht hätte.
Vor ihm häufte sich Grausames an; Dinge, die sich wie Eisenketten an seine Glieder hefteten und zu Boden rissen.
Denn vor ihm lächelte ihm ein weiter Weg entgegen, gepflastert mit zahlreichen Opfern und gefärbt mit ihrem unschuldigen vergossenen Blut, ihrem Lebenselixier.
Ihre verlorenen Gesichter mit dem verblassten Glanz ihrer Augen blieben zu Boden geneigt, doch die graue Haut die vom eigenen rosenroten Farbstoff befleckt einen roten Teppich bildete, sagte genug aus. Lovino wich zurück, musste jedoch mit Schrecken feststellen wie seine Beine wie Zement an den Boden geheftet blieben und sich nicht den kleinsten Zentimeter bewegten. Dazu gezwungen, an jenem Stückchen Erde auszuharren und nicht dem ihn umzingelten Tode zu entfliehen, begann er hektisch zu ächzen, weiterhin versuchend, einen Schritt nach dem anderen zu machen, vergebens.
Er verweilte als Gefangener, riss sich - trotz aller misslungenen Versuche - selbst zu Boden. Mit den Armen bemühte Lovino sich voranzukriechen, fiel aber ein weiteres Mal dem Scheitern zum Opfer. Verbissen und überfordert mit sich selbst und seinen Gefühlen bohrten sich seine Finger in die feuchte, angefrorene Erde; Dreck sammelte sich unter seinen Fingernägeln, seine blass gewordenen Hände wurden an den Fingerspitzen immer weißer.
Lautlose, leere Tränen rollten über Lovinos Wange herab, ohne jegliche Emotion der Trauer zu zeigen.
Lovino war nicht betrübt, gar traurig.
Die Tränen kämpften sich unbewusst durch jegliche Hemmung, die sie abzubremsen versuchte.
Lovino wollte nicht sehen, wie sich der Haufen Dahingeschiedener immer weiter auftürmte.
Lovino wollte nicht hören, wie hilflose Todesschreie als Echos durch den endlosen Wald spukten.
Lovino wollte nicht die Verwesung und das Blut riechen oder gar der Grausamkeit zu nahe treten.
Die Augen zuzwickend machte er sich klein und erhoffte sich, aus diesem Albtraum zu erwachen, dem er bei aller Mühe nicht gewachsen war. Wörter und Gelächter bohrten sich wie schattige, wellenartige Strömungen durch seine Schädeldecke, konnten nicht einmal vom Zuhalten der Ohren abgehalten werden und projizierten geisterhafte Bilder in seinem Kopf, die ihm zwar unbekannt blieben, aber ihn dennoch einem tief sitzenden Schock aussetzten, der nach und nach in Lovinos Bewusstsein hervortrat.
Mörder. Sie alle hatten Platz in diesen fremden Bildern gefunden; zeigten sie während ihrer dunkelsten Tat in einem Mantel gehüllt, der ihre Gesichter in den Schatten wie Geister verschwinden ließ. Ein Bild nach dem anderen schien auf, drängte das vorherige zur Seite und könnte beinahe mit einem Renaissance-Gemälde verwechselt werden. Messer, Schläger, Feilen, Nadeln, Glas, Tücher, Gift...schnelllebig rasten sie vorbei, überschnitten sich oder verdreckten mit dem Aufkommen eines raschen Blitzes... alles synchron mit dem Rhythmus seines Herzens. In Lovinos Ohren zischte es als würden ihm abertausende Menschen zur gleichen Zeit Geheimnisse ins Ohr flüstern, deren zukünftiger Wert jede Sekunde anstieg. Und doch verstand er kaum ein Wort.
El sufrimiento de los demandantes.
Es un ciclo de violencia que nadie puede romper.
La pena y la que no es pena, chico, todo es pena para mí.
"Haltet euer Maul, verdammt!", presste Lovino atemlos hervor, die Hände immer fester gegen den Schädel gedrückt, "Ich versteh euch nicht. Lasst mich doch in Ruhe!" Er biss sich auf die Unterlippe, den internen Schmerz unterdrückend. "Bastarde! Ihr verdammten Bastarde, ich kann ja auch nichts machen! Ich kann nicht...", seine Stimme begann zu zittern, "...es...es tut mir leid. Ich..." Er brach ab, spürte wie Hände nach seinen Armen und Beinen griffen, sie umklammerten und ihn in einen finsteren Abgrund zu ziehen versuchten. Sie rissen an seinen Gliedern, nahmen keine Rücksicht auf ihn oder sein Wohlergehen. Sie nahmen, sie taten, sie verletzten.
