Kapitel 4 - Traumschreck und leblose Gesichter
Dunkelheit.
Kälte.
Bodenlose Tiefe.
Ein endloses Nichts erstreckte sich rund um den wehrlosen, fallenden Körper.
Der letzte Lichtstrahl wurde schwächer, wurde von der nimmersatten Finsternis verschluckt. Egal wie stark er sich auch bemühte nach dem Licht zu greifen, mit den Beinen zu strampeln und sich von seinem tiefen Fall zu lösen, er besaß nicht die nötige Kraft dazu. Verzweifelt schrie er aus voller Kehle, konnte aber weder seine eigene Stimme hören noch seine Stimmbänder vibrieren spüren. Ewiglich verfolgte ihn die endlose Weite; zwang ihn dazu jegliches Zeit- und Ortgefühl zu verlieren. In seiner Brust pochte es stätig und leise. Er wurde schwerelos, als sänke man in ein tiefes, dunkles Meer. Die Augenlider ermüdeten; sie taten sich schwer offen zu bleiben. Sie verloren den Kampf gegen das erzwungene Wachbleiben und fielen wie die Regentropfen des bewölkten Himmels zu. Unvermutet fand er sich auf einmal auf einen steinernen Platz wieder. Seine Finger streiften die alten, abgeschliffenen Pflastersteine und deren Spalten. Sein Kopf war gen Himmel gerichtet und sein Rücken hielt der Unebene des Bodens stand. Schwindel überfiel ihn, gefolgt von Kopfschmerzen, die gegen seine Schädeldecke bohrten und jegliche Konzentration hemmten.
Mit abdriftender Aufmerksamkeit bemerkte er den blutroten Himmel über sich, der nur von wenigen Wolken verdeckt wurde. Je länger er in das friedliche und doch bedrohliche Himmelszelt starrte, desto mehr malte sich der Ort in der ehemaligen Finsternis aus. Häuser erschienen verschwommen um ihn herum, Menschen deren Gesicht nicht erkennbar war und Worte, die nichts weiter als ein Wirrwarr an Nonsens bedeuteten, fügten sich nach und nach hinzu. Es wirkte wie ein altes Aquarellgemälde, dessen Inhalt durch das Verschütten eines Wasserglases nur mehr vage erkennbar war. Er saß sich auf, warf einen verlorenen Blick umher, der in einer furchterregenden Realisation endete.
Er kannte diesen Platz, hatte ihn sich mit all dem Schrecken eingeprägt.
Herzrasen suchte ihn heim, ein Rauschen in den Ohren übertönte die abgedämpften Schreie. Einst stille Tropfen wurden zu lauten Wasserfällen, aus dem fließenden Wasser, das über den Platz hinweg eilte, wurde kaltes, klebriges Blut, das sich in die Erde der Welt bohrte und den leblosen Boden mit dem Leben anderer nährte.
Verzweifelnd nach Luft schnappend, wich er nach hinten, blieb aber wie gefesselt an Ort und Stelle stehen. Sein Hals schnürte sich zu; er bekam keine Luft mehr. Ein Schauer nach dem anderen quälte seine arme Seele und brachte den verwundbaren Körper ins Zittern. Er wollte seine Augen nicht öffnen. Wohl wissend, was sich vor ihm abspielte und welch Wahnsinn ihn erwartete.
Er wollte nicht hören.
Er wollte nicht sehen.
Er wollte nicht fühlen.
Der Schrecken der Kindheit verfolgte ihn seit jeher. Sie hielt ihn zurück und schliff ihn wie einen Diamanten in die heutige unveränderliche Form. Jene Hinrichtung, sie solle aus seinem Kopf, seinem Leben, verschwinden.
Auf die Knie sackend hielt er sich die Augen zu, schrie sich vergebens die schmerzende Seele aus dem Leib, in der Hoffnung, diesem Albtraum zu entfliehen.
