Kapitel 26 - Abels Geheimnis
Mit starren Augen sah Abel ins dunkle Nichts. Das kühle Kissen unter seinem Kopf und die wärmende Decke hielten ihn davon ab, zu vermuten, er fiele endgültig in den zeitlosen Schlund des Todes. Obwohl es spät in der Nacht war und Emma in dem Bett zwei Meter entfernt vor sich hin schlief, lag Abel hellwach in der Dunkelheit trotz seines todmüden, leidenden Körpers.
Aus der schwarzen Leinwand vor seinen Augen traten Gesichter hervor; so real sie allerdings auch sein mochten, Abel erkannte ihre Fiktion. Er bildete sich Dinge ein. Womöglich aus reiner Müdigkeit, andererseits trüge eine schmerzliche Erinnerung daran die Schuld.
"Herr Jansen."
Natalyas Stimme bebte in seinem Kopf und mischte sich in sein wahnsinniges Gedankenspiel hinzu.
"Wenn Sie Ihre Arbeiten nicht erledigen, sehen sich Eure Vorgesetzten dazu gezwungen, zu anderen Mitteln zu greifen."
Verdammt!
Abel drehte sich zur Seite und bemühte sich die Erinnerungen dieses Nachmittages auszuschalten, aber er war zu schwach. Und neue Gesichter traten aus der Finsternis hervor. Visagen, die Abel zum ersten und hoffentlich letzten Mal sah.
Erneut brannte seine Haut.
Erneut peinigte ihn eiserner Druck.
Erneut fand er sich in gänzlicher Bewegungsunfähigkeit.
Die Ketten...sie schepperten und krachten bei der kleinsten Bewegung.
Abel wollte losschreien. Die Ereignisse lagen erst wenige Stunden zurück und doch war es so, als geschähe ihm in diesem Moment diese Tortur erneut. Seine Seele drohte seinen Körper vor Panik zu verlassen. - Abels Bewusstsein verschob sich in ein Gefüge zwischen Realität und einer anderen gefühlstoten Welt. Zitternd formten sich seine Finger zu Fäusten, krallten sich mit aller, noch verbliebener Kraft in die Decke, um zumindest irgendwie daran erinnert zu werden, dass er noch lebte..., dass er noch seine Umgebung spüren konnte.
Was hatten sie mit ihm gemacht? Abel fand selbst keine Worte und trotz der deutlichen Gefühle, herrschte in seinem Gedächtnis nur ein verworrenes, verwischtes Nichts. Dieses Mal war es anders gewesen.
Dieses Mal war die eine Narbe an der Stirn nicht die höchste Drohung gewesen...
Unmenschlichkeit...
Egal, was ihm widerfahren war - das Unausgesprochene - es war falsch, unmenschlich und eine reinste Qual. Emma dürfte das nie erfahren. Trotz ihrer Fragen konnte Abel ihr nichts antworten und schwieg wie ein Grab. Wie hätte er ihr das alles, ohne überhaupt die Worte zu besitzen, erklären können? Er schaffte es nicht einmal, das alles in Gedanken abzuklären.
Folter...
Plötzlich riss ihn eine altbekannte Stimme heraus.
Eine Stimme, die er seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte.
Eine Stimme, dessen Träger nicht mehr existierte, doch sein Gesicht noch irgendwie auf dieser Welt verweilte.
"Die Niederlande hören sich aber interessant an! Bestimmt inspiriert mich die Landschaft dort für neue Lieder! Wenn du zurückreist, hätte ich nichts dagegen, wenn du mich mitnehmen würdest, meu amigo!"
Tief einatmend legte Abel seine Hand aufs Herz, in seiner Brust zog sich alles Mögliche zusammen und riss einmal mehr alte Wunden auf. Weswegen...Weswegen kehrten die Erinnerungen an seinen Sommer auf der iberischen Halbinsel in einem Moment wie diesen wieder zurück?
"Oh! Da fällt mir ein, ich muss meinem kleinen Bruder schreiben. Echt, der Typ ist so eine Nervensäge! Seit ich weg bin, kann ich tatsächlich mal in Ruhe schlafen, ohne dauernd mitten in der Nacht angequatscht zu werden...Aber tatsächlich vermisse ich den Kleinen. Typisch Familie halt! Du hast ja auch eine kleine Schwester, wahrscheinlich ergeht es dir da so ähnlich. Egal wie sehr sie einem auf den Sack gehen, am Ende hat man sie ja meistens doch lieb."
Abels Glieder wurden schwerer. Er blickte zu jener Zeit zurück...Wie lange war es nun her?
"Abel."
Die Stimme rang nach Luft, röchelte und verlor jede Sekunde an Kraft.
Nein!
Abel riss die Augen auf, setzte sich abrupt auf, sah umher und sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig.
"Falls du jemals meinen Bruder...treffen solltest...Sag ihm, dass ich ihn gern hatte...obwohl ich ihn immer als Trottel beleidigt habe. Pass auf ihn auf..."
"Stopp", ermahnte sich Abel direkt, versperrte mit Mühe den Strom an alten Wunden und flüchtete aus dem Zimmer. Er konnte in dieser Dunkelheit keine Ruhe mehr finden, dafür überfielen ihn zu viele Hysterien und Halluzinationen. Die Kälte des Flures ließ seine Zehen zusammenziehen und als er zunächst unbeholfen mit der rechten Hand nach dem Lichtschalter suchte, fasste ihn eine Flut an Erleichterung.
Er war nicht in seinen Erinnerungen gefangen.
Er unterlag ihnen nicht.
Die Realität war anders. Zwar nicht unbedingt sicher, aber anders und das schwache Licht, der beinahe ausgeglommenen Glühbirne schenkte ihm ein wenig Trost.
Dennoch verfluchte er sein Schicksal dafür, ihn in eine solche Misere gebracht zu haben und ihm nicht einmal eine ruhige Nacht zu gewähren. Warum mischte sich die Erinnerung an ihn hinzu? Als hätte er mit dem Schrecken des späten Nachmittags nicht schon genug Scheiße am Hals.
