Kapitel 25 - Gedankenflut und Verdacht
"Lovinito. Lauf mit mir weg."
Diese Worte beschäftigten Lovino eine ganze Weile. Er verstand nicht, woher Antonio diesen spontanen, eigenartigen Wunsch herhatte, weswegen er zunächst nichts antwortete und es lediglich als bedeutungslosen Impuls seitens seines Freundes abstempelte.
Wieso sollte er mit ihm weglaufen? Er hatte doch keinen Grund dazu und Geld, um sich woanders das Leben neu aufzubauen hatte er ohnehin nicht, nachdem seine Miete gestiegen war.
Antonio hatte ihn vom Institut weggeführt; in seinen Augen erkannte Lovino Furcht, Stress und Nervosität. Und seine Haut war blass wie noch nie...So hatte er Antonio nur selten erlebt. War etwas vorgefallen?
Lovino sah auf seine Füße, als Antonio ihn an die Hand nahm und ihn nach Hause begleitete. In seinem Bauch kribbelte es und dieses Empfinden erstreckte sich über seinen gesamten Körper. In seinen Wangen sammelte sich Hitze, vermutlich wurde er rot.
Dass eine solch' unauffällige, unspektakuläre Berührung ein solches Chaos in ihm anstellte, irritierte Lovino und doch rief es Erinnerungen an einen Traum wach, durch den er an jenem Morgen erwachte.
In seiner Brust entfachte ein aufgeregtes Prickeln, er dachte zurück an die zärtlich-liebevollen Bilder, die ihm sein Kopf vorgaukelte und die Sehnsucht seiner Seele stillten. Zunächst erreichten ihn die Farben, die er wenige Stunden zuvor im Traum wahrnahm.
Feuerrot. Es war der Himmel gewesen und zugleich das, was seinen Körper von innen aus wie ein wohlig warmes Kerzlein entflammte.
Ozeanblau. Dies war das kühle Wasser, das im Licht der untergehenden Sonne funkelte und gegen seine Brust schwappte. Kühles, süßes Blau war aber auch das, was seine Lippen spürten, als sie etwas hauchzart und kaum merkbar streiften.
Smaragdgrün. Das Schönste von allen. Lovino erinnerte sich nicht mehr genau daran, wo er diese Farbe sah oder was er damit verband...aber sein Herz wisperte ihm zu, dass es das Wundervollste des Traumes war; dass es sein Herz zum Klopfen gebracht hatte.
Aber...deutete er die Situation seines Traumes zur Gänze, fielen alle Puzzleteile zu einem beinahe vollendeten Bild zusammen. Smaragdgrün musste die Person sein, die ihm inmitten der einst ozeanblauen Wellen, während dem feuerroten Abendhimmel, einen flüchtigen Kuss schenkte, ehe Lovino erwachte und zurück in der einsamen Realität landete.
Doch...wer war sein Smaragdgrün...?
Lovino erhob sein Haupt, blickte zu Antonio auf, der mit dem Rücken zu ihm gerichtet voraus ging. "Lovi...Ich habe eine Bitte an dich..." Die Ohren spitzend lauschte Lovino seinem Freund, ein Hauch von Planlosigkeit und Verzweiflung schwebte zwischen ihnen umher und verunsicherten den jungen Italiener. Was war nur mit Antonio geschehen?
"Ich...", Antonio würgte ab, drehte sich aber mit dem Oberkörper zu ihm, sodass sich ihre Blicke kreuzten.
Smaragdgrün...
Lovinos Augen weiteten sich und sein Herz blieb stehen.
Realisation stand ihm wie Schock im Gesicht geschrieben...
"Pass einfach auf dich auf, Lovi...okay?" Offensichtlich wollte Antonio andere Worte von sich geben. Wenn Lovino nur wüsste, was in ihm so plötzlich vorging...
Doch Lovino hätte ihn nicht verstanden, selbst wenn er es ihm erklärt hätte, denn in seinem Kopf ratterten eigene Zahnräder pausenlos vor sich hin. Also nickte Lovino nur, ohne wirklich wahrzunehmen, was Antonio ihm erzählte. Seine Gedankenflut erdrückte ihn, sodass er die Außenwelt nur spärlich wahrnahm. Sein Herz raste.
