Kapitel 31 - Akzeptanz und Blumensprache
[Sorry, für das super späte Update. Ich hatte in den letzten Wochen ein massives Schreib-Tief und konnte tagelang nicht schreiben bzw. hatte ich keine Motivation an der Fanfic zu arbeiten. Ich hab demnach eine Hassliebe zu dem Kapitel, obwohl sie schon seit Anfang an geplant war und doch kam sie ganz anders als geplant. Aber jetzt geht es weiter. Ich hoffe, die Fic bis circa Ende des Jahres/Anfang 2024 fertig zu schreiben, weil es sich bereits so zieht, ayy! Wenn mein Blueprint gleichbleibt, dann haben wir ab diesem Kapitel nur mehr 20 Kapitel (ohne Bonus) übrig!]
"Wie habt ihr mich gefunden?", Antonios Stimme war rau und mitgenommen von seinem langen Schweigen; ein Huster kratzte in seiner Kehle und er hielt sich direkt die Hand vor den Mund. Sogleich klopfte Emma auf den Rücken ihres Freundes und strich anschließend mit den Fingerspitzen darüber. "Du lagst ganz plötzlich draußen am Rande der Straße...Aber ganz ehrlich, Antonio, sag uns, was mit dir passiert ist! Und wehe du sagst 'Nichts', denn dein Körper sagt uns etwas ganz anderes!"
Tatsächlich hatte Emma jedoch bereits einen Verdacht darüber, wer für Antonios Leid verantwortlich sein könnte und wenn er den Mund von allein aufmachte, dann ersparten Lovino und sie es sich, Nachforschungen anzustellen. Denn es lag sowieso auf der Hand, dass es diese Mörderbande sein musste, die einerseits Abel und andererseits Antonio verletzt haben, aber sie brauchten die Bestätigung aus ihren Mündern. Doch woher kannten Antonio und Abel diese Leute und welche Verbindungen hatten sie zu ihnen, dass Antonio sogar einmal als Verräter bezeichnet wurde? Emma wollte es wissen, doch zunächst war es wichtiger, herauszufinden, welche Dinge genau ihrem Freund widerfahren waren und an was er sich erinnerte. Bevor sie ihm jegliche Fragen entlockte, war Antonios Wohlergehen trotzdem das Wichtigste.
Antonio, dagegen, atmete scharf ein und verfluchte sich bereits, als er ihren Worten lauschte. Er bibberte und ein stechender Druck machte sich in seiner Brust breit, gefolgt von dem miesen Unbehagen in seiner Magengegend. Mist, er hatte gewusst, dass seine Freunde ihn spätestens jetzt ausquetschten!
"Erzähl es uns, Tonio...Bitte." Unheimlich ruhig und gelassen, geradezu offen fürsorglich, dass Antonio schon glaubte, er hörte nicht richtig, sprach ausgerechnet sein sonst so impulsiver Lovino zu ihm. Es grenzte an einem Hirngespinst.
"Also...", Antonio druckste herum und wanderte mit dem Blick von der einen Ecke der Decke zur nächsten. Entweder er beichtete ihnen, was wirklich geschehen war oder er ließ sich in den nächsten drei Sekunden eine gute Ausrede einfallen. Er entschied sich, wohl oder übel, für Letzteres und doch mischte er ein Fünkchen Wahrheit hinzu, während seine Freunde gespannt die Ohren spitzten. "Ich glaube, ich lag noch neben Lovino als er in die Arbeit ging. Danach bin ich wieder eingeschlafen und wachte urplötzlich am Arsch der Welt wieder auf. Ich wusste nicht, wo ich war oder wer mit mir sprach. Meine Erinnerungen sind komplett verwischt und aus dem Kontext gerissen." Antonio hielt sich mit der linken Hand die Stirn und tat so, als schmerzte ihm der Kopf von all den Erinnerungen. "Aber es tat weh, so furchtbar weh...Ich dachte, es würde niemals enden und dann wurde auf einmal alles schwarz." Diesmal zierte Antonio seine Ansprache nicht mit Lügen, sondern blieb seiner Erfahrung treu. Noch immer spürte er die Pein, die man ihm angetan hatte, sobald er daran einen Gedanken verschwendete oder sich ansatzweise bewegte. Oh, wie er wünschte, dass auch diese Schmerzen eine Lüge wären.
"Und dann hab ich aus heiterem Himmel Licht gesehen und bin schließlich hier aufgewacht."
Emma nickte und folgte der Erzählung ihres Freundes. Die Hände hatte sie in den Schoß gelegt und ihr prüfender Blick schweifte über Antonios Verbände und Pflaster. "Also kannst du nicht sagen, wer genau der Täter war oder was dir konkret zugestoßen ist?" Ein schleichendes Gefühl verriet Emma, an Antonios Worten zu zweifeln, allerdings wollte ihr Herz nichts sehnlicher, als ihm bedingungslosen Glauben zu schenken.
"Nein..." Den Kopf schüttelnd sah Antonio auf die wärmende Decke, die über seine Beine gelegt war. Er konnte seinen Freunden nicht in die Augen sehen. Nicht, wenn er ihnen schon so viele Details verschweigen musste. "Nein, leider kann ich das nicht sagen."
"Gottverdammt", zischte Lovino plötzlich dazwischen und schlug mit der Faust seitlich gegen die beige Wand, "Tonio, hast du echt keinerlei Erinnerungen übrig? Nicht einmal ein verdächtiges Gesicht, das in deinem Kopf rumspukt?" Der junge Mann näherte sich ihm und seine sonst so grobe Mimik wurde weicher. Als er jedoch bemerkte, wie er Antonio zu nahe kam, wich er augenblicklich zurück, schüttelte den Kopf, ehe Antonio den Mund öffnen konnte und atmete laut aus. "Ach, was red' ich für einen Mist! Es gibt ja sowieso nur einen Tatverdächtigen hier, was zerbrechen wir uns hier den Kopf? Das kann ja nur dieses grausige Mörderpack sein, das uns letztens angegriffen hat, Antonio! Da braucht man doch nicht länger nachdenken! Sie haben dir gedroht, dir etwas anzutun und nun ist das passiert!"
Lovino brauchte keine weiteren Beweise. Seine Intuition und das, was er sich vom Vorfall am Vortag mitgenommen hatte, waren aussagekräftig genug, um das Motiv des Schuldigen sowie den Schuldigen selbst ausfindig machen zu können. "Ich schwöre bei Gott und allem, was mir lieb ist, Antonio." Seine Stimme verfärbte sich ins Dunkle und sie verlor an Lautstärke. Pure Wut und Rachegelüste pulsierten unter Lovinos Haut wie Adrenalin. Diese Bastarde hatten Antonio weh getan. Verbindungen zu der Bande hin oder her - sie hatten Antonio verletzt und beinahe getötet. Und genau das konnte Lovino nicht ungeschoren davonkommen lassen. Vor allem nicht, wenn dies womöglich wegen ihm geschah. Immerhin hatte Antonio sein Leben riskiert, um ihn zu jener Stund' vor Asmodeus' Klinge zu bewahren.
"Ich werde jeden einzelnen dieses Packs auslöschen. Jeden Einzelnen."
Antonio schluckte.
Jeden einzelnen...wiederholte er in Gedanken.
Bitter lächelnd nickte er.
Er gehörte doch genauso dazu...zu diesen dreckigen Hunden. Zu denen, die er auszulöschen hatte. Und er selbst hätte den Auftrag gehabt, Lovino das Leben zu nehmen. Wie zwei verfeindete Biester standen sie sich gegenüber, verbunden mit dem Wahnsinn des Tötens und doch wollte keiner das Messer zücken. Lieber wären sie sich in die Arme gefallen und abertausende Küsse ausgetauscht und in der Wärme und zarten Nähe des anderen dahingeschmolzen. Oh...Lovino und Antonio...sie waren die Schriftsteller ihrer eigenen Tragödie - ihres Schicksals als Romeo und seiner Julia oder Tristan und seiner Isolde.