Lovino wollte nicht mehr.
Er wollte das Ende.
Er wollte alles und nichts.
Wer würde ihm denn helfen, wenn die ganze Welt menschenleer erschien und einzig und allein die unruhigen Seelen herumirrten?
Es konnte nicht die Realität sein. Es konnte einfach nicht.
Es musste Einbildung sein. Es musste einfach, Lovinos gesamte Welt hing davon ab.
Mit ganzer Kraft schrie er los, spürte das Vibrieren seiner kratzigen Kehle und den Druck seiner Brust. Alles sollte zerbrechen, wie Weingläser einer gewissenlosen Feierlichkeit; alles sollte zerbrechen wie eine Glasscheibe, die dem Stein zum Opfer fiel, als plötzlich Stille herrschte.
Nichts bewegte sich, die Stimmen waren verhallt.
Erschrocken riss Lovino die Augen auf, seine Hände zitterten, als sie von seinen Ohren abließen und vorsichtig die kühle Erde berührten. Lovino atmete schwer, begrüßte und genoss jeden frischen, kühlen Atemzug als wäre er minutenlang mit dem Kopf Unterwasser geblieben.
Etwas klingelte und hallte wie ein Echo durch den endlosen Wald. Es ähnelte einem Lachen. Doch anstatt fröhlich zu klingen, unterwarf es sich dem Wahnsinn, dem verheimlichten Schmerz und der Reue, deren Ursprung niemals rückgängig gemacht werden konnte.
Lovino schaute auf, erblickte ein weiteres Mal den weiten Weg der unschuldigen Leichen auf deren Thron einzig und allein eine Lichtgestalt wartete. In einem weißen Kleid gehüllt saß sie da, Blut an ihren Händen klebend und an den Rändern ihres Kleides hervorleuchtend. Ihre Haut war eins mit der weißen Farbe des Kleides, konnte weder vom Haaransatz noch vom Kleidausschnitt unterschieden werden. Um ihren Hals prangerte eine liebliche herzförmige Kette, deren Edelstein wie ein kräftiger Rubin strahlte. Lovino atmete tief ein. Ein Gesicht besaß jene Figur nicht, es verschwand in ihrer Silhouette aus Licht und zeigte daher keinerlei Emotionen. Ihr Kopf drehte sich zu dem jungen Italiener, ehe sie aufstand, einige Schritte auf ihn zuging und ihre Hand anbietend ausstreckte, als würde sie den Versuch wagen, Lovino mit einem Deal in eine Falle zu locken. Sie erschien als der Ursprung aller Gewalt, die sich hier in diesem surrealen Raum abgespielt hatte.
Von der Angst getrieben wich er zurück, bemühte sich immer mehr um Abstand zwischen der geisterhaften Gestalt und ihm, doch sie würde ihn immer wieder einholen. Was wollte sie nur von ihm? Lovino ging weiter zurück, wollte mit diesem Wesen gar nicht erst in Kontakt treten.
Ein panisches "Was willst du von mir?!"war das Einzige, was ihm über die Lippen kam, ehe er mit dem linken Fuß in einen luftleeren Raum trat, den Halt verlor und rücklings in die bodenlose Tiefe abstürzte. Ein dumpfer Schlag traf seine Brust, sein Schreien hallte durch die weite Schlucht. Die Lichtgestalt selbst blieb am Rande jenes Abgrundes stehen, beobachtete den Fall des egozentrischen Italieners in aller Ruhe.
"Dass mein endloser Neid endlich gestillt werde, das ist alles, was ich mir erhofft hätte."
***
Das schwarze Bild vor seinen Augen baute sich ab, wanderte wie ein Haufen kleiner Ameisen zur Seite und aus der inneren Stille tauchten allmählich leise Stimmen auf. Die aneinander gereihten Buchstaben, die Wörter, die Sätze...sie erreichten sein Ohr und doch fielen sie hindurch, ohne etwas zu hinterlassen wie Sand, der einem durch die Finger glitt. Sein Schädel war wie mit Watte gefüllt, der Stich am Hinterkopf ähnelte dem einer gefährlichen Filznadel. Hatte er sich etwa gestoßen?