Antonio.
Es war Antonio.
Dieses Smaragdgrün seines Traumes war er gewesen!
Seine Augen...sie erzählten alles, es gab keinerlei Zweifel.
Er war es gewesen, der ihn im Traum küsste...
Vage Erinnerungen blitzten hervor und Lovino dachte noch weiter zurück.
Es war nicht das erste Mal, dass er von Antonio auf diese Art und Weise träumte, schon damals in Rom spukte der Bastard in seinem Schlaf umher. Doch diese Geschichte hatte er so gut wie möglich verdrängen wollen.
Aber nun wollte Lovino in diesem wunderbaren Gefühl ertrinken, das ihn in jenem Moment umgarnte und eintauchte. Es beflügelte ihn. Jede noch so kleine Aufmerksamkeit erfreute ihn; machte ihn glücklich und zumindest ein klein wenig sorgenfreier.
Lovino...
Er hatte sich verliebt...und zwar in...
Nein.
Auf einmal wurde aus dem traumhaften Gefühl eine von purer Angst erfüllte Emotion. Aus der rosaroten Brille wurde ein schwarzes, teeriges Nichts, das ihn verschlang. Und seinem kräftig und himmlisch leichten Herzklopfen wurde ein stechendes, bitteres Ende gesetzt. Er konnte nicht...
Lovino sah noch einmal zu Antonio auf.
Wieder derselbe hohe Puls.
Wieder diese Blitzchen, die durch seine Adern schossen und ihn nervös machten.
Oh, bitte nicht...
So schön, wie dieser Nervenkitzel und das Kribbeln auf seiner Haut auch war...Lovino hatte Angst. Denn diese Realisation stellte ihm sein bisheriges Leben mit einem Mal auf den Kopf.
Wie konnte er überhaupt in Antonio verliebt sein? Antonio war keine Frau, sondern ein Mann. Bisher hatte sich Lovino ausschließlich in junge Frauen verguckt. Lovino liebte Frauen, keine Männer - so sprach er sich in Gedanken selbst zu. Das, was er für Antonio empfand, ist bestimmt nur eine Emotion der Flüchtigkeit. Eine Kleinigkeit, die wohl ein Produkt seiner vielen Körbe aus früheren Flirtereien war. Wahrscheinlich bildete sich Lovino diese Verliebtheit ein und das nur, weil er sich im tiefsten Inneren einsam fühlte und sich nach einer tiefen, seelischen Verbindung mit jemand anderen wünschte, den es noch nicht in seinem Leben gab. Antonio war lediglich der Erstbeste, weil er der einzige alleinstehende Freund war, der ihm Rückhalt und Zuneigung geschenkt hatte. Natürlich würde er da besondere Gefühle entwickeln - aus reiner Dankbarkeit und einem Funken Abhängigkeit. Lovino hatte sonst keinen, der ihm diese Zuneigung auf so eine Art zuteil machte, wie es Antonio schaffte.
Lovino liebte Antonio nicht wirklich, versicherte er sich.
Lovino war hetero, redete er sich ein und unterdrückte seine Ängste.
Lovino wollte nicht das sein, was sein Großvater heute noch ausschimpfte.
Lovino...wollte nicht wie die sein, die in seiner frühesten, schlimmsten Erinnerung, ihr Leben durch eine Klinge hinter sich ließen, weil sie für die Gesellschaft 'falsch' liebten.
In Lovinos Körper brodelte es, trotz der Wärme an jenem Tag zitterte er wie das Laub eines Baumes im Wind und seine Gedanken rasten; neue Fragen kamen auf, die anderen gerieten in Vergessenheit, ohne jemals beantwortet zu werden.
Er entschloss sich, es nochmal zu probieren. Er stellte seine Gefühle auf die Probe, um sich versichern zu können, dass er lediglich platonisch für seinen engsten Vertrauten empfand.