Müde sank er auf den Stuhl vor dem Esstisch herab und legte den Kopf in beide Hände.
Sie waren eiskalt.
Wie viele Jahre war es denn jetzt schon her? Dreizehn Jahre? Dabei fühlte es sich an, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Abel sah sie immer noch vor seinem geistigen Auge wie einen Film. Er war gerade einmal sechzehn gewesen und dieser eine Typ mit dem frechen Mundwerk, welches er mit einem falschen Lächeln gekonnt versteckte, hatte die Aufmerksamkeit allerlei Persönlichkeiten bekommen. Mit der Gitarre in der Hand stand er sorgenlos in der Gegend rum, spielte seine Melodien und freute sich über jede noch so kleine Münze, die sich in seinem Hut verirrte. Abel dachte im ersten Moment, dass dieser junge Mann an Geldnot litt, doch tatsächlich lebte er sein Leben wie ein König, dem man allen Reichtum und Macht in die Wiege gelegt hatte. Und dass, obwohl er ebenso durchschnittlich durchs Leben schritt wie Abel. Allerdings hatte dieser jemand eine Ausstrahlung, die Abel faszinierte.
Aber nun, gab es diesen jemanden nicht mehr.
Und Abel verlor kein Wort mehr über ihn.
Vielleicht war dies auch nur ein erbärmlicher Versuch, sich nicht mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Vielleicht war es allerdings auch für sich selbst von Vorteil, um nicht durch das Angesicht einer seiner Freunde in schmerzhaften Erinnerungen zu schwelgen.
Einer seiner Freunde...
Antonio. Er glich seinem Bruder Tomás wie ein Zwilling, obwohl sie doch Jahre auseinanderlagen. Abel erinnerte sich daran, wie sie sich vor vielen Jahren im Sommer kennenlernten. Damals, als es ihn für wenige Wochen auf die iberische Halbinsel verschlagen hatte. Er kannte den jungen Mann nicht einmal lange und dennoch verspürte er ein Gefühl von Faszination in seiner Brust. Tomás war ein Freund geworden. Freundschaft...Ein Privileg, das Abel nur selten zu spüren bekam, immerhin war es so unglaublich schwer mit anderen in Kontakt zu treten. Für einen Moment dachte er, es ginge bergauf mit ihm. Für einen Moment vermutete er, er hätte einen Freund fürs Leben gefunden und für einen Augenblick war er stolz auf sich, dass er sich versichern konnte, dass er nicht der Welt alleine gegenüberstehen müsste und dass es Menschen gab, die ihn trotz seiner Eigenart gernhatten. Aber das Glück hielt nicht lange, so paradiesisch es auch auf ihn wirkte. Denn in einer heißen Sommernacht sah er mit an, wie der einzige Freund, den er zu jener Zeit hatte, eines blutigen Todes sterben musste. Wie viele Menschen in dunklen Kutten waren es, denen sie an jenem Mittwoch in der Nähe des Flusses Tejo gegenüberstanden? Es waren nicht zu viele, womöglich hätte Abel die Anzahl mit den Fingern abzählen können und doch waren sie zu stark, um als Einzelner etwas auszurichten. Ihr Gesicht blieb ein schwarzer Schatten in seiner Erinnerung, jedoch merkte er sich die Stimmen. Zwei von ihnen sprachen ausschließlich auf Englisch, vier weitere hatten einen Akzent, der ins Italienische ging, darunter war auch eine Frau und einer, der sich wesentlich älter anhörte als die restlichen Männer. Die Namen waren ihm von den meisten entfallen, denn zu jener Zeit war er lediglich dem Niederländischen und dem Englischen mächtig. Tomás und er waren ihnen zunächst positiv gesinnt, denn sie waren noch jung, nicht einmal ganz erwachsen und angestellt hatten sie erst recht nichts. Es passierte zu schnell, dass sich Abel etwas hätte merken können, die Erinnerungsfragmente, die ihm blieben, waren lediglich Ausschnitte wie ein Schnappschuss einer Kamera. Doch eines blieb ihm erhalten...Das Gefühl der Schuld und des Grauens. Denn Abel konnte nichts tun, als zusehen und den Tod seines neugefundenen Freundes als Warnung sehen. Weshalb sie einen unschuldigen Mann wie Tomás töteten, war ihm bis zum heutigen Tag ein Rätsel und der Zufall, dass er sich gerade viele Jahre später mit Tomás Bruder angefreundet hatte, schien immer noch surreal zu sein. Erzählt hatte er Antonio diese Geschichte natürlich nicht. Immerhin verdrängte er sie schon seit über einem Jahrzehnt aus seinem Kopf, ohne sich damit endlich auseinanderzusetzen. Außerdem: Würde Antonio ihn dafür hassen, seinen Bruder nicht gerettet zu haben? Würde er ihn dafür hassen, so viele Jahre geschwiegen zu haben?
Abel stieß ein Seufzen aus, strich sich die blonden Strähnen aus seiner vernarbten Stirn zurück und schloss die Augen.
Das Licht der Glühbirne flackerte; die Uhr tickte immerwährend im selben Takt.
Ansonsten herrschte Totenstille, denn nicht einmal das Spiel der Grillen konnte zu dieser Jahreszeit die Nacht musikalisch untermalen. Auch nicht das Surren der nervigen Insekten suchte ihn heim.
Abel war allein.
In seiner Stille.
Allein mit seinen Gedanken und einer Bürde, die mit dem vergangenen Nachmittag und der schrecklichen, ruhelosen Nacht ihm einmal mehr auferlegt wurde.
Allein und geprägt mit neuen Ängsten, die sich wohl für alle Zeit in seine Seele gebrannt haben, wie heißes Eisen, das Leder prägte.