Antonio sah zu Emma, die besorgt ihren Blick auf ihn gelegt hatte, als sah sie bereits etwas anbahnen.
Dann erinnerte er sich an den Schwur, den er einst ablegte, als er die Konsequenz seines Beitrittes noch nicht wusste.
Oh verdammt...Antonio sah kurz zum Sternenhimmel hinaus.
Er war verloren.
***
"Auf jeden Fall hast du immer Platz bei mir, Lovino. Du musst mir nur vorher Bescheid geben und ich kümmere mich darum." Lächelnd nahm Michelle einen Bissen von ihrem Schokoküchlein und naschte daraufhin eine Erdbeere. "Ich kann meinen Vater Fragen, ob er beim Transport helfen kann. Er hat eine kleine Karre und unsere Stute ist stark genug, um dein Zeug herzubringen!"
Nickend antwortete Lovino auf den Vorschlag seiner Freundin. Seinen eigenen Kuchen hatte er bereits verputzt und der Zucker putschte ihn auf; machte ihn wacher. Sie beide saßen zu zweit in einem kleinen, heimeligen Café am Rande des Wohnviertels in dem Michelle ihr Elternhaus stehen hatte. Es waren, zu Lovinos Glück, nur wenige Leute hier. Man hätte sie an beiden Händen abzählen können. Dadurch fühlte sich der Einundzwanzigjährige umso wohler und ruhiger. Michelle und er tratschten zurzeit über das Neueste, was ihnen in den letzten Tagen und Wochen passiert war - immerhin hatten sie sich seit einiger Zeit nicht mehr so oft gesehen. Über den Vorfall in der Gasse wusste die junge Frau allerdings Bescheid.
Das bedeutete, dass sich Lovino die alte Leier des Erzählens sparen durfte und das schreckliche Erlebnis nicht noch einmal gedanklich wiederholen musste. Jedoch konnte ihn Michelles Wissen nicht vor der Frage bewahren, was mit Antonio passiert war. Denn natürlich hatte Emma ihrer Freundin alles darüber erzählt, aber Michelle wollte mehr wissen und hoffte, durch Lovino zu erfahren, wie es nun um den Spanier stand.
"Er bleibt seit gestern vorübergehend bei mir. Als ob ich den Idioten halbtot nach Hause schicke. Ich bin kein Herzloser. Ich hab zwar nicht viel Platz in meinem scheiß Kämmerchen, aber lieber kann ich mich besser um ihn kümmern und ihn im Auge behalten, als das er wirklich ganz alleine ist. Gerade ist Abel bei ihm." Lovino legte die Finger um den Henkel der Tasse und nahm einen Schluck des heißen Kaffees. "Aber er scheint sich zu erholen...Er spricht bereits kräftiger und geht auch schon öfters ohne Hilfe vor die Haustüre, um frische Luft zu schnappen, aber er wird wohl noch länger mit den Verbänden leben müssen. Mit etwas Glück verheilt auch die Brandwunde, ohne allzu große Narben zu hinterlassen."
"Oh, das kann ich mir gut vorstellen, dass er sich noch lange damit quälen muss...", Michelle spielte mit den Fingern, "Aber das Wichtigste ist, dass er sich grundsätzlich erholen kann. Du bist ein ganz lieber Freund, Lovino. Dass du dich sofort so für ihn engagierst und ihn mit deiner Fürsorge überschüttest, schätzt Antonio sicher sehr." Sie lächelte und trank ihr Tässchen aus. "Wir alle können uns glücklich schätzen, dich in unserer Gruppe zu haben, Lovino."
Da verfärbten sich die Wangen des jungen Mannes schlagartig rot. "Bah, red' nicht so geschwollen. Da wird mir ja ganz übel von den Komplimenten!" Und schon drehte Lovino den Kopf zur Seite, um Michelle nicht in die Augen sehen zu müssen. Tatsächlich bedeuteten ihm ihre Worte aber viel und ließen sein Herz höher schlagen wie früher, wenn er einmal von seiner Nonna gelobt wurde und sich plötzlich wichtig und geliebt fühlte.
"Gern geschehen, Lovino! Du kannst so grob sein, wie du willst. Du machst es immer sehr deutlich, wie du es in Wirklichkeit meinst", lachte Michelle leise und strich sich eine Locke aus dem Gesicht. "Also, keine Scheu."
"Ja ja", nuschelte er und aß auf, doch seine Gedanken kreisten - wie allzu oft in der letzten Zeit - um Antonio. Oh, verdammt, wieso fixierte er sich nur so auf ihn. So langsam hasste er es, ihn all die Zeit in seinem Kopf zu haben.
"Hm?", nun legte Michelle plötzlich den Kopf schief, als sie das angestrengte Gesicht Lovinos sah, "Ist alles in Ordnung, Lovino? Du scheinst dich mit etwas zu beschäftigen, so ruhig, wie du gerade bist..."
Michelle grübelte. Was war nur mit Lovino los? Gerade die Unwissenheit darüber, bereitete ihr Sorgen. Nicht, dass er sich wieder so grottenschlecht wie Letztens fühlte, als sein Nonno zu Besuch war. Denn Michelle wollte definitiv nicht, dass Lovino traurig war!
Aber Lovino zuckte nur mit den Schultern und legte sich seine Worte so zurecht, um ja nicht auf sein "Problem" mit Antonio hinzuweisen. "Weiß nicht. Ich hab halt momentan absolut keine Chance mehr den Kopf frei zu kriegen, denk ich. Es passiert nun dauernd etwas."
"Oh, also denkst du, du bist einfach zu sehr unter Stress?"
"Kann man vielleicht so sagen, ja", antwortete Lovino und bezahlte währenddessen den Kellner, der sich neben sie gesellt hatte und nun die Summe für beide Kunden abgerechnet hatte.
Dann stand Michelle bereits auf und schob den Stuhl bereits unter den Tisch. "Oje, das ist natürlich nicht so gut. Du solltest dringend eine Pause einlegen und einmal zur Ruhe kommen. Oder willst du lieber darüber reden? Du kannst mir jederzeit sagen, was dich bedrückt. Das weißt du doch." Die junge Frau schenkte ihm ein warmes Lächeln, das Lovino nur halbherzig erwiderte. "Schon gut. Ich glaube, ich brauche erstmal Zeit für mich, damit ich den Scheiß endlich verdauen kann."
Auch so sehr sich der Gedanke, sich bei Michelle auszukotzen, verlockend anhörte, war er einfach seelisch noch nicht bereit dazu. Das war etwas, das in erster Linie ihn selbst anging und bevor er nicht mit sich selbst fertig wurde, hätte es keinen Sinn, Michelle damit zu belasten. Denn bevor er es nicht selbst versuchte, könnte er seine Probleme doch sowieso nicht in Worte fassen und ein Gespräch würde ins Leere gehen.
Also packte er seine sieben Sachen, legte sich die Jacke an und hielt seiner Freundin die Tür auf.
Ein Windhauch streifte seine Wange, plusterte seine dunklen Strähnen auf und schenkten Lovino ein sanftes Kitzeln quer über den Körper.
Direkt schossen ihm Erinnerungen des Abends ins Gedächtnis. - Wie Antonios Hand sein Gesicht liebkoste, es streichelte, als die Emotionen mit ihm durchbrannten.
Oh...
Wieso klopfte es urplötzlich in seiner Brust?