Schüchtern und zu teils verschreckt, drückte er Antonios Hand, als sie das letzte Stück zusammen auf ihrem Nachhauseweg beschritten. Instinktiv entgegnete Antonio die Geste, strich ihm dabei jedoch auch mit dem Daumen über den Handrücken.
Oh, hätte er es nur nicht getan...
Denn einmal mehr kehrten diese verfluchten, wunderbaren Emotionen zurück, die Lovino liebte und zugleich verabscheute. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust und plötzliche Fröhlichkeit erhellte ihn. In seinem Gesicht wurde es warm, ein Kitzeln wanderte über seine Haut und er fühlte sich mit einem Mal besonders. Da wurde es Lovino Schwarz auf Weiß klar, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gab.
Denn er war ihm verfallen...
Dem Mann, den er seit seiner Ankunft an der Backe hatte.
Dem Mann, dem er schneller als irgendjemanden sonst vertraut hatte.
Dem Mann, für den Lovino wichtig war...der ihn mit liebenden Worten überschüttete, von denen Lovino nie wusste, dass sie tatsächlich existieren.
Und Lovino hasste dieses neu entfachte Gefühl so sehr, wie er es auch liebte.
***
Die Federn der alten Matratze quietschten, als sich Antonio rücklings darauf fallen ließ und zur fahlen, kalten Decke hinaufstarrte, die von der Dunkelheit der Nacht verschluckt wurde.
In seinem Kopf gab es nur eines: Der Wahnsinn des Tages.
Noch immer zweifelte der junge Spanier an der Echtheit und realen Bedrohung, in die er sich verwickelt hatte.
Noch immer sickerte die grauenvolle Realisation zäh in sein Bewusstsein hinein.
Und noch immer wehrte sich Antonios Kopf dagegen, was man ihm aufgetragen hatte.
Er sollte Lovino töten.
Er hatte sich freiwillig diesem Auftrag gestellt, um Lovino vor dem Blutdurst anderer zu schützen.
Gerade in jenem Augenblick, in dem es um Lovinos Leben oder Tod ging, war etwas in ihm erwacht, das schon so viele Wochen in seiner Seele in einem Dornröschenschlaf versetzt geruht hatte. Es war die Liebe gewesen.
Mit müden Augen drehte sich Antonio zur Seite, seine Fingerspitzen streiften dabei den Saum der dünnen Decke.
Lovino...
Stechende Schmerzen quälten Antonios Kopf als rammte man ihm ein spitzes Werkzeug gegen die Schädeldecke. Er wollte nur noch schlafen, nur noch vergessen und doch schaffte er es nicht, zur Ruhe zu kommen.
Die panische Angst um, aber auch die endlich entdeckte Liebe zu Lovino hielten ihn wach. Innerlich verfluchte sich der junge Mann, erst im Affekt der Gefahr begriffen zu haben, wie teuer ihm der kleine Italiener war. Und nun war er doch selbst Lovinos größte Bedrohung. Und dass, obwohl er es nicht einmal wagen würde, ihm auch nur ein Haar zu krümmen.
Antonio hasste sich. Nun konnte er es endgültig nicht mehr verleugnen.
Egal wie oft er sein Lächeln aufsetzte, egal wie oft er sich zwang positiv zu bleiben: Sich selbst konnte er nicht ausstehen. Er hatte wohl tatsächlich das Händchen dafür, sich dauernd selbst in die Misere hineinzureiten, die zumeist damit endete, dass er jemanden verlor, den er liebte.
Doch dieses Mal würde er es nicht so kommen lassen.
Man hatte ihm bereits zu viel genommen. - Er hatte zu viele Menschen verloren, die ihm am Herz lagen. Egal, was er auch durchmachen müsste; egal wie mies sich sein Schicksal gegen ihn stellte und ihn peinigte: Kein einziges weiteres Mal ließe er es zu, dass jemand seinen Liebsten etwas antat - sei es Lovino, Emma, Michelle, Abel, Francis und jegliche andere Person, die er gernhatte. Sie waren doch alles, was er hatte...Alles, auf das er bauen konnte. Denn schlussendlich waren sie die einzige 'Familie', die ihm noch blieb.