Lovino spürte den gehobelten, hölzernen Boden unter sich; streifte die winzigen Splitter, die ihre Spitzen gen Zimmerdecke ausgerichtet hatten.
Weshalb lag er auf dem Boden?
Es dauerte einige Sekunden bis sich seine verschwommene Sicht wieder einklang und aus den wirren Farbklecksen nach und nach detaillierte, familiäre Gesichter wurden, die sich allesamt um ihn herum versammelt hatten.
"Er ist wach, Gott sei Dank...", Giorgia atmete erleichtert auf, ihrem leichenblassen Teint setzte sich wieder ein wenig Farbe hinzu. "Du hast uns einen Schrecken eingejagt, junger Mann!" Enrico stand neben ein seiner Frau, eine Hand auf ihrer Schulter habend. Auch er wirkte überrumpelt und gestresst. Wirres Zeug brabbelnd bemühte sich Lovino, sich aufzurichten, was ihm jedoch misslang. Es war, als hätten ihn alle Kräfte der Welt verlassen. Wie lange war er weg gewesen?
"Kannst du uns hören, Lovino?", erkundigte sich Enrico sicherheitshalber. Lovino nickte nur und vergaß darauf, wieder zu sprechen. "Gut. Du setzt dich jetzt auf die Seite und machst eine Pause. Leg deine Füße hoch. Du bist viel zu blass."
Im schlaftrunkenen Zustand nickte Lovino, nicht wissend, was als Wirklichkeit und was als Einbildung zählte. Ihm war diese urplötzliche Sorge der anderen völlig fremd und unbegründet, gar irritierend. Dennoch folgte er dem, was sein glücklicherweise großzügiger Boss verlangte und zerrte sich halb am Holzboden robbend an den Rand des Raumes, um kein Hindernis mehr darzustellen. Erst in diesem Moment fielen ihm seine feuchten Haarsträhnen und der regendurchnässte Mantel auf, die bereits dunkle Flecken auf das alte Holz gemalt hatten.
Ohne auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, kauerte der junge Italiener an der bemalten Zimmerwand, lauschte lediglich den Diskussionen zwischen seinem Arbeitgeber und dessen dominant erscheinenden Frau. Er selbst schien überflüssig geworden zu sein, was ihm einen unguten Druck in der Brust bescherte. Aber das, was ihm während seiner geistigen Abwesenheit vorgefallen war, rutschte immer mehr in den Hintergrund, änderte aber nichts daran, dass sich Lovino müde, erschöpft und orientierungslos fühlte. Dass sein sonst braungebranntes Gesicht immer noch von kränklicher Blässe überzogen war, merkte Lovino jedoch nicht von selbst.
"Der Junge soll mehr essen, sonst passiert ihm das wieder! Er ist viel zu dünn! Ich mach ihm sofort etwas." Giorgia stemmte die Arme in die Hüften und war bereits kurz davor, Enrico mit Lovino zurückzulassen, als ihr Ehemann sie plötzlich zurückhielt. "Er wird nicht sofort ein ganzes Buffett runterschlingen können, Schatz, das liegt nur schwer im Magen. Er soll klein anfangen und erst einmal zu Kräften kommen." "Also schlägst du mir vor, dass ich ihm nur ein trockenes Stück Brot gebe, oder was?" Giorgia fühlte sich in ihrer versuchten Gastfreundlichkeit sichtlich eingeschränkt, wusste aber, dass ihr Mann als Experte in diesem Fach gute Ratschläge gab. "Brot passt gut, aber nimm noch ein Glas Wasser mit. Vielleicht lag es bei ihm an Dehydration." Giorgia gab sich geschlagen, seufzte auf und ließ die Arme von den breit gebauten Hüften sinken. "Du hast recht. Aber sollten wir nicht zuerst Lovino fragen, ob ihm das überhaupt recht wäre? Wir reden und entscheiden über ihn, als wäre er nicht da." "Das stimmt. Aber zur Sicherheit können wir Vorkehrungen treffen."