"Lovino?", Michelle riss ihn wieder aus den Gedanken, "Du starrst Löcher in die Luft...Ist wirklich alles okay? Soll ich dich nach Hause bringen?"
"Nein, bis auf das, was ich dir vorhin gesagt habe, gibt es nichts. Mach dir keine Sorgen." Lass das alles nur meine Sorge sein, fügte er in Gedanken hinzu und setzte den Weg fort, Michelle folgte ihm zu seiner linken. Den prüfenden Blick legte sie jedoch nicht ab. Mit Lovino war etwas faul, soviel stand fest. Lovino war schon immer in sich gekehrt, aber so geistig abwesend war er normalerweise nicht.
Ob Emma vielleicht am gestrigen Abend Ähnliches bei Lovino bemerkt hatte? Sie sollte sie unbedingt fragen, sobald sie wieder bei ihr zuhause war.
Die beiden kamen bald darauf an der Kreuzung an, an der sie sich trennen sollten; Lovino müsste nach links und Michelle nach rechts gehen. "Danke für den Kuchen heute, ich fand es sehr schön mal wieder etwas zu unternehmen. Komm her!" Die Arme ausstreckend näherte sich Michelle dem größeren Mann vor sich und drückte ihn in eine herzige Umarmung und streichelte seinen Rücken. "Hab dich lieb und komm sicher heim. Sag Antonio gute Besserung von mir. Ich schaue morgen vorbei und nehme ihm etwas Süßes von zuhause mit. Dann kann er sich auf etwas freuen." - "Mach ich, pass du auch auf. Sag deiner Emma auch Danke für gestern. Ich hätte ohne sie die Krise bekommen..." Lovino ließ Michelle dann frei und winkte ihr zu, als sie sich umdrehte und ihren Weg zu Emmas Wohnung bestritt. Als sie bereits einige Meter weg war, machte auch er kehrt, aber ging nicht nach Hause, sondern rannte direkt Richtung Ortsmitte.
Hauptsache, er sah Antonio ein klein bisschen später, nachdem er ihn endlich aus seinem Gehirn verbannt hatte. Denn je früher er ihn wieder bei sich in seiner engen Wohnung hatte und letztendlich das Bett mit ihm teilte, desto mehr würde er sich in ihm verlieren und dann gab es kein Zurück mehr.
Allerdings wusste er nicht, dass Michelle sich inzwischen umgedreht hatte und Lovinos spontane Entscheidung aus der Ferne beobachtete.
Und Lovino? Lovino wusste nicht, was er wollte.
***
Das Gefühl wuchs immer stärker in seiner Brust heran. Lovino war rastlos und zugleich ratlos und seine Gedanken unterbrachen sich selbst, als gehörten sie gar nicht ihm, sondern einer Vielzahl an Leuten, die versuchten, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen und doch dabei dauernd aneinander vorbeiredeten. Für den Moment fühlte Lovino sich so, als würde er über den Boden schweben, denn egal wohin er sich auch hin verirrte, er würde nicht stehenbleiben. Wohin wollte er?
Womöglich dahin, wo ihn seine Füße hintrugen. Quer durch die Altstadt, vorbei am Brunnen, den er an seinem ersten Tag schon entdeckt hatte und wenige Wochen später mit Antonio eine halbe Überschwemmung an den Tag gelegt hatte. - Oh. Verdammt! Lovino zögerte, wollte sich eine klatschen schon wieder an den Bastard gedacht zu haben.
Antonio. Antonio. Antonio. Oh, wie es ihm auf den Sack ging, dauernd an ihn denken zu müssen. Noch nie war es mit einer kleinen, flüchtigen Liebelei so penetrant häufig und vor allem nervig gewesen, dass Lovino an nichts Anderes mehr denken konnte.
Aber was sollte er denn tun, wenn Antonio eben zum Zentrum seiner Aufmerksamkeit geworden war? Nicht nur in der Liebe, sondern auch als am nächsten stehender Freund, als sein Retter in der Not, als Grund für seinen Konflikt mit seiner Sexualität und als Verdächtiger, was die Sache mit den Stadtmorden auf sich hat.
Lovino strich beim Vorbeigehen mit den Fingerkuppen über die unebene, steinerne Hauswand zu seiner Linken.
Welche Menschen an ihm vorbeizogen, blendete er aus. Er war in seiner eigenen Welt angekommen und sehnte sich nur mehr nach Ruhe.
Ruhe...Ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken. Lovino wandte sich müde herum und suchte die Gegend nach einem sicheren, leisen Ort ab. Die Kirche.
Seine Augen weiteten sich. Genau, die Kirche. Dort drin würde ihn keine Menschenseele ansprechen. Dort könnte er reflektieren, ohne von nervigen Nebengeräuschen gestört zu werden und er könnte endlich zur wohlverdienten Ruhe kommen.
Er nahm jeweils zwei Stufen auf einmal, legte die rechte Hand auf die dunkle Türklinke, die einem schwarzen, eingerollten Blatt ähnelte, und drückte die schwere Holztür auf, deren Gewicht sich direkt gegen ihn zu stürzen versuchte, aber Lovino war schneller und drängte sich in das dunkle, spärlich beleuchtete Gotteshaus.
Jedes Mal, wenn sein Schuh den glänzenden Boden berührte, hallte ein leises Tappen durch die vielen Reihen voller Bänke aus dunklem Holz. Die Fensterrosette des Eingangs zauberte ein prachtvolles Muster aus dem Sonnenlicht auf die Fliesen und die Buntglasfenster schenkten zumindest einen Tupfen kräftige Farbe in die sonst so kühle Halle. Lovino schlich sich an den Gängen vorbei, weg von den vielen kleinen Kerzen, weit weg vom Altar und dem Tabernakel. Er wollte sich nicht unbedingt dort vorne aufhalten, immerhin würden dort die meisten hin gaffen oder später herumlungern, sobald mehrere Menschen hierherkämen. Außerdem fühlte er sich nicht besonders würdig, sich auch nur ansatzweise dem Allerheiligsten zu nähern. Lovino fühlte sich schmutzig und dass, obwohl er doch eigentlich nichts verbrochen hatte.
Woher kam plötzlich dieser Scham?
Lovino biss sich auf die Unterlippe und ließ sich wenige Sekunden später in einer der hinteren Reihen nieder. Dort, wo es möglichst dunkel war und er nicht auffiele. Zudem war der Geruch von frisch geschwenktem Weihrauch an dieser Stelle nur minimal, leider blieb stattdessen der Duft von kaltem, altem Stein in der Nase hängen.
Egal. Tief einatmend lehnte sich der junge Mann zurück, schloss die Augen. In seinem Rücken spürte er die Kante der ungemütlichen Holzbank.
Lovino...
So sprach er sich selbst in Gedanken an, bewegte seinen Oberkörper langsam nach vorne und stützte sich mit den Unterarmen auf seine Oberschenkel. Dann verschränkte er die Hände miteinander und neigte den Kopf zu Boden.
Lovino, was ist nun dein Plan?
Was wirst du tun? Du weißt, du kannst so nicht weitermachen...
Dieses Geschehenlassen und gleichzeitig diese Wegrennerei.
Nonno weiß es bereits. Akzeptiert oder zumindest toleriert es.
Und du, Lovino? Tust du dasselbe?
Lovino zögerte. Nein, tatsächlich akzeptierte er sich nicht und dass, obwohl er Menschen um sich hatte, die ihn annähmen. Warum war es trotz alledem so schwierig? Lovino war gläubig aufgewachsen. Auch heute noch lebte zumindest der Glaube an ein höheres Wesen, an einen Gott, in ihm, aber seine Religion war nicht wirklich der Hauptgrund für seine Hemmungen.
Es war die Angst anders zu sein.