Blut, Leid und Tod.
Es drängte ihn in den Schlund der Finsternis.
Eine Finsternis, ohne Rückkehr ins Licht.
Eine Finsternis, ohne Wärme.
Eine Finsternis, ohne Hoffnung.
Er fürchtete sich davor, wollte dem allen entfliehen.
Der Boden unter seinen Füßen wurde dünner, löchriger und zerfiel nach und nach in seine Einzelteile. Die Welt, in der er sich befand, stürzte ein und begrub ihn unter ihren Lasten. Er gäbe auf, ließe sich von der Tragödie übertrumpfen und leiten, als sich eine Stimme unter dem Chaos hervorhob und eine Hand sich ihm helfend und in Licht gehüllt entgegenstreckte. In seiner Verzweiflung verloren griff er nach jener Hand, konnte sie aber weder berühren noch sich in Sicherheit schwelgen. Geisterhaft durchdrangen seine Finger die transparent gewordene Hand und war plötzlich in der Schwerelosigkeit gefangen, bis auch der letzte sichere Pflasterstein nachgab und ihn ein weiteres Mal durch die unendliche Tiefe fallen ließ...
Blitzlicht.
Gierig nach Luft schnappend riss es Lovino aus dem Schlaf, schubste ihn binnen Sekunden in den helllichten Morgen und wusch den nächtlichen Schrecken wie eine hin- und herschwankende Welle aus seinem Bewusstsein. Sein Blick war gen Decke gerichtet; er selbst blieb regungslos am Rücken liegen...nichts fühlend, nichts denkend, nichts sprechend. Unbewusst hob und senkte sich seine Brust, die immer mehr nach der frischen, kühlen Morgenluft begehrte, die durch das geöffnete Fenster eingedrungen war. Lovino griff sich gedankenverloren an die Stirn und spürte die frischen, salzigen Schweißtropfen an seinen Fingerspitzen. Er musste wohl trotz der stetigen frischen Luft geschwitzt haben.
Orientierungslos streifte sein Blick durch das sacht durchleuchtete Zimmer und inspizierte jede einzelne Ecke, die Angespanntheit unter der Haut habend. Er erwartete einen weiteren Schrecken, irgendetwas, das ihn völlig aus der Fassung bringen könnte, allerdings gab es, außer ihm selbst, nichts annähernd Lebendiges in der winzigen, zusammengepferchten Wohnung.
Erleichtert seufzte Lovino auf, zerrte sich aber regelrecht aus dem Bett, das er am liebsten gar nicht erst verlassen wollte. Wenn er könnte, bliebe er bis zum Nachmittag dort drinnen eingekuschelt. Zumindest stünde das Wochenende an, was bedeutete, dass ihm zumindest einmal ausschlafen gegönnt war.
Vom Schlaf benommen griff er nach seinem Hemd und der Hose, die er beide am Vorabend lässig über den Stuhl geworfen hatte, zog sie an und strich sich noch einmal durch das verschwitzte Haar, ehe er routinemäßig sein Zimmer verließ und sich die nächstbeste Bassena im Flur suchte. Die glatten Fliesen überraschten seine bloßen Füße mit ihrer nächtlichen Kälte und die langgezogenen Risse an der Wand machten besonders am Morgen einen schäbigen, alten Eindruck. Auch die einzelnen Teppiche aus zusammen geflochtenen Stoffresten zeigte die Einfachheit dieses billigen Wohnhauses auf.
Ein Städter von gutem Hause dächte darüber nach, diese Ausstattung als äußerst unterdurchschnittlich und inakzeptabel zu bewerten. Lovino aber, erinnerte es an sein Zuhause am Land.
Der alte Hof mit dem herabblätternden Putz...
Die knarzenden Stiegen, bei denen man sich allzu leicht einen Splitter abholte...
Die schlichten, bunten Teppiche, die es schon aus Großvaters Kindheit gab...