Wo Giorgia recht hatte, hatte sie recht. Enrico nickte nachgiebig mit dem Kopf. Ungeachtet Lovinos Bedürfnisse hatten sie bereits über ihn entschieden, ohne sich nur einmal um ihn zu kümmern oder nachzufragen. Dennoch gälte es als das Klügste, seinem ärztlichen Instinkt nachzugehen und zumindest vorzusorgen, obgleich Lovino die Hilfe annähme oder nicht.
Enrico kniete sich neben dem fast vergessenen Mann zu Boden, behielt die rechte Hand auf dem linken Knie und erkannte neben der kranken Blässe auch den Grauschleier an Lovinos Lippen. Ein großzügiger Schluck kühlen Wassers könnte bereits aushelfen, doch zunächst war es wichtig, nachzufragen, ob Lovino an Beschwerden litt. "Hast du Schmerzen, Lovino?"
Völlig wirr und zerstreut sah der Befragte auf, einige dunkle Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Den Mund öffnend bemühte sich, die Frage zu beantworten; heraus kamen aber lediglich unregelmäßige Brabbellaute. Auf sich selbst wütend blieben Lovino also lediglich Gesten zur Kommunikation übrig.
Er schüttelte den Kopf.
Schmerzen hatte er keine oder er spürte sie noch nicht.
Jedenfalls verlangte sein Körper nichts außer Nahrung und Wasser. Vielleicht wäre das Angebot Giorgias doch nicht so schlecht gewesen.
Enrico fuhr fort. "Gut, zumindest können wir das ausschließen. Dennoch wirst du einige Zeit rasten müssen, bevor du wieder bei der Arbeit mitanpacken kannst", der Fachexperte sah zu den Aufzeichnungen auf Lovinos Schreibtisch, die kreuz und quer verteilt lagen, "Sag, was hat dich eigentlich dazu gebracht, auf einmal ohnmächtig zu werden, wenn ich fragen darf?"
Lovinos Augen weiteten sich.
Was ihn dazu gebracht hatte, ohnmächtig zu werden? Woher sollte er das denn wissen? Es geschah so plötzlich, dachte Enrico etwa, dass sich Lovino seiner Psyche bis aufs kleinste Detail bewusst war? Er konnte nicht von ihm erwarten, für alles, was ihm widerfuhr, eine Erklärung parat zu haben. Lovino unterdrückte ein Schnaufen. Nichtsdestotrotz blieben ihm die Gründe für sein Verhalten in diesem Fall mehr als bekannt, doch für Lovino kam es nicht in Frage, Enrico darüber in Kenntnis zu setzen. Ihr Verhältnis zueinander mochte zwar gut sein, aber man konnte nicht einschätzen, inwieweit Lovino Enrico vertrauen konnte. Er war immerhin sein Vorgesetzter und dieser sollte wenn möglich nicht von seinen peinlichen Ängsten erfahren, die ihm insbesondere in der letzten Zeit das Leben schwer machten. Wenn er nur daran dachte, dass er sich erneut zum Affen gemacht hatte, indem er keine drei Sekunden, nachdem er die Praxis betreten hatte, auf den Boden geknallt ist und in eine Ohnmacht fiel, nur aufgrund eines einzigen Stressfaktors.
Lovino war ein Weichei.
Lovino war ein Schwächling, der kein Blut sehen konnte.
Lovino war kein richtiger, starker Mann.
Diese Worte hätte er sich von den meisten männlichen Bewohnern dieser Stadt erwarten können.
Um seinem Boss aber endlich eine Antwort liefern zu können, zuckte Lovino ausschließlich kurz mit den Schultern. Im Endeffekt konnte dies nicht einmal als Lüge zählen, da er die genaue Ursache für seine Ohnmacht selbst noch nicht verstand.
Ein unzufriedenes Lächeln setzte sich auf Enricos Gesicht. Womöglich hätte er sich eine andere Rückmeldung erhofft, die ihm Lovino verschwieg. Doch gerade als Enrico den Mund öffnete, um erneut eine Frage zu stellen, kam Giorgia mit Brot und Wasser zurück, was Lovino gerade recht kam...