Es war die Angst, vor seiner Zukunft. Einer Zukunft, die er nicht erwartet hatte.
Es war die Angst davor, Gewalt zu erfahren, wenn sein Geheimnis an falsche Ohren geriet.
Oh, diese eine Exekution. Lovino fühlte, wie sich sein Magen schlagartig umdrehte. Wie konnte es nur sein, dass so eine kleine Situation ihn auch noch in seinen frühen Zwanzigern heimsuchte? Waren Traumata wirklich so einschneidend für ein Leben?
Ein paar mehr Menschen betraten die Kirche, aber Lovino ließ sich nicht stören. Es waren lediglich drei Personen. Eine ältere Dame, ein Mönch und ein weiterer Mann, der in eine Kutte gehüllt war. Inständig hoffte Lovino, dass keiner von diesen Leuten sich in seine Nähe wagte. Er hatte schlicht und einfach keine Lust, die Visage von anderen zu sehen.
Müde betrachtete er stattdessen die bunten Fensterbilder von Heiligen. Die Madonna - die Jungfrau Maria thronte als Figur in einer spitzbogigen Nische mit kleinen blumenartigen Mustern und Schnörkeln aus Stein, die an feinste Spitze erinnerten. In den Armen hielt sie sowohl ihr Kind als auch eine Pfingstrose und obwohl der Blick der Madonna sanft auf den Gläubigen wirken sollte, fühlte sich Lovino wie durchstochen und von verurteilenden Augen geplagt. Als ob die Augen aus Stein für die ganze Welt stünden und ein jeder in sein Herz und seine Seele schauen könnte, wie es ihm beliebte...Oh, Lovino fühlte sich schutzlos und nackt hinter diesen Wänden, die ihm in seiner Jugend doch Trost gespendet hatten.
Was würde Nonna dazu sagen, dass Lovino sehr wahrscheinlich bisexuell wäre und nun sein Herz an einen Mann verloren hatte?
Würde sie ihn wie Nonno letztendlich doch akzeptieren, auch wenn sie ihn nicht verstanden hätte? Bei aller Liebe, sie war zwar wie eine liebende Mutter gewesen, aber der Glaube hatte bei ihr eine unangefochtene Priorität.
Lovino atmete tief ein, ließ den Gedanken sofort fallen. Warum dachte er ausschließlich darüber nach, was andere über ihn dachten? Sollte er sich nicht vorrangig um sich selbst kümmern? Es war sein Leben und er war derjenige der es lebte und dirigierte. Weshalb stellte er dann die Erwartungen und Vorstellungen anderer über die seinen?
Womöglich, weil er selbst nie Wünsche formuliert hatte und jahrelang damit beschäftigt war, in die Ideale anderer zu passen, ohne auf sich selbst zu hören. Er hatte sich seinen Willen abgelernt, lebte doch eigentlich nur für andere und nicht für sich selbst und genau darin lag der Fehler.
"Gott, würd ich mich doch nicht andauernd selbst manipulieren und sabotieren, wäre das alles um Einiges simpler", seufzte er mit fast lautlosem Ton und zwang sich nun krampfhaft, zu überlegen. "Wie bin ich wohl am glücklichsten?" Lovino tappte mit dem linken Fuß auf die Holzplatte, auf der in der Messe gekniet wird und murmelte zu sich selbst.
"Ich weiß, ich liebe Frauen. Dafür hatte ich schon zu oft ehrliches Interesse an einer. Isabella zum Beispiel. Vielleicht war Antonio nur ein Einzelfall, weil ich ohnehin psychisch einen Knacks habe und er mir am nächsten steht. Vielleicht ist es auch gar nicht Liebe, sondern eine Obsession mit Missverständnis, weil ich offensichtlich an Mängel leide. Dann hat es Antonio sowieso nicht mit mir verdient. Diese 'Liebe' ist nicht echt. Sie ist nur ein Hirngespinst. Eine Laune der Fantasie. Ich vergesse das alles. Ich werd' über ihn hinwegkommen und nie danach handeln. Dann finde ich das nächste Mädchen und sie wird dann die Richtige sein. Ich werde sie heiraten und glücklich sein und vergessen...Und niemand wird jemals erfahren, was zwischen Antonio und mir gefunkt hatte. Das ist nur eine dumme Phase, nichts weiter. Nichts weiter. Nichts weiter."
Diese Dinge redete er sich nun ein; ganz allein aus der Angst tatsächlich verliebt zu sein. Denn er wollte es nicht. Lovino fühlte sich elendig, wenn er daran dachte und kreierte unnötig Schuldgefühle und Scham. Er machte sich offensichtlich etwas vor und wollte sich vom Gegenteil überzeugen.
'Lovino liebte ihn sicher nicht wirklich.'
'Lovino war hetero.'
Oh, würde er doch endlich aufhören, sich selbst anzulügen.
Egal, wie sehr er sich davon überzeugen will, es ändert nichts daran.
Lovino war bi.
Er liebte Antonio. Er liebte ihn aufrichtig.
Es war kein Nebenprodukt seiner Probleme.
Es war echt.
Basta.
"Oh, verdammte Scheiße...gottverdammt...", ein tränendurchzogener Schluchzer entfloh ihm und schon tropfte die erste heiße Träne auf seine gefalteten, erkalteten Hände. Er machte sich etwas vor. Es hab kein Entkommen, er sah es ja ein. Es half nicht, sich anzulügen und Lovino wusste das, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte.
"Du sollst den Namen des Herren nicht missbrauchen, Zwerg. Das macht sich nicht gut. Vor allem nicht in einer Kirche." Zischte urplötzlich eine schräge Stimme mit stark deutschem Akzent von der Seite und Lovino zuckte es vor Schreck in all seinen Gliedern, als sei ein Blitz in ihm eingeschlagen.
Sein Herz raste und die Augen riss er so weit auf, als stünde im Moment die Erscheinung Mariens vor ihm. Ein Paar ungewöhnlich rötlich-blauer Augen bohrte sich durch seine Seele und brachte seine Knie zum Schlottern wie ein Windspiel am Fenster während der herbstlichen Winde. Schneeweißes Haar strahlte ihm entgegen, doch so wie die Haare am Haupt, so waren auch die Wimpern des Mannes zu seiner Rechten weiß wie die feinen Adern einer Eisblume im nördlichen Winter.
Seiner Kleidung nach zufolge musste er ein Geistlicher sein, denn das Kreuz Jesu trug er als Kette um seinen Hals. Und dass er einfach alt wäre und deshalb schon mit weißem Haar zu kämpfen hatte, war unmöglich, denn sah er dem Kleriker ins Gesicht, konnte er kein Jahr älter als Antonio, Francis oder Abel sein. Keine Falten, keine Altersflecken.
Ein Albino, schlussfolgerte Lovino daraufhin.
Da ging ihm plötzlich ein Licht auf. Hatten Michelle und Emma nicht vor wenigen Monaten in Francis Bar etwas von einem Mesner aus dem Norden geplappert, der nun Pfarrer Marco unterstützte? Ob dieser Kerl derjenige war? Die Beschreibung passte zumindest wie die Faust aufs Auge.
"Scusa", Lovino rutschte einige Zentimeter von dem jungen Geistlichen weg und hoffte, dass somit jegliches Gespräch endgültig unterbunden wäre. Dem war allerdings nicht so und der Albino plapperte vor sich hin. "Sag das nicht mir, sondern dem Kerl da oben", mit dem Finger zeigte er senkrecht zur Decke hoch - er meinte wohl Gott im Himmel, "Aber wie ich seh' scheint es dir ziemlich übel zu gehen, wenn du plötzlich hier anfängst zu heulen wie ein Kind."