Doch unter all diesem Chaos und Stress, die ihn beiderlei unter ihren Lasten begruben, überflutete ihn ein Meer aus neuen Fragen, die plötzlich auf ihn einfielen wie ein Hagelsturm auf einem gerade erblühenden Feld.
Und trotz der abertausenden Worte, der abertausenden Emotionen und abertausenden Erwartungen, konnte man sie alle in einen Satz verpacken.
Aus welchen Gründen verliebte sich Antonio gerade jetzt, wo es so gefährlich wurde, in Lovino und warum brachte gerade dieser junge, impulsive und doch liebevolle junge Italiener sein Herz zum Klopfen?
Doch so wie Antonio zur Zeit der nächtlichen Ruhe kein Auge zubekam und sich in seiner Gedankenflut sachte hin und her wiegte, geschah es auch in einer winzigen Einzimmerwohnung viele Straßen weiter weg.
Aber auch jenes aufgeregte, verwirrte Herz befand sich in einem Zwiespalt, so wie es auch das andere Herz war, mit dem seine Seele schon längst durch die roten Fäden des Schicksals miteinander verwoben war.
Lovino lag, wie Antonio, auf seinem Bett und veranstaltete einen Starrwettbewerb mit der fahlen Decke einer simplen Arbeiterwohnung, doch in seinem Kopf fuhren seine Träume und Gedanken Achterbahn. Seine innere Stimme kämpfte Konflikte aus, Lovino spürte sich selbst nicht mehr. "Was mache ich nur...", murmelte er zu sich selbst, verdammte dabei allerdings auch seine Seele, "...das kann doch nicht mein scheiß Ernst sein?"
Beleidigt schnaufte er, drehte sich auf die rechte Seite und zog die Decke mit grimmigem Blick über den Kopf. "Verdammte Scheiße", fluchte er in Gedanken, "verdammte Drecksscheiße." Tief einatmend verbannte Lovino seine, auf ihn wie Regentropfen prasselnden, Einfälle und Bedenken aus seinem Kopf. Dieses kognitive Muster...Dieses Wirrwarr an Gedanken, die ihn hin und her warfen und ihn unterbrachen, wenn er den Satz im Kopf aussprach - ihm kam es allzu bekannt vor. Er überdachte seine Situation, seine Empfindungen und seinen tiefen Kummer mitsamt aller Zweifel viel zu sehr.
Was machte er nun? Wohin mit seinen plötzlich entfachenden Gefühlen für den Tomaten-Bastard?
Wie konnte es nur geschehen? Was passierte mit Lovino und weshalb hatte er sich tatsächlich in einen Mann verliebt?
Und...was würde seine Familie, insbesondere sein Nonno, nur dazu sagen?
Ob er...Ob er ihn so verstoßen würde, wie es Antonios Mutter ihrem Sohn angetan hatte?
Nein...trotz seiner nervigen, blöden Kommentare würde er das nie tun.
Oder etwa doch?
Ach, Lovino konnte es nicht einschätzen!
Lovino raufte sich die Haare und zwickte die Augen zwanghaft zusammen. Verdammt, warum musste es genau ihm passieren?
Tief ein und ausatmend klopfte er gegen seinen Brustkorb.
Nur keine Panik, sprach er sich selbst gut zu, alles würde gut werden, wenn er sich zunächst einmal die Zeit nahm, anständig die kühle Abendluft einzuatmen, die in seiner Lunge und in seinem Hals wie zersplitterte Eisscherben stach.
Nur weil er sich in Antonio verguckt hatte, bedeutete es nicht das Ende der Welt.
Sein heißer, pochender Kopf kühlte endlich ab, die Lasten fielen ihm von den Schultern und ihm wurde leichter.
Genau, versicherte er sich, nur weil er momentan die falschen Gefühle für seinen Freund hegte, hieße es nicht, dass man ihn dazu verpflichtete, danach zu handeln.
Lovino war sicher...zumindest nahm er dies an.
Er müsse lediglich diese winzig kleine, unbedeutende und irrelevante Liebe verdrängen, sie wegsperren und ignorieren, dann ersparte er sich jegliches Problem.
Und dann?