***
Wie das stetige, unendliche Ticken einer Uhr vergingen die Stunden, die Tage sowie Wochen. Ähnlich eines Wimpernzuckens wurde der Morgen zur Nacht und die Nacht wiederum zum Tag. Ein Zeitgefühl hatte sich bei Lovino seit längerem verabschiedet und sein Alltag blieb von der Arbeit geprägt und vorgeschrieben. Müdigkeit verfolgte ihn seit längerem und das schwüle Juliklima bereicherte seine ohnehin miese Stimmung keineswegs. Den gesamten Tag hindurch überraschten ihn plötzliche Gähner und der Wille, sich einfach mit dem Kopf auf den Tisch zu stützen und einzupennen.
Es war nicht so, als würde Lovino nicht wissen, woher seine liebste Todsünde, die Trägheit, kam. Ruhelose Nächte nagten an seinem Verstand und beeinträchtigten sein Leben schwerwiegend bis zu dem Punkt, an dem es ihm sogar schwerfiel, nachts ein Auge zuzudrücken.
Jeden Abend würde es ihm eine Gänsehaut über den Körper jagen.
Jeden Abend würde es ihm den Hals zuschnüren.
Jeden Abend würde seine Sorge wie ein Schmarotzer wachsen, ihn wie einen Stein erdrücken, bis es ihm unmöglich erschiene, diese Last alleine zu tragen.
Seit er jenen Vorfall im Wald mit eigenen Augen ansehen musste und ihn die Albträumen seiner Ohnmacht tagtäglich konfrontierten, wandelten sich immer mehr Aspekte ins Schlechte und dies wirkte sich allmählich auch auf seine psychische und physische Verfassung aus. Er fühlte sich verletzlicher und reizbarer als üblich.
Gähnend ließ er sich also auf seinen Stuhl neben dem Schreibtisch fallen, würdigte die halbfertigen Skizzen von Enricos neuen Anatomiestudien keines Blickes. Der Querschnitt eines Frosches war ohnehin nicht gerade appetitlich und noch dazu unzureichend gezeichnet. Lovino hätte gerne mehr von sich erwartet, hätte am liebsten dieselbe artistische Stärke wie sein kleinerer Bruder Feliciano. Dieser hatte ihm wenige Tage zuvor einen Brief zustellen lassen, in dem der Dussel darüber schwärmte, wie viele neue Malutensilien und Techniken er bei seiner Lehre in Venedig kennenlernen durfte. Neid entfachte in Lovinos Brust und schickte einen negativen Putsch in seine Adern, als er den Brief las. Am liebsten wäre Lovino auch in so eine schickimicki Stadt gegangen, um einen anständigen Beruf zu erlernen wie sein Bruder, aber sein Großvater schien seinen Lieblingsenkel mal wieder bevorzugt und ihm ein größeres Budget ermöglicht zu haben, anstatt die Ersparnisse der letzten Jahre gerecht aufzuteilen.
Lovino stützte den Arm am Tisch ab und legte seinen Kopf an seine Hand. Vielleicht war Großvaters Entscheidung auch die bessere gewesen. Wenn Feliciano das nötige Talent dazu hatte, in einer berühmten Stadt wie Venedig Erfolg zu haben, dann sollte es eben zu sein. Dennoch hegte Lovino einen Groll gegen seine Familie, da ihm die Chance, im kulinarischen Bereich aufzusteigen, verwehrt wurde, um jemand anderes Wunsch zu erfüllen. Herumjammern und in Selbstmitleid versinken war Lovinos beste Stärke und niemand könnte ihm hierbei das Wasser reichen. Er war eben von Geburt an ein sehr egozentrischer, eigenbrötlerischer junger Mann, der es schon erwartete, aufgrund seiner erfüllten Todsünden Superbia, Avaritia, Ira, Gula, Invidia und Acedia - Hochmut, Habgier, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit - eines Tages vor den Toren der Hölle zu schweben. So würde es zumindest sein gläubiger Großvater beschreiben, wenn Lovino sich mal wieder vor seinen Augen vor der Arbeit drückte und ausschließlich mit seinem nimmersatten Magen dachte.