***
Tage vergingen, vielleicht ging es bereits auf eine Woche zu und Abels seelische Qual schien sich nicht von allein zu mindern. Das Haus verließ er nur selten - die einzige Ausnahme bildete die Aufforderung, doch bitte einzukaufen- und kaum ein Wort schaffte es über seine Lippen und Emmas Verdacht, dass ihm etwas Unbeschreibliches widerfahren war, konkretisierte sich innerhalb kürzester Zeit. Dennoch war sie alldem nicht mächtig genug, um herauszufinden, was ihren Bruder seit jenem Abend derartig verstörte.
Selbst Michelle blieb ratlos, denn jeder Versuch, mit dem jungen Mann ein Gespräch zu führen, scheiterte und resultierte in kühlem Schweigen. Abel sprach nicht mehr. Weder mit seinen Freunden noch mit seiner eigenen Schwester. Denn in seinem Kopf herrschten zweierlei Enden eines Chaos eigener Art - entweder suchten ihn schreckliche Erinnerungen der Vergangenheit, wodurch sich seine Schuldgefühle als untragbar für ein einzelnes Individuum kennzeichneten, heim oder die Geschehnisse jener Marter, jener Folter, die er im Anschluss des mahnenden Gespräches mit Natalya durch Unbekannte dieser Schreckens-Sekte durchlebte, quälten ihn von morgens bis abends.
Man hatte Abel gebrochen. Abel, ein Mann, der selbst einschüchternd auf andere wirkte und bekannt für seine Hartnäckigkeit und Ausdauer war, war nun nichts weiter als eine vulnerable Person geworden, die tagtäglich damit kämpfte, das Leben wieder als tatsächliches Leben wahrzunehmen.
Menschen konnten grausamer sein, als es das Schicksal oder die Welt jemals könnte.
Doch zugleich konstruierten sie eine 'gute' Scheinwelt, in der sie allesamt Grausamkeit hinter einem Vorwand, dass es nur einen kleinen Prozentsatz der Menschheit beträfe, minimalisierten und verharmlosten.
Doch so ähnlich, wie Abel dem Vertrauen in die Welt entsagt hatte, erging es auch Antonio, der leider keinerlei Ahnung von dem hatte, mit dem Abel parallel zu ihm zu kämpfen hatte. Schlaflose Nächte bildeten Antonios täglich Brot, die Sorge um Lovino wuchs von Stunde zu Stunde an, denn mit jeder fortschreitenden Sekunde, in der Antonio tatenlos dastand, rückte das letzte Gericht über Lovinos Leben näher heran.
Entweder er ließe sich eine bessere Idee als Flucht einfallen - denn würden sie flüchten, müsste er Lovino aufklären und das brachte das Risiko einher, dass Lovino ihn für den Rest seines Lebens aufgrund seiner sündhaften Taten im Rahmen der Organisation verachtete und sich selbst in Lebensgefahr brachte - oder er müsste sich selbst opfern, wenn er der Polizei augenblicklich Bericht erstattete. Denn es war offensichtlich, dass gerade in letzterem Szenario, seine Vorgesetzten Wind von der Sache bekommen würden und ihn schnurstracks ins Grab befördern würden, kaum wäre er eine Sekunde lang allein. Zudem konnte Antonio nicht erahnen, inwieweit sich das ausgeklügelte Netz der Organisation über diesen Teil Italiens spannte. Selbst wenn sie fliehen würden und das Geld dazu hätten...wer versicherte ihnen, dass es in anderen Städten nicht auch Spitzel gab, die ihnen an den Kragen wollten?
Antonio hatte keine Angst vor dem Tod. Er war schon zu lange sein ständiger Begleiter gewesen und das seit Kindestagen.
Aber wenn er zugunsten der Sicherheit anderer sterbe...wer versicherte ihm dann, dass Lovino nichts zustieß? Wer versicherte ihm, dass diese Prinzen der Hölle oder des Blutschwurs oder wie auch immer ihr verdammter Name war, seine Freunde nicht im selben Atemzug zur Strecke brachten?
Bestimmt kannten sie alle seine Verbindungen. Nicht nur die zwischen Lovino und ihm, sondern auch die Verbindungen zu Abel, Emma, Michelle und Francis - obwohl ihm nun die Frage aufgeworfen wurde, ob die sieben Prinzen nicht bereits wüssten, dass Antonio sich dem Mord an Lovino widersetzen würde?
Überdachte er erneut?
Oder spielten diese sieben Männer mit ihm und ließen ihn in dem Glauben versinken, er könnte Lovino vor dem grausamen Tod bewahren, nur um ihn selbst hinterrücks zu eliminieren? Oder wollten sie ihn dabei beobachten, wie er selbst daran zugrunde ging, den Held spielen zu wollen. So oder so, er konnte ihnen solche Abartigkeit an Sadismus zurechnen. Sie mochten es ja offensichtlich, anderen Schmerzen hinzuzufügen.
Also was sollte er tun? Es war hoffnungslos! Und wie löste er den eigentlichen Plan mit Abel? Nun, wo er den Auftrag angenommen hatte, konnte er nicht einfach mir nichts, dir nichts kündigen, mit der Ausrede, einen anderen Arbeitsplatz gefunden zu haben. Nun, wo sie ihn indirekt in ihre intimsten Zonen eingeschleust hatten, würden sie ihn absolut niemals einfach so gehen lassen.
"Ay", Antonio stieß einen Seufzer aus, zündete die Kerze an - denn elektrisches Licht hatte er lediglich in seiner Wohnküche - und sah auf seine Uhr. Halb vier morgens. Er lag also bereits seit vier Stunden im Bett und hatte kein Auge zugemacht; seine verspannten Glieder machten alles nur noch schlimmer. Müde umfasste er den hölzernen Knauf der Schublade des Nachtkästchens, öffnete die Schublade ruckelig und streifte mit seinen Fingern über den halb beleuchteten Inhalt darin. Er spürte sein Erspartes: einige Münzen, die aus seinem Portemonnaie gepurzelt waren, sowie den Brief, den Lovino ihm damals schrieb, als er nach Rom aufbrach. Auch die Notenblätter seines Liedes, das er zu jener Zeit komponiert hatte, versteckten sich unordentlich verteilt darin, doch das, was Antonio suchte, war weitaus kleiner und stabiler.