Dann verliebte er sich hoffentlich möglichst bald in eine schöne junge Dame und vergaß am besten über die Funken, die zwischen Antonio und ihm aus Versehen entfachten.
Außerdem: Bestimmt erging es anderen Männern ähnlich wie ihm. Eine dumme, flüchtige Schwäche für einen anderen Mann, hatten sicherlich mehrere und dennoch heirateten sie eine Frau, die sie liebten, gründeten eine Familie, hatten viele Kinder und waren glücklich.
Lovino würde es genauso ergehen...
Seine Augenlieder fielen erschöpft zu, das süße Säuseln des Schlummers lockte ihn ins Traumland.
Lovino würde eines Tages heiraten, Kinder haben und glücklich sein.
Sätze schafften es nicht mehr vollendet zu werden, lediglich Phrasen schossen ihm durch den brummenden, übermüdeten Schädel.
Lovino...das mit Antonio ging schnell vorbei.
Es war sicherlich eine Phase.
Denn sonst hätte er bereits die dunklen Klauen des Todes an seinen Knöcheln gespürt, die ihn in die Finsternis seiner selbst rissen, wie ein Pack hungriger Wölfe.
Denn sonst...wüchsen Lovinos Ängste in ungeahnte Höhen, bis er sich nichts sehnlicher wünschte, als in einen immerwährenden Schlaf zu fallen, aus dem er nie erwachte.
Allein aus Furcht und Feigheit vor den bewertenden und verurteilenden Worten der Gesellschaft und Familie.
***
Das Olivenöl brutzelte in der Pfanne, Dunst stieg in die Luft und erfüllte die gute Stube mit einem wohlriechenden Duft, gemischt mit Zwiebeln, Knoblauch, Rosmarin und vor allem frischen, saftig grünen Kräutern. Das kegelförmige Lichtlein der Lampe spendete gelbliches, warmes Licht und doch herrschte der Schatten in den Ecken und Kanten der Wohnung. Emma trug ihr übliches Lächeln auf dem Gesicht. Die Arbeit lief äußerst gut und zudem hatte sie es geschafft, noch vor Marktschluss frisches Gemüse und etwas Fleisch zu ergattern, das es für gewöhnlich gegen Abend hin nur mehr spärlich gab. Zu schade, dass Michelle Emmas Festmahl nicht probieren konnte, denn sie nächtigte an diesem Tag bei ihren Eltern zuhause.
Dafür blieb allerdings mehr für Emma übrig und Abel war bestimmt ebenso am Verhungern. Er blieb für seine Verhältnisse bereits sehr lange weg. Normalerweise war er es doch, der zuerst in die Wohnung zurückkehrte und das Abendessen zubereitete.
Vielleicht hatte er eine wichtige Besprechung im Rahmen der Arbeit, versicherte sich Emma und drehte das Fleisch in der Pfanne um.
Bestimmt kam er jeden Moment zurück und würde sich von Herzen freuen, dass seine 'nervige' kleine Schwester auch einmal etwas Gutes für ihn tat.
Flüchtigen Blickes sah sie dennoch auf die Uhr.
"Schon fast acht Uhr...", murmelte sie in sich hinein, "Normalerweise essen wir jetzt."
Wie lange Abel wohl noch weg blieb? Ungeduldig tappte Emma auf die Anrichte, als endlich das befreiende Geräusch der herabgedrückten Klinke ertönte und schwere Schritte folgten. Sie atmete aus, sah ihren Bruder an, der, ohne zu grüßen, bereits die Jacke am Kleiderständer aufhing.
"Na, welche Laus ist dir über die Leber gelaufen, dass du nicht einmal mir 'Hallo' sagst, wenn du nach Hause kommst?" Emma verschränkte die Arme vor der Brust und bemühte sich um ein möglichst verärgertes Gesicht, wohl wissend, dass ihre Stimme verriet, dass sie lediglich scherzte. "Setz dich ruhig, ich hab Essen gemacht! Stell dir vor, heute gab es sogar noch etwas vom besten Fleisch am Markt! Und Schokolade hab ich auch noch gefunden, sie war zwar etwas teurer, aber dafür haben wir jetzt auch ein bisschen Nachtisch für später!" Schon lächelte sie wieder und richtete beide Teller für Abel und sich an. "Und was ist bei dir heute so passiert? So spät kommst du für gewöhnlich nie heim..."