Lovino rümpfte die Nase. Die generelle zweite Wahl zu sein war die eine Sache, sich selbst in eine weniger günstige Position zu rücken die zweite. Das Klischee besagte, dass mittlere Kind leide am meisten an der geteilten Aufmerksamkeit, da es weder das geliebte Nesthäkchen, noch der stolze Älteste war, dennoch war es Lovino, der älteste seiner Geschwister, der meistens den Kürzeren zog, während der ältere seiner zwei kleinen Brüder das meiste Glück besaß. Die Anforderungen als Vorbild für die jüngste Generation verringerten sich jedoch nicht und der umweltliche Druck stieg weiterhin an. In Lovinos Vergangenheit war das so lehrreiche, ausgleichende Spiel mehrmals unterbunden worden, allein um als Vorzeigeprodukt dazustehen. Und doch war er auch für diese Rolle unzureichend...
Gerade deshalb, weil er sich zu weinerlich und empfindlich gegenüber verschiedene Dinge zeigte, deren versteckter Unterton der Gewalt gehörte.
Sei es auch nur das Schlachtvorgehen eines Haushuhnes gewesen.
Ein Blick aus dem Fenster verriet dem jungen Italiener, dass die goldene Stunde anbrach und von nun an neben den lichten Schatten der Sonne auch seine Arbeitszeit allmählich zu Ende ging. Endlich, schoss es ihm durch den Kopf, dann könnte er sich vielleicht mal ausgiebig ausruhen, immerhin kündete das Datum bereits das Wochenende an. Trotz des guten Willens, den er sich durch die freien Tage erhoffte, wusste Lovino, dass auch diese ihm keinen Funken Glückseligkeit oder Ruhe ermöglichten.
Der Schock im Wald sowie seine angsteinflößende Vision hatten ihn weiterhin fest im Griff.
Täglich betrat dieser Gedankengang sein Bewusstsein, verstärkte die Last an seinen Schultern und löschten den kleinsten Funken Hoffnung wie das Glimmern einer Kerze. Lovino war es bewusst, dass ihm der Stress und die Belastung eines Tages zu viel werden würde, dass er irgendwann daran verbitterte, wenn er seine Sorge weiterhin herunterschluckte und weder aufarbeitete oder reflektierte.
Aber...wie sollte er damit beginnen?
Wie käme er mit seiner eigenen Geschichte zurecht?
Wäre es vielleicht idealer, jemanden in seine komplexe, verwirrte Welt einzuweihen, in der Hoffnung, dieser jemand könnte verstehen?
Immer mehr Unsicherheit spross in Lovinos Seele, wuchs mit allmöglichen Zweifeln und Ängsten heran und schlug weiterhin feste Wurzeln, die es umso schwerer machten, sich davon zu befreien.
Seine Beine begannen unruhig während des Sitzens zu wippen.
Seine Brust wurde immer schwerer, wirkte wie zerdrückt.
Er presste seinen Fingernagel leicht in die Fingerspitze seines Daumens.
Lovino musste jemandem seine Sorgen anvertrauen, sie würden ihm ansonsten außer Kontrolle geraten und ihn davon abhalten, eine innere Katharsis, eine innere Freiheit aller Spannungen, zu finden.
Die Frage war nur, in wen er genug Vertrauen setzte. Er hatte in den wenigen Wochen, die er in dieser Stadt verbrachte, kaum soziale Kontakte geknüpft, es sei denn es waren Bekanntschaften mit Verkäufern, dem Pfarrer, den Bekannten seines Opas, Nachbarn oder der Familie seines Arbeitgebers.
Im Endeffekt war Lovino alleine geblieben, hatte seinen Anschluss verpasst, sich Freunde zu suchen, die ihm in so einer Situation hätten helfen können. Er hatte sich dieses Unglück selbst verschuldet, daher wunderten ihn die Konsequenzen keineswegs.
Lovino knallte mit dem Kopf absichtlich gegen den Schreibtisch der kleinen Praxis. Wann war dieser beschissene Tag endlich vorbei? Es käme ohnehin keiner mehr vorbei, es bahnte sich bereits der Abend an. Seine Ungeduld brachte ihn eines Tages bestimmt um.
Die Zeiger der Standuhr aus teurem, dunklen Holz tickten und sprangen fortgehend auf die nächste Ziffer.
Tick-Tack, Tick-Tack.
Lovino imitierte das Geräusch mit seinem Zeigefinger auf der Arbeitsfläche.
Nur noch fünf Minuten, dachte er, dann könnte er sich endlich aus diesem stickigen Raum verpissen.