Lovino betrachtete diese Nostalgie mit bittersüßem Zwiespalt.
Wenigstens staute es sich am Morgen eher weniger in den Gängen, denn es gab in diesem Stockwerk gerade mal zwei Bassenas, die als einziger kleiner Wasseranschluss für alle Bewohner galten und der Ansturm käme erst in einer halben Stunde.
Das eisige Wasser weckte Lovino endlich auf, als es ihm den letzten Schlaf aus den Augen spülte und den unangenehmen Schweiß zunichte machte. Die Kälte umarmte sein Gesicht, malte eine kurzweilige, fleckige rote Farbe an seine Wangen, Nase und Kinn. Der Italiener wischte sich das Wasser von den Augen und trocknete seine Hände rasch am Oberschenkel ab. Sein weiterer Weg führte ihn zurück in seine enge Wohnung; die Zahnpflege würde er nachholen, nachdem er sich die Haare gekämmt hatte.
Also öffnete er in aller Ruhe die Tür, ging auf das geöffnete Fenster zu und schloss es, ohne einen Mucks von sich zu geben, als er plötzlich stockte und in der Bewegung innehielt.
Er konnte sich nicht daran erinnern, nachts das Fenster geöffnet zu haben. Die Mücken störten ihn jedes Jahr und die Unachtsamkeit, durch ein geöffnetes Fenster im Erdgeschoss in einer Stadt wie dieser umzukommen, wäre gar nicht seine Art gewesen.
Weswegen stand es dann sperrnagelweit offen, als er die Augen aufschlug?
Lovinos Herz klopfte, sein Hals schnürte sich zusammen.
Zählte dieser Verdacht als ein Zeichen seiner blühenden Fantasie oder spielte tatsächlich eine fremde Macht seinen Teil in der weit verzweigten Baumkrone des Lebens.
"Aber pass auf dich auf, verstanden?"
Antonios Worte schlichen sich spontan in seinen Kopf, erinnerten ihn an den Schwur, den er am Vortag halbherzig an den Spanier weitergab. Falls sich die schlechteste Option für ihn erübrigte, dann bräche sein Versprechen nach keinen vierundzwanzig Stunden.
Lovino schnellte den Kopf zu jeder Ecke, zu jedem Spalt, unter dem sich ein Mensch hätte verstecken können, unterlag der inneren Unruhe und verlor gegen seine eigene Angst. Er hatte sich von seinen Zweifeln einholen lassen.
"Nichts...", flüsterte er nach einer Weile und seine Muskeln entspannten sich, als er sich versichern konnte, dass zumindest in diesem Raum niemand sein konnte, der ihm ansatzweise etwas antuen würde. Dennoch vermerkte er die Gegebenheit als äußerst suspekt.
Prüfend beäugte er die Scharniere und Espagnolette des Fensters und bemerkte die kleinen, aber eindeutigen Kratzer und Abnutzungen sowie die verbogene Stellung des Riegels, die sich eindeutig vom Vorabend unterschieden.
Lovino zog angestrengt die Augenbrauen zusammen, suchte in seiner kleinen Wohnung weiterhin nach fremden Indizien und unterdrückte jede noch so kleine Äußerung von Angst. Die Neugier - sie war eine seiner größten Schwächen - überwog seine zurückgeschreckte Haltung, zwang ihn wie ein Tier dazu trotz eines Risikos weiter herumzuschnüffeln und ließ ihn unvorsichtig werden.
'Aber pass auf dich auf, verstanden?'
Diese Worte hatten jegliche Bedeutung verloren.
Sie wurden vom endlosen Nichts verschluckt.
Sie waren in Vergessenheit geraten.
Nichts stellte sich zwischen der Neugierde des Italieners und dem Drang zur Wahrheit, der ihn weiterhin antrieb, ziellos in der Wohnung herum zu taumeln.