Stille.
Zögerlich und ohne einen Mucks von sich zu geben, setzte sich der große Mann an den Tisch. Seine Haut erschien geisterhaft blass und wenn Emma ihn genau beobachtete, bemerkte sie, wie er mit den Enden seines Schales spielte.
Da wusste sie es. Etwas MUSSTE vorgefallen sein. Abel war nie ein Mann vieler Worte gewesen, aber mit seiner eigenen Schwester sprach er eben doch viel freier und so angespannt hatte sie ihn noch nie in den eigenen vier Wänden erlebt.
Außer...ein einziges Mal vor vielen Jahren.
"Abel?" Emma versuchte es nochmal, stemmte ihre Arme auf den Esstisch und suchte den Augenkontakt zu ihrem Bruder, der ihr allerdings augenblicklich auswich.
"Ich bin müde, Emma, lass es sein."
Die junge Frau hob verwundert eine Augenbraue.
Da ging doch gehörig etwas falsch!
"Du verschweigst mir etwas, Abel, ich weiß das ganz genau! So fertig wie du heute aussiehst, kann doch nicht nur ein anstrengender Arbeitstag gewesen sein. Und-"
"Emma, ich sagte, dass du es sein lassen sollst. Ich will nicht reden...", unterbrach er seine Schwester und begann einfach zu essen, ohne ihr auch nur ein einziges Mal in die Augen zu sehen. "Außerdem esse ich gerade, ich hab keine Zeit für so etwas..."
Abgewürgt.
Abel würgte sie einfach ab, gab Emma keinerlei Antworten und ließ sie im Dunkeln stehen, dabei wollte sie ihn weder schelten noch irgendwie anders ausschimpfen. Sie machte sich lediglich Sorgen um ihren großen Bruder. Er versteckte viel zu oft etwas vor ihr, sobald ihn etwas bedrückte. Früher hätte sie ihn in Ruhe gelassen. Damals war sie selbst zu jung, um seine Probleme als junger Erwachsener richtig begreifen zu können, aber nun befanden sie sich in derselben Welt. Sie beide waren in der Erwachsenenwelt angelangt und Emma könnte ihn beraten.
Sagte er es ihr nur deswegen nicht, weil sie seine kleine Schwester war?
Schämte er sich, Emma um Hilfe zu bitten, weil er es von Kindestagen an gewohnt war, eher ihr unter die Arme zu greifen?
In Emmas Magen brodelte es und doch hielt sie sich im Zaum. Nein, das war nicht der Zeitpunkt, um ihren Frust in den Vordergrund zu stellen. Nun ging es um Abel und das, was ihn so wortkarg machte.
Hatte er vielleicht eine Besprechung mit seinen Vorgesetzten und es ist für ihn negativ ausgegangen?
Nein, das konnte nicht sein. So wie Emma ihren Bruder kannte, war er durch seinen Perfektionismus so pingelig bei allen Details, sodass es unmöglich wäre, dass er eine Beschwerde erhalten hatte.
Also...was steckte dahinter?
"Könntest du bitte damit aufhören, mir Löcher durch die Seele zu starren, Emma?" Nur für einen winzigen Augenblick kreuzten sich ihre Blicke zum ersten Mal an jenem Abend und Emma bildete sich ein, einen tristen grauen Schleier zu erkennen, der Abel unglaublich kühl wirken ließ.
Sie hielt inne, senkte aber dann ihren Blick und antwortete mit einem "Ist ja gut, entschuldige."
Dennoch wollte sie das Gefühl nicht loslassen, dass mit Abel etwas geschehen war. Denn so abweisend und eisig verhielt er sich bei aller 'Geschwisterliebe' - also mitsamt ihren Streitereien und Uneinigkeiten - nie ihr gegenüber. Nachdenklich stach sie in ihrem Abendessen herum. Egal, was nun ihren Bruder so veränderte oder verstörte, sie würde es herausfinden...
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