Aus diesem Grund sammelte er schleunigst das Durcheinander seines Platzes zusammen, brachte wieder ein bisschen Ordnung in seine Ecke, um zumindest von außen einen guten Eindruck zu machen. Einmal lag eine misslungene Skizze am Boden und dann hatte Enrico seine eigenen Ergebnisse widerlegt, die vorherigen Aufzeichnungen wurden nutzlos und die Blätter lagen über den halben Tisch verstreut. Lovinos Ordnung ließ oftmals zu wünschen übrig, aber glücklicherweise erinnerte er sich täglich daran, zumindest alles zusammen zu sammeln.
Kaum hatte er das letzte Stück Papier vom Boden entfernt, fiel sein Blick auf die Stelle, an der er vor Kurzem noch ohnmächtig am Boden lag...einen Albtraum durch den Geist spuken habend. Heißes Blut strömte in Wahnsinnsgeschwindigkeit durch seine Adern, zeigte sich als roter Teint an seinen Ohren, Wangen und der Nase, als er an die Peinlichkeit dieses Ereignisses dachte. Er war einfach so vor den Augen seines Chefs umgefallen wie ein Sack Mehl. Was hätten wohl andere davon gedacht, wenn sie zufälligerweise den Laden zur selben Zeit betreten hätten? Lovino wollte es sich gar nicht erst ausmalen. Er spürte bereits genug Scham, er bräuchte nicht noch mehr Bedenken.
Auf einmal gab es ein helles Bimmeln und die Ladentür öffnete sich. Dass jemand kurz vor Ladenschluss noch hereinplatzen musste, ging Lovino dezent auf die Nerven. Er hoffte, dass im Anschluss keine Menschenseele mehr auf die Idee kam, am aktuellen Tag einen Fuß in die Praxis zu setzen.
"Hola, Lovi!"
Oh stimmt, Toni gab es ja auch noch. Er hatte total auf den vergessen. Lovino nahm einen großen Atemzug, zeigte das letzte Fitzelchen Arbeitsbereitschaft und drehte sich lustlos zu dem brünetten Lockenkopf. Immerhin hatte dieser schon wieder seine geliebte Melancholie zerstört und lächelte dümmlich wie immer. Diese ganze Positivität, die er ausstrahlte...Lovino könnte kotzen. Ein dummer Optimist in seinem Leben war genug, Antonio sollte ja nicht Feliciano den Platz für die nervigste Person des Jahres streitig machen. Lovino musterte den jungen Mann von oben bis unten. Es sah nicht so aus, als hätte er einen nennenswerten Grund hier zu sein und seine Haare ähnelten mehr einem randalierten Vogelnest als einer gepflegten Frisur. Es sah so schlimm aus, dass Lovino einen Lacher zurückhalten musste.
"Oh, du bist es. Ich dachte es ist jemand Wichtiges...", ein verschmitztes Grinsen konnte er nicht unterdrücken.
"Ach, heute sind wir aber mal wieder sehr freundlich unterwegs, ich seh schon." Antonio nahm das Ganze mit Humor und seine Mundwinkel zuckten dabei ein wenig nach oben. "Du bist mir echt immer wieder ein Chameur. Jedes Mal, wenn wir uns sehen." Nun bemerkte auch er seine zerzauste Frisur und zupfte sie zurecht. Scham kam dabei kein bisschen auf und Lovino ließ sich auf das spielerische Beleidigen ein. Es machte ihm Spaß und der Spanier schien auch nicht abgeneigt zu sein. Die kleine Positivität im Alltag wirkte sich zudem positiv auf seine Laune aus.
"Natürlich, sowas liegt mir halt im Blut. So wie es dir im Blut liegt, einmal an einer Fliege zu ersticken, wenn du immer so viel redest. Aber Spaß beiseite...Was brauchst du?"
Da leuchteten die smaragdgrünen Augen Antonios für einen kurzen Augenblick im dämmernden Abendlicht auf, zeigten sich mit all ihren Farbprachten und Schatten. Hatte Antonio schon immer diesen kleinen braunen Ring um seine Pupille?
"Eigentlich bin ich nur hier, um zu fragen, wie es dir geht", der Spanier kratzte sich nervös am Hinterkopf, entzog sich dabei so gut es ging seiner Anspannung, "Und ich wollte für meinen Nachbar etwas gegen Ausschläge mitnehmen."