Doch egal wie intensiv er auch suchte, er fände keine weiteren Spuren als die demolierte Espagnolette. "Scheiße...", Lovino sah im Augenwinkel auf die alte Taschenuhr, die sich neben ihm auf dem dunklen Tischchen befand. Er hatte keine Zeit mehr, weiterhin herumzutrödeln oder seine Zeit mit wahllosem Herumgeirre zu verschwenden, die Arbeit rief und fehle er auch nur einen Tag würde es schwer werden, seine letzten Schulden zu begleichen. Den grauen, hässlichen Mantel warf er sich geschwind über sich und in die Schuhe stolperte er nur hinein.
Ohne einen Blick zurück zu werfen schloss er die nicht-geölte, quietschende Tür hinter sich und setzte sein Zimmer trotz aller Gefahren der Herrenlosigkeit aus.
Dass sich allerdings ein simples Objekt nicht mehr an seinem Platz befand, sondern in die Hände anderer gelangte, bemerkte Lovino jedoch nicht...
***
Leise prasselte der Regen auf die Häupter der Menschen herab, entfloh verloren den dunkler gefärbten, feuchten Strähnen. Jeder Schritt erschuf winzige Wellen auf den hauchzarten Wasserfilm der Straße und stieß Tropfen wie eine Schleuder zur Seite. Wer genug Geld besaß, leistete sich einen Regenschirm für solche Tage. Andere wiederum verließen sich voll und ganz auf die gut sitzende Kopfbedeckung aus Filz. Jene, die weder das eine noch das andere besaßen quälten sich fortlaufend durch den Himmelsvorhang, mit dem Risiko, von Krankheiten heimgesucht zu werden.
Lovino nieste, wischte sich rasch mit dem Handgelenk über die Nase und versteckte seine Hände unter der dünnen Jacke, die er von seiner Heimat mitgenommen hatte. Obwohl sein Verdienst halbwegs stabil und ausreichend war, um seine Lebensgrundlagen aufzustocken, war es immer noch zu wenig, um aus der Armut auszubrechen. Seine Gedanken schweiften um seine alte Taschenuhr und den einzelnen Familienerbstücken, die er mit sich trug. Es wäre eine Option, sie zu verkaufen und sich darum ein besseres Leben zu leisten, brächte Lovino es übers Herz, die wenigen Reichtümer seiner Familie herzugeben. Es erschiene ihm als herzlos jene Artefakte ohne Scheu frei zu lassen als wären sie eine alltägliche Ware wie Mehl oder Salz. Anders als Lebensmittel verbargen sie eine lang verknüpfte Geschichte, eine Erinnerung, die weit zurück reichte und feine Stränge zu ihren Besitzern zog. Gäbe er sie her, fühle es sich an, als würde er seine Familie und alles, was sie durchlebte, fallen lassen, um sich seiner selbstsüchtigen Wünsche Herr zu machen.
Wieder nieste er. Lovino sollte schleunigst bei Enrico ankommen, bevor er wie ein nasser Hund vor seiner Tür stünde und den Holzboden mit dem herabtropfenden Wasser ruinierte.
Die morgendliche Katzenwäsche hätte er sich mittlerweile sparen können.
Seine Augen waren träge und schmerzten, ein mieses Stechen, das sich wie eine Nadel in seine Schädeldecke rammte, und der zugeschnürte Hals begann böse zu kratzen.
Wenn er doch nur nicht so ein knappes Budget übrig hätte, dann wäre Lovino liebend gern umgekehrt und hätte sich bei der kleinsten Magenverstimmung krank gemeldet...
Leider blieb ihm nichts anderes übrig, als sich durch den letzten Tag vor dem Wochenende zu beißen.