"Seit wann geht sowas wildfremden Leuten wie Sie das an?" Lovino wischte halbtrockene Tränen von seinem Gesicht und tat so, als hätte er keinerlei Kummer, obwohl er wenige Sekunden zuvor wieder zur Heulsuse geworden war. Was dachte dieser Typ eigentlich, wer er war? Sie hatten noch nie miteinander geredet und schon wollte er eine Beichte?
Der Albino zuckte mit den Schultern und verhielt sich allein mit seinem frechen Mundwerk ganz atypisch für einen Mann der Kirche. "Naja, ich bin ja schon sowas wie ein Seelsorger in der Art. Also rein theoretisch ist das meine Arbeit. Von dem her, wäre es richtig traurig, würde ich das nicht sofort erkennen. Ich hab auch übrigens einen Namen. Ich heiße Gilbert."
"Aja, schön für dich." Meine Fresse, Lovino fuhr sich durch sein Haar, er hatte keinen Bock auf solche aufdringlichen Leute. Vor allem nicht jetzt! Schon wollte er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aufstehen und sich woanders hin verpissen, aber der Mann schien ihn hier gefangen zu halten. Und das allein mit seiner Anwesenheit. "Hör zu, ich finde es ja ganz nett, dass du mir zuhören willst, aber das ist für mich nun einmal ein sehr privates Thema. Ich muss das mit mir selbst aushandeln."
"Das versteh ich." Gilbert nickte daraufhin und sein Blick glitt von Lovino hin zum Altar. Das Licht der brennenden Kerzen flackerte. Das Wachs schmolz nach und nach durch die Wärme der Flamme. Die Wachswand, die die Glut umschlang, zerging. - Doch so war es mit den Menschen. So viele von ihnen hatten um sich Mauern errichtet, doch erfuhren sie einen Funken Licht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, so drohten diese einzustürzen und der Mensch machte sich verwundbar, aber er öffnete sich auch, mit dem Wunsch, diese Mauern nicht mehr zu benötigen und stattdessen von selbst wie eine Flamme stark und selbstbewusst zu sein. "Manche Probleme erfordern einfach etwas Eigeninitiative, um sie zu lösen oder überhaupt erst benennen zu können. Egal was es ist, ich wünsch dir viel Glück."
Nickend murmelte Lovino ein "Danke" und zupfte dabei nachdenklich an den dünnen Stoffbändern des Gotteslob, flocht einen Zopf daraus, als Gilbert plötzlich eine Frage stellte, die Lovino aus der Fassung brachte.
"Sag mal, kann es sein, dass du öfters bei Francis' Bar abhängst? Ich könnte schwören, dich schon einmal wo gesehen zu haben."
"Hä? Was?", Lovino stoppte und setzte sich direkt wieder aufrecht hin, "Sag nicht, jemand wie du geht in eine Bar und sauft sich zu? Hast du nicht...keine Ahnung, so Klosterzeug zu tun?"
Sprachlos. Lovino hatte keine Worte dafür. Dass ein Mann der Kirche ihn anscheinend in Francis' Bar gesehen hatte und anscheinend selbst darin saß...Für Lovino sprengte das tatsächlich sein Weltbild. Vor allem, da Francis' Bar in der Stadt unter anderem auch als bekannte und sichere Basis für queere Menschen galt, die zum Glück noch nie ein Problem mit homophoben Leuten oder der Regierung hatte. Lovino fragte sich bis heute, wie das funktionierte, wenn in der Regel die einzige Möglichkeit für eine solche Versammlung eine Geheimhaltung erforderte.
Man hörte viel zu oft in den Zeitungen, dass Clubs oder Bars blitzschnell geschlossen wurden, kaum waren die Infos an die falschen Leute geraten.
Aber aus irgendeinem Grund hielt Francis' Bar allem stand und das, obwohl sie berühmt berüchtigt war. Lovino zweifelte, dass das nur reines Glück war.
"Zwerg, schau mich an und schalt deine Birne mal ein." Gilbert schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Arme vor der Brust. Für den Moment wirkte er nicht wirklich anders als Lovino. "Schau ich aus wie der Bilderbuch-Pfaffe, der in deinem Kopf rumspukt? Nein, eben nicht. Erstmal müsste man allein an meiner Art erkennen, dass ich wohl nicht ganz freiwillig hier im Rahmen der Kirche arbeite - aber das ist eine andere Geschichte - und zweitens bin ich sicher kaum älter als du. Und junge Männer wie wir fabrizieren gerne hirnrissige Scheiße und saufen uns zu. Klerikerleben hin oder her, ich lass mir nicht meine Jugend nehmen, insbesondere, wenn man einen Barkeeper wie Francis als Kumpel hat. Es wäre eine Schande für die Welt, zu verpassen, wie ich wohl der allercoolste und modernste Mönch der Welt bin." Triumphierend hob Gilbert das Kinn an und genoss die Aufmerksamkeit, die er im Moment bekam. Auch, wenn seine Umstände ihn in diese Berufung gezwungen haben, würde er noch lange nicht aufgeben, dennoch der zu sein, der er im tiefsten Inneren war. Gilbert war eben sich selbst in jeder Lebenslage treu, Lovino nicht. Lovino verleugnete sich und versuchte jemand zu sein, der er nicht war. Trotzdem war Gilberts Selbstgefälligkeit etwas, das Lovinos empfindlichen Nerv traf.
"Ich dachte Hochmut wäre eine Todsünde." - "Ja, ist sie auch, aber das hier ist kein Hochmut, Zwerg, sondern Selbstbewusstsein und Selbstliebe. Man muss sich eben erst selbst liebhaben und akzeptieren, bevor man andere ordentlich und gesund lieben kann. Ansonsten ist alles irgendwann zum Scheitern verurteilt."
Sich selbst lieben und akzeptieren, bevor man andere liebt?
Dieser Satz brachte Lovino zum Nachdenken und er wandte den Blick von dem rotzfrechen Mann ab. Wieso klang dies so, als hätte Gilbert gerade diese Dinge am eigenen Leib erst erfahren und lernen müssen? Lovino gefiel Gilberts lautes und unkonventionelles, geradezu nerviges Verhalten nicht, aber tatsächlich schien er nicht ganz so dumm zu sein. Ob da etwas Wahres dran war?
"Jetzt hab ich wohl einen Nerv getroffen, kann das sein?", leise auflachend patschte er mit der flachen Hand gegen seinen linken Oberschenkel. Aber Lovino beachtete ihn gar nicht, sah still gerade aus zum Tabernakel mit all den goldenen Zierden, die sich um das Allerheiligste rankten, schwenkte seine Aufmerksamkeit aber dann zu den kleinen Kerzen hinter rotem Glas. Allein der Anblick schenkte ihm eine wohlige Wärme und erfüllte ihn von innen heraus mit Ruhe, sodass er, ohne Nachzudenken, mit ausgeglichenem Atem zu sprechen begann.
"Wäre es nur so einfach, sich zu akzeptieren, wie man ist." Lovino hielt inne, starrte aber weiter die schönen Lichter an, während ein oder zwei Leute an Gilbert und ihn vorbeischlenderten.
"Wenn plötzlich die ganze Welt auf dem Kopf steht..., wenn alles, was man zuvor über sich selbst wusste, ganz ohne Vorwarnung, eine Wende hat und du dich selbst nicht mehr erkennst...", gierig sog er die kühle Luft der Kirche auf; in seinen Lungen schnitt sie jedoch wie ein leicht angesetztes Messer, das über sie glitt, aber nicht verletzte, "Ich will mich akzeptieren. Ich will es wirklich." Aber für den verzweifelten, zerstreuten und hilflosen Lovino hieße dies, Mut aufbringen zu müssen, den er so schwer fassen konnte.