Mit den Fingerspitzen fühlte er die glatte Oberfläche und fischte das kleine Foto direkt heraus.
Zumindest ein kleines Lächeln schaffte es auf die Lippen des Spaniers, als er den Schnappschuss aus Spanien betrachtete und seine Sorgen beschwichtigten sich für einen flüchtigen Augenblick. "Que lindo..." Erst jetzt bemerkte er Lovinos schüchternen Blick, den er auf dem Foto hatte. Er wirkte so unverschämt niedlich, dass es Antonio beinahe das Herz kostete. Dann sah er sich selbst an, wie er einen Arm um seine Taille schlang. Oh, wie konnte es nur sein, dass er erst jetzt, Wochen später, bemerkte, wie er ihm bereits instinktiv näherkam? Ein Herz voller Liebe zu haben: Es war Fluch und Segen zugleich. Fluch, weil er wegen den kleinsten, unbewussten Annäherungen einerseits mit Hass konfrontiert werden könnte, andererseits aber auch Lovino endgültig vergraulen könnte. Immerhin schien Lovino nicht sonderlich viel Interesse an Männern zu haben...Daher standen die Chancen auf absolut Null. Dennoch schenkte sein Herz voller Liebe durchaus einen Segen. Segen, weil er dieses wunderbare Gefühl der Verliebtheit doch noch ein weiteres Mal in seinem Leben erleben durfte. Es bewies ihm, dass seine Fähigkeit zu lieben nicht mit Roderichs Tod endgültig erlosch. Dennoch...Er hatte Angst noch einmal zu lieben.
Konnte er es sich erlauben, nach all dem Chaos, das er kreierte?
Verdiente er es überhaupt, ein zweites Mal Liebe zu erfahren; betrog er Roderich damit?
Brachte er Lovino nicht noch mehr in Gefahr? Jedes Mal, wenn er Gefühle hegte, schien die Welt ein bisschen mehr unterzugehen und Antonio hasste es wie die Pest.
"Warum darf ich nicht einmal friedlich leben und glücklich bleiben?" Worte, die er in die Dunkelheit entsandte, ohne eine Antwort zu erwarten. Es war eine Frage an das Universum, an das Schicksal, das ihn wohl oder übel so verachtete, wie seine eigene Mutter. Aber das Universum konnte ihm nicht antworten...und so, erstickte Antonio seine Hoffnung auf Frieden und Freiheit im Keim.
Denn egal, was er tat oder wie oft er sich das Bild in seinen Händen anschaute...
Lovino und er standen unter einem schlechten Stern.
Ohne Segen auf ein glückliches Ende, ohne einen positiven Blick in die Zukunft...
~0~
"Tja und dann war nicht nur das ganze Salz im Arsch, weil es zwischen die Holzritzen gerieselt ist, nein, der ganze Krug voller Entgiftungssirup musste natürlich auch auslaufen. Als hätte ich nicht schon genug Probleme!", beklagte sich Lovino, als er sich auf dem Nachhauseweg mit Antonio unterhielt. Der gesamte Oktobertag war komplett für die Katz' und es demotivierte ihn umso mehr, dass Enrico ihn wegen seiner Tollpatschigkeit schelten musste. Was konnte er denn dafür, dass Enrico ausgerechnet die Glas- und Keramikbehälter oben im Regal lagern wollte? Es war doch klar, dass eines Tages etwas zu Bruch ginge, wenn Lovino beim Kehren nach Dienstschluss aushelfen musste. Bei Dienstschluss wollte er nichts anderes mehr tun als zu schlafen, wie konnte sein Boss dann erwarten, dass er übermüdet nichts beschädigte?
"Wie dem auch sei, ich konnte die Scheiße dann alleine wegputzen und ich konnte 'nen Dreck sehen, weil die beschissene Sonne sich auch verabschiedet hat und die Glühbirnen fast verglüht waren. Boah, Mann, ich könnt gerade...Ahhh!" Lovino war der Explosion nahe und fuchtelte mit den Armen herum, um seinen Frust darzustellen. Antonio, allerdings, schmunzelte nur über Lovinos expressives Verhalten. Es war niedlich und lustig zugleich, wie seine tickende Zeitbombe von Freund von seinem Tag erzählte.
Die Sterne besetzten bereits das Himmelszelt wie Diamanten auf einem nachtblauen Königsumhang und der Mond bahnte sich hinter den wenigen Wolken hervor. Lediglich die Straßenlaternen spendeten einen kleinen Fleck voll Licht. In den letzten Tagen ging die Sonne wieder früher unter als damals im Sommer und Antonio blieb dauernd an seiner Seite, als wartete er bereits mit Freude darauf, Lovino nach Hause zu begleiten.
Tatsächlich tat Antonio dies aus zwei Gründen, die Lovino natürlich nicht erahnte.
Einerseits gab ihm der Gedanke daran, Lovino alleine in der Dunkelheit nach Hause gehen zu lassen, große Bauchschmerzen, andererseits sehnte er sich tatsächlich danach, ihn tagtäglich sehen zu dürfen. Die Ohren spitzte Antonio jedes Mal und die Augen blieben wachsam und offen. Auch, wenn Lovinos Leben momentan in seiner Hand lag, traute er den Mördern alles zu.
Plötzlich erfasste eine kühle Brise Lovino, die ihn zum Frösteln brachte und er rieb sich zitternd die Arme. "Brrr, ich hasse den Herbst und den Winter noch mehr. Ich hasse dieses Wetter!"
"Aber es hat doch über zehn Grad, Lovi!" Nun schlugen die Alarmglocken des Spaniers Alarm. Warum fröstelte Lovino so? War etwas nicht in Ordnung mit ihm? Schon überlegte er, ob er sich direkt die Jacke vom Leib reißen wollte, um Lovino wärmen zu können, aber er verwarf die Idee so schnell wie sie auch gekommen war.