Dumpfe, klare Töne wurden durch die Luft geworfen, schlugen mit ihrer Schwere gegen die Ohren und hinterließen dabei ein deutliches Pochen im Kopf. Er spürte die Schallwellen in seinem ganzen Körper, von Kopf bis Fuß; sie drangen durch jede Ader, durch jede Faser. Ein helles Bimmeln und ein schwerer Schlag, beides hallte von den wild läutenden Kirchenglocken in die Welt hinaus. Es waren die Totenglocken, die jene bittersüße Melodie von sich gaben. Womöglich luden sie die Menschen zur Andacht ein, um für ihre verstorbenen Liebsten zu beten.
Lovino dachte an Marco, den Priester, der gutmöglich gerade vor seinem Quarzaltar stand und eine Predigt nach der anderen herunter sprach. Die trauernden Gesichter, der Schmerz, der in den Herzen Angehöriger klaffte...Lovino mochte sich gar nicht erst vorstellen wie bedrückend es als Kleriker sein muss, dauernd mit dem Tod anderer und dem Elend der Hinterbliebenen konfrontiert zu sein.
Wenn er an seine frühe Jugend zurückdachte, fiel ihm ein, dass er es kaum verkraftete, wenn eines der Bauernhoftiere starb, wenn er es doch keine zwei Stunden zuvor noch gestreichelt hatte. Er war eine verdammte Heulsuse, deren Gefühle er hinter einen Teppich der Unterdrückung und des Überspielens kehrte, dessen war sich Lovino bewusst. Seit Jahren vergoss er keine Träne mehr, sammelte jede noch so kleine missgünstige Lage in seinem Seelengefäß, um nicht dem Spott der Leute ausgesetzt zu werden.
Worte wie "Reiß dich zusammen, du bist ein Mann", "Ein wahrer Mann heult nicht rum" und "Weicheier haben in dieser grausamen Welt nichts verloren" galten als täglich Brot seiner Kindheit. Schon seit frühauf hatte er jenes verbale Gift eingeflößt bekommen, um den Erwartungen der Erwachsenen folgen zu können. Dass es seine Psyche verletzte, nahm niemand wahr. Es war bereits gang und gebe in der Gesellschaft, ihre Kinder so zu lenken wie sie es als richtig anerkannten. Kinder seien wie unbeschriebene Bücher, die man sich nach den eigenen Wünschen zurechtlegen könnte. Die Wünsche und Bedürfnisse ihrer blieben zweitrangig, denn sie könnten doch niemals wissen, was das "Beste" für sie sei.
Hatten sie vergessen, dass Kinder eigene freie Menschen waren wie sie selbst?
Hatten sie vergessen, dass Worte mentale Probleme einher brachten?
Hatten sie vergessen, dass sie selbst einmal in Kinderschuhen steckten?
Der Italiener atmete die Luft ein, spürte ihre schneidende Kälte in seinen Lungen. Er hatte keine Zeit, sich weiterhin mit alten Geschichten auseinanderzusetzen. Sie gehörten immerhin der Vergangenheit an und berührten ihn das Wenigste. Müde schaute er vom Boden auf, erspähte bereits seinen Zielort und verspürte tatsächlich einen Funken Freude bei dem Gedanken daran, endlich aus dem nie endenden Regen zu fliehen.
***
Die Freude war nicht von langer Dauer, als Lovinos Chef ankündigte, dass sie in den naheliegenden Wald gehen würden, um dort Veränderungen des hiesigen Biotops ausfindig zu machen. So minimal Lovino auch begeistert davon war und sich am liebsten geweigert hätte, blieb ihm kein anderer Ausweg, als dem alten Herren nachzutrotten wie ein Kleinkind mit dem Skizzenbuch im Arm um ja alles aufzufangen, was der Wissenschaftler mit Worten um sich warf.
Lovino räusperte sich, sein Hals hatte erneut zu kratzen begonnen.