Dann schloss er für einen Moment die Augen, sah noch die lichten Farbflecken, die sich in sein Auge für wenige Sekunden gebrannt hatten, ehe sein Kopf ihm einmal mehr Antonio mitsamt seines dämlichen Grinsers vorspielte. Wenige Meter weiter hörte man ein Zischen von einem Streichholz, das gerade seine Flamme erhielt, indem es über die raue Fläche gezogen wurde. Ein weiteres Licht entzündete sich; die Dunkelheit der Kirche wurde heller.
"Dann trau dich." Diese drei Worte waren alles, was der Albino neben ihm zu sagen hatte und zu Lovinos Überraschung hielt er seine Klappe und lauschte tatsächlich dem, was er zu sagen hatte.
"Ich habe aber Angst", entgegnete er sofort und spannte seine Schultern an.
"Aber manchmal ist es nötig, über seiner Angst zu stehen. Sie darf dir nicht dein Leben stehlen, sonst wirst du es eines Tages bereuen. Ich sage das aus reiner Erfahrung." Gilbert verzog keine Miene und doch verspürte Lovino anhand seiner Worte eine gewisse Trauer, vielleicht war es auch Mitgefühl für ihn. Aber dann stand Gilbert auf, ohne einen weiteren Mucks von sich zu geben und ließ den jungen Mann mit seinen Gedanken allein. Ob er das tat, da er merkte, dass Lovino Zeit zum Denken brauchte oder weil er keinen Bock mehr hatte, blieb wohl eine unbeantwortete Frage.
Lovino krümmte sich nach vor, stützte die Unterarme an seinen Oberschenkeln ab und ließ den Kopf hängen. Brachen Gilberts Ratschläge nun wirklich bei ihm durch? Vielleicht. Zumindest schien diese Bestätigung zur Akzeptanz seines Selbst durch einen anderen ein kleines Wunder zu bewirken und tausende Tonnen Last fielen von seinen müden Schultern.
Ungeachtet wer sich um ihn herum befand, hob er sein Haupt doch wieder an, blickte hinauf zum Sonnenlicht, das durch das Spitzbogenfenster fiel und lächelte mild, als die Strahlen der Sonne durch das grün gefärbte Glas strahlten und er direkt wieder das smaragdgrüne Paar, das seine Knie erweichte, vor seinem inneren Auge hatte.
Die Sonne...Antonios Charakter war wie eine Sonne zu seinem Mond.
Antonio war warm.
Antonio strahlte.
Antonio war wie pures Licht.
Lovino selbst war wie ein Mond.
Dunkler.
Versteckter.
Kühler.
Aber auch er begänne zu strahlen, wenn die Sonne - Antonio - ihm die Chance dazu gab.
Oh, es war doch alles hinfällig, gar nutzlos, was Lovino anstellte. Es brachte nichts, dagegen zu rebellieren. Gilbert hatte recht und Lovino gestand sich nach all den internen Kämpfen endlich die Wahrheit ein, vor der er sich bislang gefürchtet hatte.
"Ich liebe Antonio. Ich liebe ihn wirklich. Das weiß ich jetzt."
Doch wenig wusste er, dass diese leise gesprochenen Sätze das Ohr eines anderen erreichten.
***
Schwarzer Stoff schwebte wie Nebel zu Boden herab, versteckte mit einem Mal Haut, Haar, Arm und Bein. Das Herz schlug so schnell wie der vielstimmige Chor der Kirchenglocken in der Nacht auf den Ostersonntag, aber sein Körper war wie gelähmt. Kein Glied rührte sich mehr, keine Kälte oder Wärme könnten den jungen Mann etwas anhaben. Auch das Jucken der Verbände, die ihm sein heimlicher Liebster umgewickelt hatte, existierte nicht mehr in seiner Realität.
Mit weit aufgerissenen Augen hielt er sich den Mund zu und mit angewinkelten Beinen kauerte er am Boden, direkt hinter den Sitzbänken der am meisten vergessenen Ecke der Kirche, dort, wo das Licht nur spärlich seinen Zauber verwirklichte.
Was...Was hatte er gerade gehört?
War das...Lovino?
Nein, er musste sich verhört haben. Es war Wunschdenken, nein, vielleicht war er im Moment in seiner Traumwelt gefangen, aber...
Weswegen fühlte es sich so real an? So richtig? So...
Antonio traute sich nicht zu atmen. Aber sein Herz rannte einen Marathon mit der personifizierten Zeit selbst, die ihm immer einen Schritt voraus war, was als Nächstes käme. Und dann...dann wurde ihm plötzlich unglaublich warm.
Warm in der Brust.
Warm im Gesicht.
Und in seinem Bauch kribbelte es, als wäre er selbst der Resonanzkörper einer Gitarre, die soeben eine Melodie anspielte, die traumhafter nicht sein konnte.
Schluckend bemühte sich Antonio seine Gedanken zu sammeln, bewegte den Kopf nahezu mechanisch herum. Er hatte sich aus Lovinos Wohnung geschlichen, kaum hatte Abel ihn verlassen, sich einen dunklen Umhang umgebunden und war dem nächsten Auftrag hinterhergelaufen, den man ihm durch Briefe der letzten Tage erläutert hatte. Dass sein Körper noch nicht vollständig erholt war, ignorierte Antonio gekonnt, auch wenn sich jeder Schritt wie ein weiterer Schlag mit einer Eisenstange anfühlte. Antonio wollte nichts mehr mit diesen Mordserien zu tun haben, insbesondere nachdem sie ihn derartig verletzt hatten, und doch trieb ihn die Angst, Lovino einmal mehr in Gefahr zu bringen, weiterhin an. Und den Schwur, den er leistete, durfte er Lovinos Sicherheit zuliebe nicht brechen.
Aber nun, wo er doch eigentlich Lovinos Abwesenheit ausnutzen wollte, machte ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung.
Lovino war zur selben Zeit am selben Ort. Antonio hatte ihn anfangs nicht bemerkt, so vertieft er in seinen Gedanken und seinem verhassten Auftrag war, aber als ihm seine Stimme zu Ohren kam, die alle seine Sinne automatisch auf den kleineren Italiener richteten, riss es ihn aus jeglichen Gedankenspielchen heraus und schubste ihn hinein ins kalte Wasser der Realität.
Und dann...und dann bildete er sich ein, zu hören, dass Lovino in ihn verliebt wäre? Nein, Antonio verleugnete das. Lovino würde doch kein Interesse an ihm zeigen. Seine Ohren trogen ihn. Dennoch...dennoch wäre es eine Lüge zu behaupten, dass allein die Vorstellung daran, diese Worte aus Lovinos Mund zu hören, Antonios Welt nicht gänzlich auf den Kopf stellten.
Aber dafür war nun keine Zeit. Antonio musste hier schleunigst verschwinden und das, bevor Lovino ihn auch nur ansatzweise entdeckte. Flott sah Antonio nach rechts über die Schulter, dann nach links. Die Kapuze seines Umhangs verdeckte ihm zwar einen Teil der Sicht, doch er sah genug, um zu erkennen, dass die Luft rein war und er sich heimlich aus dem Gotteshaus schleichen konnte. Sich aufrappelnd zog er den schwarzen Stoff nah zu sich, warf einen letzten Blick nach hinten, wo er direkt Lovinos Hinterkopf entdeckte.
Sie waren sich so nah und doch so fern.
Antonios Herz entlud einen elektrisierenden, stechenden Schmerz in seiner Brust und die Dualität von Liebe und Leid suchte ihn einmal mehr wie ein niemals endender, wiederholender Albtraum heim, als er seinem Lovino den Rücken zudrehte und in Richtung Hintertür verschwand.