"Aber es sind unter zwanzig Grad in der Nacht mit Wind!", knurrend zog sich Lovino seine eigene Jacke näher zu sich und zog die Augenbrauen zusammen. Er war eindeutig ein Mensch, der Wärme liebte. Daran war nun kein Zweifel mehr. Doch gleichzeitig...gleichzeitig zog die Kälte in seiner Brust ein. Aus einem ihm unerklärlichen Grund erlosch eine kleine Glut seiner Seele in ihm und er spürte, wie sein Frust und seine Traurigkeit der letzten Tage wieder hervorkamen. Warum fühlte er sich so urplötzlich wieder so deprimiert und hoffnungslos? Er hatte doch keine Gründe dafür, oder?
"Wir sind doch gleich bei dir zuhause, Lovi. Wenn du erstmal da bist, dann kochst du dir erstmal warmes Wasser und machst dir eine schöne Wärmeflasche, bevor du ins Bett gehst...", Antonios warmes Lächeln strahlte mit der schon lange untergegangenen Sonne um die Wette und er hob Lovinos Hände sanft an, streichelte sie sanft mit dem Daumen, "Deine Hände sind tatsächlich sehr kalt, hoffentlich wirst du nicht krank..."
"Ja...", dieses Wort hauchte Lovino allerdings nur nachdenklich heraus, den Blick offensichtlich von Antonio abwendend. Er starrte in die Leere und anstatt mit dem lodernden Feuer seiner Persönlichkeit zu spielen...kühlte Lovino stark ab. Von der Lebendigkeit, die ihn trotz seiner launischen Art normalerweise erfüllte, war mit einem Mal keine Spur mehr.
Lovino...
Musternd betrachtete Antonio seinen Freund. Da war doch etwas gehörig faul! Etwas stimmte mit Lovino nicht, seine Intuition sagte es ihm.
Bei diesen Temperaturen war es doch unmöglich, dass er mitsamt Jacke einfach so fror. Und die Art und Weise, wie er sich im Moment gab, säten unzählige Zweifel und Sorgen. Nein, Lovino ging es nicht gut. Etwas lag auf seinem Gewissen...War ihm vielleicht deswegen so kalt? Wenn man in Melancholie versank, konnte es durchaus sein, dass man viel leichter fror oder oftmals mit eiskalten Händen zu kämpfen hatte.
"Lovino...", weiter kam Antonio nicht, denn das Rascheln von Laub schärfte seine Sinne augenblicklich. Seine Muskeln spannten sich an und er schnellte den Kopf zu seiner Linken, bereits die Gefahr erwartend, die in den Gässchen jener Stadt auf ihn lauerten. Schritte kamen ihm zu Ohren, sie wurden lauter, definierter und Antonios Finger zuckten. In Gedanken fluchte er und ohne auch nur eine weitere Sekunde zu verschwenden, umfasste er Lovinos Oberkörper und zog ihn nah zu sich - ganz zur Verwirrung des Kleineren, der gerade noch komplett in Gedanken versunken die Straße entlanggehen wollte.
"Warte..." Antonio machte sich darauf gefasst, in den nächsten drei Sekunden einen Kampf um Leben und Tod zu bestreiten, stelle sich heraus, dass jemand Lovino heimlich an den Kragen wollte. Doch als er die Augen zur Hälfte zukniff und seinen Blick schärfte, erkannte er durch das schwache Licht der Straßenlaterne eine groß gebaute Gestalt mitsamt Schal und blondem Haar.
"Abel...", Antonio atmete erleichtert aus und sein Griff lockerte sich, behielt Lovino jedoch weiterhin in seiner Nähe, ohne zu bemerken, wie rasant und kräftig Lovinos Puls in die Höhe schoss oder wie die Wangen seines Freundes sich in ein sattes Rot färbten, "Du hast mich aber erschreckt! Wir haben uns lange nicht mehr gesehen...Geht es dir gut?"
Irritiert und sichtlich verwundert musterte Abel die beiden Männer. Das Fragezeichen stand ihm bereits im Gesicht geschrieben und sein Blick wanderte auf und ab, bis er an Antonios sicheren und doch krampfhaft wirkenden Griff um Lovino hängen blieb.
"Nein", antwortete Abel trocken und sah dem Spanier mit gehobener Augenbraue ins Gesicht; allein die Atmosphäre und die Körpersprache, die Antonio von sich gab, zeigte von Anspannung und Ruhelosigkeit. - Er suchte die Gegend mit raschen Blicken zur Seite ab, seine Schultern blieben angespannt und er versicherte sich Lovinos Nähe mehr als jemals zuvor, da er nicht einmal daran dachte, ihn von sich gehen zu lassen. Es erwirkte nahezu den Eindruck, als fürchtete sich Antonio vor etwas.
"Aber dir anscheinend auch nicht."
"Was? Mir? Mir geht es blendend!", Antonio grinste breit, doch jeder, der ihn auch nur ansatzweise kannte, würde erkennen, dass es gespielt war, "Wie kommst du denn auf so etwas?"
Mit prüfendem Blick betrachtete Abel zunächst den argwöhnisch stillen Lovino, dann erst wieder Antonio. "War nur so eine Vermutung", er atmete aus, "Übrigens kannst du Lovino loslassen, ich glaube, er fühlt sich etwas...eingeengt." Und wie auf Knopfdruck gab Antonio den Arm schleunigst von Lovino weg; ein roter Schleier malte sich auf seine Wangen und er kratzte sich nervös am Hinterkopf. "Ups! Da hab ich es wohl zu gut gemeint! Haha...Entschuldige, Lovi."
"Schon gut", kam es kurz und knapp aus Lovinos Mund heraus, den Kopf gen Boden geneigt, um weder Antonio noch Abel anzusehen. Dann schwieg er wieder.
Komisch, dachte sich Abel, ansonsten würde Lovino doch schon mit Beschwerden um sich schmeißen, oder?