Na bravo, schoss es Lovino durch den Kopf und er verschränkte die Arme vor der Brust, die Augenbraue hebend. "Sonst noch was?"
Der Spanier überlegte nicht lange und schüttelte unschuldig den Kopf. "Nö. Das wäre alles."
"Alles klar...", nuschelte Lovino vor sich hin, begab sich zu den vielen Regalen hinter sich und suchte sich das Passende heraus, "Also zu der Frage wie es mir geht: Ich fühle mich super, es ist immerhin auch gar nichts passiert in der letzten Zeit..." Seine Stimme wurde immer höher und übertrieben fröhlicher, und der Sarkasmus triefte aus jedem einzelnen Wort wie Honig aus seinen Waben heraus. Allein aus seiner Stimmlage müsste Antonio bereits bemerken, dass Lovino ihm direkt ins Gesicht log, doch dieser weigerte sich, etwas daran zu bemerken. Auf einmal fehlten ihm die passenden Worte, um weiter auf Lovino einzugehen und er entschloss sich wortlos auf den anderen zu warten.
Die abweisende Haltung des Italieners verhieß nichts Gutes, das erkannte Antonio zu gut. Dass er sich bei einer solch sarkastisch gemeinten Rückmeldung natürlich sorgte, war ebenfalls nichts Neues, aber daran etwas ändern zu können, blieb eine fast unmögliche Option. Wenn Lovino nicht dazu bereit war, seine Welt mit ihm zu teilen, dann würde Antonio ihn nicht dazu zwingen, es zu tun.
Daher nahm der Dreiundzwanzigjährige lediglich die Ware entgegen, die er keine Sekunde später vorgesetzt bekam. "Okay...Danke." Dezent verletzt schob er die richtige Anzahl italienischer Lire hin, überspielte seine Unzufriedenheit jedoch mit einem schiefen Lächeln.
"Kein Ding", Lovino legte die linke Hand auf das Geld, zog es zu sich und beobachtete wie Antonio sich langsam, aber sicher dem Ausgang näherte. Für den Augenblick hielt er inne, nahm seine Umwelt viel stärker wahr.
Wie das Papier seine Fingerspitzen streifte...
Wie der Duft von getrockneten Kräutern und Alkohol aus dem letzten Winkel strömte...
Wie die Stimmen vom Marktplatz durch das gekippte Fenster hereinplatzten...
Dann traf es ihn wie ein Blitz, sein Herz verharrte für einen Augenblick in seiner Starre und die plötzliche Erkenntnis erleuchtete seine verschlafene, trostlose Welt.
Noch wenige Minuten zuvor meinte er, er hätte niemanden, dem er seine Sorge mitteilen könnte.
Niemanden, der zumindest versuchen würde, ihn zu verstehen.
Niemanden, dem er gut genug vertrauen könnte.
Doch gerade jetzt hätte ihm jemand jene Interesse gezeigt und Lovino schob Antonio ironischerweise zur Seite, dabei war er der Einzige, dem er am ehesten vertrauen konnte...
Immerhin erlangte er bereits Einblick in Lovinos inneres Chaos als sie sich auf der Straße trafen.
Lovino wollte schon etwas sagen, Antonio davon abhalten zu gehen, doch er schaffte es nicht.
Seine Lippen blieben versiegelt.
Seine dringende Bitte verblieb unausgesprochen.
~0~
Nun ist auch Kapitel 5 zu Ende gegangen und die Lage spitzt sich schrittchenweise zu. Ich hoffe, euch gefällt die Story bis jetzt. In den nächsten Kapiteln werden weitere Charaktere vorgestellt werden, die mehr mit dem Hetalia Universum zu tun haben.^^
Ich werde womöglich alle 5 Kapitel eine kleine "Author's Note" wie diese einbauen, um ein wenig mehr Interaktivität einzubauen.
1. Habt ihr Feedback für mich? Gibt es Verbesserungsvorschläge?
2. Wie denkt ihr, wird es weitergehen?
3. Was sind so eure Gedanken zu Lovinos Traum?
Ich bedanke mich jetzt schon einmal fürs Lesen der ersten 5 Kapitel! ^^
Over and out
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