Der matschige Boden zeigte sich als rutschig genug, um jeden Moment aufzuklatschen. Jeder Schritt besaß einen ekeligen Nachklang und die eng aneinander gereihten Bäume schmissen, trotz ihres schützenden Blätterdaches, immer wieder kalte Tropfen auf die feuchte Erde. Ihre Äste trugen moosartige Geflechte, die sich entweder stellenweise wie ein Fleckenteppich auf das Holz malten oder beinahe den gesamten Baum einkleideten. Das ohnehin gräulich erscheinende Sonnenlicht existierte in diesen Gegenden des Waldes nicht, sie blieben in der Dunkelheit verschlungen, wie ein unheilsamer Schatten, der sich an die Fersen heftete und endlos verfolgte, ehe er seinen Hunger an der Seele eines Menschen sättigen konnte.
Ein schwüles Klima hieß den Forscher und seinen Assistenten willkommen, setzte beide in einen Zwiespalt von Hitze und Kälte aus, der sich keineswegs positiv auf Lovinos Gesundheit auswirkte. Nichtsdestotrotz folgte er Enrico minutenlang dem Trampelpfad entlang und hoffte, dass sich die Seiten des Skizzenbuchs nicht in der Nässe aufweichten oder gar alles Bisherige verschmierten.
Äste lagen kreuz und quer auf ihren Wegen und versperrten ihnen manchmal den Weg, sodass man sie zur Seite treten musste. Die momentanen Unwetter machten dem Wald anscheinend ziemlich zu schaffen, da die sonst so stabilen Büsche, Gräser und Pflanzen zur Seite geneigt waren, als hätte man sie mit einem Kamm zurechtgebogen. Rote Flecken zierten einige Stellen -womöglich zerquetschten sie einen naheliegenden Heidelbeerstrauch - und wirkten bereits sanft ausgewaschen.
Lovino konzentrierte sich auf seine Füße. Er wollte nicht, dass er mit dem ganzen Geröll zusammenstieß oder gleich darüber stolperte und in einen Dornenstrauch fiel. Er fühlte sich noch als dezent zu jung, um aufgespießt zu werden.
Da unterbrach Enrico die unangenehme Stille. "Nur noch ein paar Meter und wir sind da. Eine komplette Wanderung kann ich auf meine alten Tage nur schwer verkraften."
Lovino nickte daraufhin und freute sich darauf, bald eine Gehpause einzulegen. "Zum Glück. Ich denke, dass es sonst nur noch beschwerlicher wird, wenn hier so viel Müll herumliegt."
Der Greis lachte mit seiner tiefen, rauchigen Stimme und klopfte Lovino nett gemeint auf die Schulter. Dieser stolperte leicht nach vorne, fand aber im letzten Moment Halt. Enrico schätzte seine Kraft zu wenig ein und Lovino ärgerte sich insgeheim darüber, sodass er nicht mehr als ein unterschwelliges Schnaufen von sich gab und seinen Kopf zur Seite drehte, als ihm plötzlich etwas ins Auge stach, dessen rechter Platz bestimmt nicht in einen Wald war. Seine Augen weiteten sich, formten sich daraufhin zu Schlitzen, um den Fund im Vorbeigehen genauer zu betrachten.
Ein Schuh!
Doch was tat ein einzelner, herrenloser Schuh am Wegesrand?
Hatte ihn jemand verloren? Wenn ja, wieso gab es nur einen? Neugierig wie Lovino war, tastete er sich seiner Entdeckung an, hob verdutzt eine Augenbraue und suchte nach einer Antwort. Enrico bemerkte Lovinos plötzliche Abwesenheit, wollte wissen, weswegen sein Assistent auf einmal abwesend war und näherte sich dem jungen Mann an. "Was ist denn? Hast du etwas Außerordentliches entdeckt? Eine neue Spezies?" Enrico fantasierte bereits von einer weltbewegenden neuen Entdeckung, die seinen Namen in die Geschichtsbücher eingehen lassen würde und ihm zumindest an seinem Lebensabend Ruhm; Anerkennung und Ehre einheimsen konnte. Vielleicht würde er auf diesem Wege niemals vergessen werden, doch leider platzte der Traum wenige Augenblicke später wie eine Seifenblase.