Dennoch verwarf Abel seine Skepsis. Er hatte leider genug Probleme mit sich selbst und dass Emma ihn nun aus den vier Wänden geschmissen hatte, damit er einmal frische Luft schnappte, machte es nicht unbedingt besser. "Antonio", erneut wandte er sich an seinen ältesten Freund, "Ich muss mit dir unter vier Augen reden. Sofort."
"Jetzt?", der Spanier konnte die Eile nicht nachvollziehen, die Abel hatte und seine Sinne waren lediglich auf Lovino fixiert. Nein, er konnte jetzt nicht mit Abel allein sprechen, das musste warten. Erst musste er Lovino nach Hause bringen. Er durfte ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. "Kann das nicht noch, vielleicht, zehn Minuten warten?"
"Zehn Minuten? Warum genau zehn Minuten?" Abel verstand die Welt nicht mehr, was hielt Antonio nur davon ab, ein paar Worte mit ihm zu wechseln?
Ein ungutes Gefühl machte sich in Antonios Magengegend breit und er wusste zunächst nicht, ob er zu Lovino oder zu Abel sehen sollte. "Ich...", stotterte er, "Ich wollte Lovino noch schnell nach Hause bringen. Er wohnt doch gleich um die Ecke. Danach können wir-"
"Antonio, es ist dringend!", mahnte Abel nun mit Nachdruck, "Wenn Lovino sowieso gleich um's Eck wohnt, kann er doch den Rest alleine zurücklegen. Er schafft das schon!"
"Aber-", plötzlich hielt sich Antonio zurück, der Konflikt mit sich selbst spiegelte sich in seinen Augen wider, sein Zögern erklärte alles. Wie sollte er Abel erklären, warum er Lovino nicht allein lassen konnte, wenn Lovino selbst doch direkt neben ihm stand?! Doch dann... ein dumpfes Klopfen mit der flachen Hand gegen seine Brust. Lovino drückte sich weg von ihm und ging einige Schritte vorwärts.
"Meine Fresse...", raunte Lovino, ohne sich noch einmal umzudrehen, "Ich hau ab. Ihr braucht gar nicht mehr zu diskutieren. Ich geh jetzt alleine nach Hause. Arrivederci, ihr Bastarde, bis morgen..." Lovino hatte es satt, dass die beiden über seinen Kopf hinweg diskutierten und über ihn sprachen, als sei er nicht da oder als könnte er selbst den Mund nicht aufmachen. Vor allem ging ihm Antonio auf die Nerven, da er so tat, als könnte er absolut nichts alleine schaffen.
"Lovino!" Natürlich war es Antonio, der zuerst reagierte und ihm voller Sorge nachrief. Am liebsten wäre er ihm auch noch nachgelaufen, denn sein Herz klopfte vor Angst um den kleinen Italiener. "Lovino, es tut mir leid, falls ich etwas falsch gemacht habe! Sei bitte nicht böse auf uns!" - "Wer hat gesagt, ich sei böse?"
Eine Frage, die Antonio verstummen ließ und er stellte sich aufrecht hin, schnappte nach Luft.
"Na also...Ich bin nicht böse. Auf keinen von euch, aber ich kann es nicht ab, wenn ihr so über meinem Kopf hinweg diskutiert und ich mich wieder ausgeschlossen oder unmündig fühle!" Lovino zog die Schultern hoch, atmete ein und sah von der Seite aus doch noch einmal zurück zu den beiden. Und auf einmal erkannte man seine Kraftlosigkeit und Müdigkeit auf einen Schlag. "Macht...das einfach nicht mehr, okay? Dann geh ich jetzt. Ich bin müde und kann heute einfach nicht mehr...Gute Nacht, ihr zwei..." Und so verließ Lovino die beiden Männer und setzte seinen Weg weiter fort, während Antonio und Abel ihm besorgten Blickes hinterher schauten.
Abel fühlte sich schlecht, Lovino dazu gebracht zu haben, auf diese Art und Weise zu verschwinden. Bestimmt fühlte er sich insgeheim verletzt, aber Antonio war es, der im Moment an einer plötzlichen Flut an unsagbarer Sorge und Schuldgefühlen ertrank.
Oh Gott, was hatte er angestellt! Er hatte diesen traurigen Funken in Lovinos bernsteinfarbenen Äuglein entdeckt, auch seine Stimme klang so deprimiert, dass es Antonio das Herz zerreißen wollte und sein Gesicht ...Oh, er sah so müde aus und Antonio hatte es nicht gesehen...
"Antonio...", Abel legte eine Hand auf seine Schulter, "Er ist dir sehr wichtig, oder?"
Als Antonio nicht antwortete, sondern nur angespannt den Boden fixierte, fuhr er einfach fort. "Das ist das zweite Mal, dass ich dich so gestresst sehe, weil du dich um ihn sorgst. Ist alles in Ordnung zwischen euch?" Auf keinen Fall war alles in Ordnung, wenn Antonio sich so derartig in etwas hineinsteigerte.
"Zwischen uns...ja, glaube ich", Antonios Stimme klang heiser, gar flüsternd, als stähle die Luft seinen Ton, "Aber zwischen mir und dieser grausamen Welt nicht, Abel." Seine Worte brachen ab und für den Augenblick zerbrach etwas in der Seele des Spaniers. Er wollte zu Boden sinken und schreien, um diesem Druck, der ihn nach und nach innerlich ertränkte, zu entgehen.
"Was meinst du? Ist etwas geschehen?" - "Sie wollen ihn..."
"Wie?", Abel verstand nicht und runzelte die Stirn, "Wie 'Sie wollen ihn'?"
"Umbringen lassen wollen sie ihn!", schnauzte Antonio seinen Freund im Affekt an, in seinen Augen sammelten sich die ersten Tränen, "Als wir uns letztens trennten, war ich bei dieser beschissenen Versammlung, dort verteilen sie die Mordaufträge. Und...Und am Ende zählten sie Lovino auf und", Antonio hielt sich den Hals, seine Luft wurde dünner, "und da wollte einer der Hochrangigen ihn und dann...und dann hab ich-", ein Schluchzen rutschte ihm raus und er fuhr sich mit zittrigen Händen durch die Haare, "Ich kann nicht austreten, Abel, es tut mir leid! Wenn ich jetzt einen Rückzieher mache, dann...dann wird Lovino bestimmt von anderen..."