Oh, wie scheußlich Antonio sich nur fühlte. Und, oh, wie die Angst in ihm tiefe Wurzeln schlug. So gern und sehnlichst er sich diese Herzensverbindung mit Lovino auch wünschte...wie schön und wundervoll die Wärme und unbeschreibliche Freude in seinem Körper Einzug fand, so stark war eben auch die Furcht davor, dass sich der Albtraum wiederholt, der ihm einst Roderich gekostet hat.
Antonio hatte Angst, wieder zu lieben.
Antonio hatte Angst, wieder zu verlieren.
Antonio hatte Angst davor, erneut in dieselbe Misere zu fallen und jemanden, der ihm kostbar war, in den Ruin zu treiben.
Doch zur selben Zeit wollte er doch das Glück umarmen, sich darüber erfreuen und fröhlich sein.
Ach, wäre die Welt nur einfacher, schoss es ihm durch den Kopf, als er die Tür hinter sich schloss und in eine spärlich besuchte Nebengasse flüchtete, um den Mantel von seinem Leibe zu reißen.
Dann sah er zum Himmel hinauf, zur Sonne, die sich in jenem Moment hinter einer dicken, grauen Regenwolke versteckte und er nahm einen tiefen Atemzug, strich sich mit den Fingern durch seine dichten, braunen Locken und seufzte verzweifelt.
"Warum kann mir niemand anderes sagen, was ich wirklich will?"
~♥~
Der Stundenzeiger drehte sich mehrmals um die eigene Achse, Tag und Nacht wechselten sich ab und Wunden verheilten, bis sie nur mehr von einer schwachen Kruste geschützt wurden. Zahlreiche Taschen und Koffer standen in der winzigen Einzimmerwohnung, die Lovino als sein Heim betitelte. Bald würde er zu Michelle ausziehen, in der Hoffnung vor den Stadtmördern sicherer zu sein und Antonio tat hoffentlich Ähnliches. Der Gedanke daran, dass Antonio, in der Einsamkeit seiner Wohnung viel zu leicht und unauffällig zu einem Opfer werden könnte, bereitete dem jungen Italiener mächtige Bauchschmerzen.
Er atmete tief ein, betrachtete sich selbst in dem winzigen Taschenspiegel in seiner linken Hand und versuchte aus seiner grimmigen Alltagsmiene, ein Lächeln zu zaubern.
Es funktionierte, wenn auch offensichtlich mit Mühe und Zwang. Lovino hatte sich in Schale geworfen; die schönste Hose, das feinste Hemd und die passende Jacke. In seiner rechten Jackentasche befanden sich winzige Knospen und Blütenkelche von Veilchen und Lavendel.
Mit pochendem Herzen rückte er diese zurecht und fühlte, wie es in seinen Wangen fürchterlich warm wurde. Eigentlich wollte er diese violetten Blumen mit Stolz tragen, so wie es Antonio mit seiner grünen Nelke tat, aber zur selben Zeit würde er sie am liebsten so stark verstecken, dass lediglich sein am nächsten stehender Gegenüber gerade noch so die Farbflecken erkannte. Veilchen und Lavendel; eigentlich trugen diese Blumen in der Regel lesbische und bisexuelle Frauen als geheimes Erkennungszeichen, aber Lovino fand einfach nicht heraus, wie er sich als Mann sonst am besten wortlos signalisieren sollte.
Sich zu offenbaren, es Antonio zu beichten. Das war Lovinos neues Ziel für den Tag. Er hatte ihm einst anvertraut, schwul zu sein und das in einer Gesellschaft, einer Zeit, in der jegliche gleichgeschlechtliche Annäherungen und Akte derartig verpönt wurde und, wenn es falsche Ohren erreichte, mit Gewalt endete, die noch dazu in gewissen Graden normalisiert und akzeptiert war. Bestimmt war das ein massiver Vertrauensvorschuss seitens Antonios, immerhin kannten sich Lovino und er zu jener Zeit erst wenige Wochen und doch hatte er ihm so ein persönliches und verletzliches Geheimnis offenbart. Daher war es nur fair, wenn gerade er der Erste wäre, dem er seine Realisation erzählte.
Auch wenn genau er auch derjenige war, der ihm sein Herz gestohlen hatte, aber eins nach dem anderen, Lovino. Du musst dich erst daran gewöhnen, dich selbst so anzunehmen, wie du bist. So etwas geht auch nicht von heute auf morgen, aber die Akzeptanz ist der erste Schritt zur Besserung.
Aus dem Augenwinkel warf Lovino einen raschen Blick auf seine geliebte Taschenuhr.
Es war halb neun am Abend. Er musste los, denn sonst ließe er Antonio zu lange warten. Schon wieder spürte er den Puls in seinem Hals wie ein verschlucktes Stück Focaccia.
Er hatte sich tatsächlich mit Antonio verabredet. Er. Mit Antonio. Gott, war es peinlich, als er vorgestern fragte, ob sie am Wochenende wieder in Francis' Bar abhängen wollten. Bestimmt war er rot geworden, wie immer, wenn er sich für etwas schämte oder aufgeregt war. Und...wieso hatte er nicht Emma, Michelle und Abel auch erwähnt? Er hatte nur von Antonio und sich selbst gesprochen. Scheiße, hoffentlich kam der Bastard nicht auf idiotische Gedanken, die er ihm im Nachhinein aus dem Kopf prügeln musste.
Seine letzten sieben Sachen packend, drückte Lovino die Türklinke hinab und schritt mit butterweichen Beinen durch die Tür.
Alles oder nichts.
***
Es dauerte nicht lange, da sah Antonio endlich seinen süßen Italiener von Weitem auf ihn zukommen. Er selbst stand angelehnt an einer Straßenlaterne im Licht, wenige Meter vom Eingang zur Bar entfernt.
Die Worte, die er wenige Tage zuvor in der Kirche nebenbei aufgeschnappt hatte, hingen ihm immer noch im Gedächtnis, aber je öfter er Lovino sah und desto normaler er sich gegenüber ihm verhielt, desto mehr vermutete er, sich einfach verhört zu haben.
Lovino dagegen, kaum hatte er Antonio erreicht und ihm zur Begrüßung ein befangenes Lächeln geschenkt, dass er allerdings wenige Sekunden später, wie eine Pille runterschluckte, litt direkt unter Puddingbeinen, je näher er Antonio kam.
Mit dem Laternenlicht im Rücken sah er aus wie ein Halbgott.
Breite Schultern, die durch das Licht aber weiche Züge erhielten.
Das dämliche Idiotengrinsen, das mit der Sonne, dem Mond und den Sternen um die Wette strahlte und Lovino einen Schwarm an Bienchen in seinen Magen in Aufruhr versetzte.
Und die grünen Smaragde, die ein Teil von ihm waren und durch die dicken, braunen Locken nur noch heller leuchteten und voller Leben waren, dass Lovino sich vorstellte, wie die Lebensfreude nur heraussprudelte und auf sein fahles Dasein einen farbenfrohen Schleier legte.
Antonio sah unverschämt gut aus, aber...tat Lovino das für ihn auch?
Das Lächeln erweichte, als Antonio bemerkte, wie sich Lovino seine weiche Haarpracht mit den Fingern nervös zurecht richtete. "Du hast dich aber herausgeputzt, Lovino." Sein Blick glitt von seinem Gesicht aus seinen Körper herab, als ihm plötzlich etwas Spezielles ins Auge stach.
"Ja, soll ich etwa wie ein Penner daherkommen? Mein Gott...", kratzbürstig wie immer spuckte Lovino seine groben Sprüche aus und stemmte die Hände in die Hüften, Antonios geweitete Augen hatte er schon lange bemerkt, doch solange er ihn nicht auf die Blumen ansprach, desto länger zögerte er das Gesprächsthema erst recht hinaus.