"Etwas Außerordentliches nicht, aber etwas Verdächtiges", raunte der junge Italiener und hockte sich auf den Boden. Der einzelne Schuh war relativ neu, das Leder glänzte stellenweise noch, allerdings zeigte die Spitze blutrote Flecken, ähnlich derer, die Lovino wenige Sekunden zuvor an den Ästen erkannte. Eigenartig, schoss es ihm durch den Kopf, ob man mit dem Schuh durch einen Heidelbeerstrauch gelaufen war? Dies grenzte an Wunschdenken, ein Teil von Lovino wusste das, der andere Teil wiederum setzte darauf, möglichere, dunklere Theorien zu verdrängen, darauf hoffend, dass es Lovinos Seele nicht zu nahetrete.
Vorsichtig und mit Verunsicherung in seinen Augen spiegelnd hob Lovino seinen Blick. Sein Atem stockte, seine Brust zog sich zusammen und das Adrenalin in seinen Adern arbeitete auf Hochtouren. Hatte er gerade eben den zweiten Schuh im Gebüsch herausblitzen sehen, mitsamt einem menschlichen Knöchel?
Nun wurde auch Enrico aufmerksam, richtete seine Brille und sein Mund blieb halboffen stehen, als er das Indiz eines viel größeren Zwischenfalles entdeckte. "Santa Maria, Madre di Dio...", Enrico machte im Affekt das Kreuzzeichen, "Was im Namen der heiligen Mutter Gottes geht hier vor sich?" Der alte Herr griff nach dem Stofftuch in seiner Jackentasche und tupfte sich den kommenden Schweiß aus der Stirn. Die gebräunte Farbe verschwand aus seinem Gesicht, jegliche Glückseligkeit verblasste und wurde von Schock und Horror ersetzt.
Lovino ging es nicht anders; er bewegte sich nicht von der Stelle und wirkte als hätte die Seele seinen Körper verlassen und ihm alles Leben geraubt, das in ihm wohnte. Sein Hals schnürte sich zu, raubte ihm den Atem. Seine Beine? - Sie waren ihm fremd. Herrenlos verweigerten sie den Gehorsam, zu reagieren. Wie abgetrennte Gliedmaßen besaßen sie kein Gefühl mehr in sich, waren tot. Lovinos Herz raste, trotz der bemühten Unterdrückung des immens steigenden Stresspegels.
Altes kämpfte mit Neuem. Vergangenheit kämpfte mit Gegenwart und die grausame Szene prägte sich gewaltsam in die instabile Psyche des jungen Erwachsenen.
Die leeren Augen, die das Licht verloren hatten und nur mehr starr gen Himmel gerichtet waren...
Der leicht geöffnete Mund, befleckt vom Blut seines Herren...
Die alabasterweiße Haut, die ebenfalls des menschlichen Lebenssafts zum Opfer fiel und geisterhaft unter den dunklen grünen Blättern hervorleuchtete...
Die ungekämmten, verworrenen Haare, die im Dreck ihre letzte Ruhestätte fanden...all diese Dinge kreierten ein unsterbliches, abstoßendes Bild.
Das misshandelte, blutige Gesicht gehörte Alessandro, dem letztlich verschwundenen jungen Verkäufer. Weswegen befand sich sein lebloser Körper nur in einem Wald? Lovino wollte keinesfalls daran denken, was stattgefunden haben musste. Letzten Endes läge es ohnehin auf der Hand. Alessandro wurde ermordet, aber vom Täter gab es keine Spur.
In einer Trance verfallen, starrte Lovino verloren auf die Leiche vor ihm. Dass Enrico ihn dabei bereits angesprochen hatte, kam nicht bei ihm an. Er war taub geworden für das, was um ihn herum geschah, betrat eine andere sichere Realität fernab der tatsächlichen grausamen Welt.