"Du meinst, du bist nun dazu beauftragt worden, ihn zu...", Abel wollte den Satz nicht zu Ende sprechen, gar denken, "Antonio! In welche Scheiße hast du dich jetzt wieder reingeritten?!"
Er war wie sein Bruder.
Auch Tomás hatte versucht, Abel zu schützen, als man sie angriff.
Diese Geschichte durfte sich nicht wiederholen!
Abel sah die Konsequenzen schon auf sie zukommen.
Er musste Antonio davor bewahren dumme Fehler zu machen, er hatte es Tomás damals versprochen.
"Ich weiß es nicht!" Nun war es endgültig vorbei mit Antonios Selbstbeherrschung und er brach in Tränen aus. All der aufgestaute Stress fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen und riss den jungen Mann mit sich. "Ich weiß es verdammt noch mal nicht, Abel! Aber, wenn ich es nicht getan hätte, könnte ich ihn verlieren! Ich kann ihn nicht verlieren! Ich kann auch euch nicht verlieren! Verstehe das doch! Ich-"
"Hey, ruhig Blut, Antonio. Tief ein und ausatmen." Mitfühlend klopfte er seinen Freund gegen den Rücken und behielt einen kühlen Kopf, obwohl ihn diese Information durchaus erschütterte. Sie hatten es wirklich auf Lovino abgesehen...Sein Magen drehte sich direkt um und ihm wurde übel. "Ich verstehe nun, weswegen du vorhin so übervorsichtig mit ihm warst, als du mich nicht erkannt hast, aber...Antonio, wie willst du dieses Problem nun lösen? Das ist eine einzige Zwickmühle!"
"Ich weiß...", eine Träne rollte seine Wange herab, die er sich direkt wegwischte, "Ich weiß, es ist eine Misere, aber ich suche selbst noch nach einem Plan, wie ich ihn davor bewahren kann. Denn ich befürchte, dass, sobald diese Hauptverantwortlichen bemerken, dass ich ihren Auftrag nicht ausführe, sie sich Lovino entledigen werden."
"Weiß Lovino schon davon?" – Antonio schüttelte den Kopf, atmete tief ein und aus. "Ich will es ihm auch nicht sagen. Vor allem nicht jetzt...Hast du seine Augen nicht gesehen oder wie abwesend er hin und wieder wirkt? Ich befürchte, dass ihn etwas bedrückt, wenn ich nur wüsste, was es ist! Aber Punkt ist, ich kann ihm so eine Nachricht nicht übermitteln, ohne dass er mich hasst oder selbst in absoluter Panik verfällt! Ich will, dass er sein Leben so sorgenfrei wie möglich weiterleben kann, aber irgendwas scheint trotzdem falsch zu laufen."
"Ich verstehe...", Abel wusste nicht, was er darauf antworten sollte, dennoch bemühte er sich, für seinen Freund da zu sein, "Die Situation erscheint hoffnungslos, aber irgendwie kriegen wir das schon hin, hoffentlich."
Antonio nickte, entspannte sich wieder und setzte ein bitteres Lächeln auf, um sich selbst indirekt davon zu überzeugen, dass alles gut ausgehen würde. "Ja...Ich hoffe es auch...Aber, sag, was wolltest du unbedingt jetzt mit mir besprechen?"
Abel nahm einen großen Atemzug und senkte die Stimme. "Es geht einmal mehr um die Arbeit und das, was mir in der letzten Zeit widerfahren ist...Antonio. Ich möchte, dass du mir nun gut zuhörst, denn es könnte dir von Nutzen sein..."
***
Mit einem schweren, dumpfen Klacken fiel die Tür ins Schloss. Dunkelheit verfinsterte die kleine Wohnung und Schuhe streiften mit trägen Schritten über das Bankett. Man machte sich nicht einmal die Mühe, sie auszuziehen. Stattdessen erklang das Geräusch von verrutschenden Bettbezügen. Lovino schleppte seine schweren Glieder zum Bett und hatte sich bereits bäuchlings hineinfallen lassen. Er machte keinen Mucks, umarmte stattdessen mit beiden Armen das kühle Kopfkissen und atmete aus.
Was war in letzter Zeit nur los mit ihm?
Hilfesuchend schaute der junge Mann in die Finsternis, die ihn umgab. Ein Licht, wollte er gar nicht erst anzünden. Und es fröstelte ihn auch, trotz der Decke und dem geschlossenen Raum.
Wieso fühlte sich Lovino so...trist?
Lovino seufzte und verkroch sich erschöpft unter die Decke. Für gewöhnlich würde er sich nun den Bauch vollschlagen, doch er hatte keinerlei Hunger und das, obwohl er kaum einen Bissen zu sich genommen hatte. Vielleicht war es nur einer dieser Tage, an denen er weniger brauchte, aber dieses Gefühl hielt schon seit längerer Zeit an. Er könnte schlafen, schoss es Lovino durch den Kopf, als er den Mond durchs Fenster scheinen sah, doch wusste er, dass er trotz dieser alles verzehrenden Müdigkeit in Wahrheit keine Ruhe und Erholung finden würde. Er mochte die Augen schließen, aufwachen würde er dennoch kurze Zeit später, egal wie erschöpft er sich bereits in der letzten Zeit nach Hause schleppte.
Für Lovino war dieses Empfinden nicht unbekannt. Er kannte es bereits, doch war es seit einigen Jahren nicht mehr so intensiv wie nun. Einen Augenblick lang wünschte er sich, nichts zu spüren, nichts zu hören, nichts zu sehen und nichts zu denken. Er wünschte sich nichts sehnlicher als eine Pause. Einen Dornröschenschlaf...Genau, dachte sich Lovino als er sich mit dem Kissen in der Hand aufsetzte und von seinem Zimmerfenster aus den Mond und die Sterne betrachtete. Er wollte einfach hundert Jahre schlafen und dann wieder aufwachen, wenn die Welt ein besserer Ort für ihn war.