"Lovino, du weißt schon, dass-", Antonio deutete direkt auf die bedeutsamen Blumen hin, aber gegen Lovinos Plan, wies er ihn selbst doch wieder ab.
"Lass uns reingehen. Es ist kalt hier draußen." Die Oberarme warm rubbelnd sah Lovino Antonio in die Augen, sodass er verstand und Antonio nickte sofort, geleitete seinen Freund zur Tür der Bar und hielt sie für ihn auf. Antonios Puls schoss in die Höhe, als er bereits alle möglichen Theorien und Befürchtungen im Kopf durchging, denn natürlich kannte er all diese geheimen Nachrichten, die sich in gemeinsamen Kreisen verbreiteten und damit auch Lovinos Lavendel und Veilchen-Gesteck in seiner Brusttasche.
Aber wusste Lovino selbst über die Bedeutung Bescheid? Antonio wollte daran zweifeln, aber wenn ihm die Worte von der Kirchenszene wieder einfielen, dann gab es einzig und allein ein Ergebnis.
Oh, Antonio ahnte schon, was kommen würde, und es gab ihm einen guten Schuss Freude und Furcht zur selben Zeit.
Der Abend verlief recht unspektakulär. Beide Männer tranken das ein oder andere Gläschen, sprachen miteinander, als sei nie eine Spannung zwischen ihnen gewesen, auch die versteckten Signale, die Lovino von sich gab, rutschten mehr und mehr in den Hintergrund und verschwammen zur Gänze in ihren Gesprächen. Allerdings nur so lange, bis Lovino, vom Selbstbewusstsein getrieben, das ihm der letzte Shot verpasst hatte, die Gunst der Stunde nutzte und Antonio direkt ansprach.
"Du, Tonio", räusperte er sich und er senkte seine übliche Lautstärke, sodass Antonio sich zu ihm über den Tisch vorlehnen musste, um ihn zu hören, "Ich brauche kurz frische Luft, kommst du mit?"
Natürlich hatte Antonio zugestimmt und verzog sich gemeinsam mit seinem Freund in den weitaus ruhigeren Hof. Bei solchen Temperaturen trafen sich lediglich eine Handvoll Leute in den Ecken, um ihre Zigaretten zu rauchen oder um sich vom Lärm der Bar zu erholen. Lovino kam das gerade recht, denn so könnte er mit Antonio in Ruhe sprechen. Sie schlichen sich vorbei an ein paar Jugendlichen, die gerade mit dem Feuerzeug spielten, bis sie eine menschenleere Bank fanden, weit weg von allen anderen. Es musste ungefähr dieselbe sein, wie damals, als sie im Sommer im Hof tanzten und Antonio danach erste Hilfe benötigte, weil der Volltrottel in die Rose gebissen hatte.
Genau dort setzte sich Lovino als Erstes hin und zog Antonio am Ärmel mit sich. Er ahnte nichts, die Fragen, die er vorher hatte, waren schon vergessen. "Geht's dir auch gut, Lovi? Ich glaube hier haben wir lange unsere Ruhe. Wenn dir kalt wird, sag es mir, ich kann dir meine Jacke geben."
"Nein, danke." Lovino wies die Geste augenblicklich ab, auch wenn sie klischeehaft verlockend klang, stattdessen drehte er sich mit dem Oberkörper in seine Richtung, schnappte sich seine beiden Hände und richtete Antonios gesamte Aufmerksamkeit auf sich. "Also, ähm, es gibt nämlich etwas, das ich dir sagen muss. Und drinnen bei den ganzen Angesoffenen und der Lautstärke ist es richtig beschissen, deshalb wollte ich raus und..."
Nicht merkend, wie er von Wort zu Wort schneller plapperte, begann Lovino Antonios Hände fester zu drücken. Antonio selbst bemühte sich mit seinem ermüdeten, leicht angetrunkenen Geist sehr, seinem Freund zuzuhören, sodass er kaum Zeit hatte, über das Nachzudenken, was er tat. "Shh...", zischte es zwischen seinen Zähnen hervor und er kam Lovino sekundenweise näher, ehe er mit beruhigender, rauer Stimme fortsetzte, "Du musst dich nicht rechtfertigen, warum wir hier reden..."
"Ach so...okay", Lovino schluckte, als sich ihm ein müder Antonio annäherte, wich allerdings nicht zurück und ohne es zu bemerken, sprach auch er umso leiser und sanfter zu ihm, "Also...Du hast mir damals doch erzählt, dass du auf Männer stehst..."
"Mhm." Nickend antwortete Antonio und schloss die Augen.
"Da hast du mir sicher viel vertrauen müssen, deswegen...", Lovino atmete tief ein und sein Hals schnürte sich zu, als er Antonios Stirn an der seinen angelehnt spürte. So nah waren sie sich noch nie. Er konnte praktisch seinen Atem und seine Wärme auf sich spüren. Oh, wäre er vom Alkohol nicht so ruhiggestellt, würde sein Herz wohl Saltos schlagen. "Deswegen will ich dir das jetzt auch als erstes anvertrauen. Es ist nur fair."
Wieder ein "Mhm" seitens Antonio, aber nun öffnete er wieder langsam die Augen. Er musste Lovino zuhören und er durfte nicht einschlafen, nur weil sie plötzlich an einem so verlockend ruhigen Ort gelandet waren, der zum Siesta Machen einlud. "Ja, ich hab dir damals schon so viel vertraut...tu ich immer noch."
"Danke...", ein schüchternes Lächeln zierte nun seine Lippen und er drückte einmal mehr die Hände seines Gegenübers; es fühlte sich einfach so richtig an, "Antonio, ich denke, ich mag Männer auch, so wie du. Aber gleichzeitig auch Frauen. Ich glaube, ich bin bisexuell."
"Hm...", Antonios Augenlider fielen zu, aber ein breites Grinsen war auf seinem Gesicht zu sehen, dass sich dahinter jedoch neben der tiefen Freude auch ein Funken Ängstlichkeit und Sorge versteckte, bemerkte Lovino offensichtlich nicht, "Das hab ich mir gedacht. Das ist schön, Lovi. Danke, dass du mir das als erstes gesagt hast. Ich fühle mich wirklich geehrt." Dann schlang er schon seine Arme um den kleineren Mann und zog ihn in eine warme, herzige Umarmung. Dann atmete er tief ein und merkte sich Lovinos süßen Duft; hoffentlich für ganz lange Zeit. Aber auch Lovino klammerte seine Arme direkt um den Oberkörper Antonios und spürte bereits, wie abertausende Emotionen hinter der hemmenden Wand des Alkohols Purzelbäume schlugen und eines seiner tiefsten Bedürfnisse allein durch diese Nähe gestillt war.
Lovino liebte Nähe.
Lovino liebte es zu kuscheln.
Lovino liebte es gehalten zu werden.
Und am allermeisten liebte Lovino Antonio, aber dieses Geheimnis würde erst an einem anderen Abend aufgedeckt werden. Denn in dieser Nacht stand zuerst die eigene Akzeptanz im Vordergrund. Und gerade diese hatte Lovino nach all seinem Leiden endlich verdient...
Aber, dass weit weg, jenseits der Straßen und Gassen der Stadt die Funken sprühten und ein loderndes Feuer die Herbstnacht auf Trab hielt, konnte keiner der beiden auch nur im Geringsten erahnen.
~♥~
(Freut auch auf das nächste Kapitel, denn für das hab ich vor einigen Monaten sogar eine (schlechte) Animatic gemacht! Also hier, ein kleines Sneak Peak :D)
~♥~
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