"...ovino. Lovino", sein Bewusstsein schien allmählich zurückzukehren, "Lovino, wir sollten besser gehen und...das hier melden." Enrico fasste ihn an der Schulter und Lovino reagierte zögerlich.
"Ja." Mehr schaffte er nicht aus seinem tonlos gewordenen Mund heraus und er begann seinen Körper nach und nach wieder zu fühlen und zu steuern. Zeitlupenmäßig richtete er sich auf, wandelte wortlos hinter Enrico her.
Sein Kopf war leer. Sein Bewusstsein existierte nur verschwommen, grenzte sich massiv ein.
Lediglich die schwarzen Schatten, die sich jenseits der nahen Bäume schleichend fortbewegten und in Kutten gehüllt verschwanden, traten für den Bruchteil der Sekunde in die schützende, mentale Kapsel Lovinos ein...
***
Die Türscharnieren quietschten ähnlich eines Todesengels' Schrei, Regen prasselte herab und traf Haus und Garten wie ein vertikaler Messerschnitt. Wie abgedämpfte Kugeln trafen sie auf Lovinos Haut und bildeten das einzige Mittel, um wach zu bleiben. In seinem Kopf drehte sich alles und gezwungenermaßen fiele er beinahe zu Boden vor Verwirrung. Die Glocke an der Eingangstür schepperte lauter als sonst, schmerzte in den Ohren, als Lovino hinter Enrico her trottete und die Wärme des Zimmers begrüßte. Die Begrüßung von Giorgia fiel ins Leere und Lovinos Besinnung verließ seine verzögerte Schutzkapsel keineswegs, sperrte ihn mit seinen Gedanken, Sorgen und Ängsten in der kalten Einsamkeit ein.
Alessandros Gesicht...Es schien in seinem inneren Auge auf.
Lovino wurde blass.
Das Blut, die Gewalt, der Hass, der Schmerz...
Das Licht in seinen Augen verschwand; er trottete nur noch verloren umher.
...diese Dinge waren nicht nur Teil des grausamen Totschlags Alessandro...
Seine Sicht wurde verschwommen, gar komplett von der Schwärze überzogen.
...sie ähnelten auch der Unmenschlichkeit derer, die an jenem Tag vor vielen Jahren das Messer zückten...
Kraftlos stürzte er zu Boden, die Realität nicht mehr begreifend. Er begann zu röcheln, behielt die leichenblasse Farbe in seinem Gesicht und bewegte sich kein Stück. Dass sich Giorgia sowie Enrico bereits sorgenvoll darum bemühten, Lovino am Bewusstsein zu halten, bekam der junge Erwachsene nicht mehr mit.
Seine Glieder...sie waren taub.
Seine Ohren...sie rauschten.
Sein Blick...war leer.
Übelkeit überfiel ihn, lieferte ihn hilflos dem Zusammensturz aus, der ihn aus dem Leben reißen könnte.
Der Tod, die Gewalt, der Horror...egal wie sehr er sie zu unterdrücken mochte, sie waren allgegenwärtig...
Worte wurden umhergeschmissen, sanken aber niemals in das Ohr desjenigen ein, der sie hätte hören sollen.
Lovino war wie tot, und doch lebte er.
Doch warum waren es ausschließlich die negativen Emotionen, die in seiner Psyche herumspukten?
Sie zogen ihn runter, machten sein schwereloses Leben zur Qual wie ein Mühlstein, der mit ihm Hand in Hand ins Wasser stürzte.
Und wenn ihm ein Wunsch gewährt worden wäre, bevor ihn die endlose Dunkelheit übermannte und ihn von der Welt, wie er sie kannte, abtrennte, hätte er sich erhofft, dass das Leid ihm erspart geblieben wäre.
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