Aber? Warum hatte er plötzlich so ein Problem damit?
Manchmal vermutete Lovino, es lag an einer Winterdepression. Aber Lovino lebte im Süden Italiens. Der Oktober war so warm wie manche Frühlingstage im zentralen Europa. Lovino hatte also keinerlei Grund jetzt an einer saisonalen Depression zu leiden. Was war es dann? Was suchte Lovino so heim, dass sich seine vorbelastete Psyche so schnell und vor allem stark ihrem eigenen Niedergang widmete?
Selbst noch auf der Suche seiend, konnte Lovino nichts tun, als sich widerlich in seinem eigenen Körper und seiner Identität zu fühlen.
Lovino Vargas. Was war er nur?
Er hatte wirklich geglaubt, sich selbst in und auswendig zu kennen, doch in Wirklichkeit wusste er nichts und selbst eine kleine, neue Erkenntnis brachte sein Selbstbild zum Wanken.
Als Antonio seine Hände wenige Minuten zuvor berührte, ihn dann auch noch in den Arm nahm und grundlos beschützte, durchfuhr ihn am gesamten Körper ein Kribbeln und Wärme erfüllte ihn von innen heraus. Lovino hatte sich besonders gefühlt, doch nun war dieses Empfinden Geschichte und statt seines Herzens übernahm sein Kopf die Kontrolle über ihn. Aus dem rosigen, pulserhöhenden Gefühl wurde Scham, Furcht, Selbsthass und Verzweiflung.
Oh, was war nur los mit ihm? Er hatte sich geschworen, diese unsinnige Liebelei in den Hintergrund seiner Gedankenwelt zu verbannen und zu vergessen, doch sie kehrte jedes einzelne Mal mit immer größer werdender Wucht zurück. Lovino hasste sich und diese unaussprechlichen, tabuisierten Gefühle, die er neuerdings für Antonio hegte.
Warum musste ausgerechnet er anders sein? Die Rolle des schwarzen Schafes belegte er bereits seit Kindestagen, warum also noch mehr Gründe an sich finden, die die Gesellschaft und auch engste Verwandten an ihm hassen könnten?
Wieso musste er ausgerechnet das sein, was sein geliebter Nonno so ausschimpfte?
Lovino hatte schlichtweg Angst. Angst vor Verurteilungen und sich selbst.
Niemals würde er über jemanden schlecht denken, der dasselbe Geschlecht liebt. Es war vollkommen normal und okay, aber wenn es um sich selbst ging...
Lovino wollte es einfach jedem anderen Recht machen. Einen eigenen Willen oder ein Ziel, wie er sich vorstellte, wie er sein wollte, hatte er nicht. Er wollte lediglich die Befürwortung seines Umfeldes, er hatte Angst vor Anfeindungen und dem, was ihm drohen konnte, falls er die falschen Leute träfe... Lovino lebte zu sehr nach der Pfeife seiner Ängste und nach den Vorstellungen anderer, aber...etwas anderes hatte er nicht?
Ein Schluchzer entfloh seinem Mund und ohne es zu bemerken, flossen bereits die ersten heißen Tränen über seine blassen Wangen. Sein Herz lag schwer in seiner Brust wie ein Stein im Bauch des Wolfes der sieben Geißlein, welcher den Wolf letztendlich ertränkte. Es war so schwer, sich selbst zu akzeptieren und Lovino wusste nicht weiter. Vor allem, weil er es trotz all dieser Schmerzen wirklich ehrlich genoss, diese Schmetterlinge im Bauch und das beflügelnde Gefühl in seiner Brust zu tragen, wann auch immer er Antonio gegenüberstand. Antonio war so ein wundervoller Mensch und er? Er war nichts weiter als ein heulendes Häufchen Elend, das dauernd den Schwanz einzog und sich seine Probleme selbst konstruierte.
Er war wirklich eine Katastrophe. Er hatte es schon immer gewusst.
Schniefend saß sich Lovino auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Das Kissen legte er zur Seite, der Bezug war von seinem Gefühlsausbruch feucht und ekelig geworden. Lovino wusste, dass er sich ablenken musste. Er sah sich gezwungen, sich aufzuraffen und irgendwie seinen inneren Schweinehund zu besiegen, daher griff er langsam zu den Streichhölzern neben dem Bett und zündete die honiggelbe Kerze an. Etwas Licht würde ihm vielleicht guttun.
Als der Kerzenschein jedoch Licht in die gute Stube brachte, fiel Lovino ein weißes Rechteck auf dem Boden auf. Schwarze Buchstaben waren auf einer Hälfte des Papiers zu sehen. "Ein Brief?" Lovino hob die Augenbrauen und schleppte sich aus dem Bett; die Holzdielen knarzten bei jedem Schritt. Dann kniete er sich nieder, griff nach dem an ihn adressierten Kuvert und hielt ihn sogleich ins Licht, um die Schrift zu lesen. "Von...Nonno und den anderen. Ts. Wenn man vom Teufel spricht. Mal sehen, was sie so schreiben..."
Vorsichtig riss er das Kuvert auf, musste dabei mitansehen, wie er es ohnehin beinahe entzweiriss, da man die Lasche zu fest zugeklebt hatte, und zog kurz darauf den eigentlichen Brief heraus. Dann faltete er ihn auf und begann zu lesen, doch nach den lieben Worten und Wünschen, dass es ihm gut ginge, die ihm ein schwaches Lächeln auf die Lippen malten, stockte er plötzlich und starrte ungläubig auf das Papier.
"Sie kommen zu Besuch?! Schon wieder?!"
Und Lovino stieß zischend Fluchworte heraus und fiel rücklings ins Bett zurück, die Hände durch die Haare gleitend. "Sie hätten sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt als jetzt aussuchen können, gottverdammte Scheiße!"
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro