Kapitel 20 - Und sie verliebten sich im Spätsommer
Ungläubig lauschte Antonio den Worten seines ältesten Freundes. Keines von ihnen machte zunächst Sinn. Antonio vermutete bereits, Abel hätte diese Geschichte aus seiner Fantasie herausgenommen, doch dann fiel ihm ein, dass Abel die letzte Person wäre, die ihn mit Erfundenem vollquatschen würde.
Generell war er doch ein Mann weniger Worte...und brutal ehrlich.
Demnach musste daran etwas Wahres sein und anhand des zugerichteten, mit Schrammen und blauen Flecken übersäten Körper des starken Riesens erkannte man die Ernsthaftigkeit der Situation auf einem Blick.
Niemand könnte Abel so verletzen, es sei denn, sie hatten etwas gefunden, das man gegen ihn verwenden konnte.
Vielleicht waren es zu viele Personen zur selben Zeit?
Vielleicht waren es Waffen, denen Abel nicht anständig ausweichen hätte können, hätte man sie verwendet.
Vielleicht aber erpressten sie ihn mit etwas der einigen wenigen Dingen, auf die Abel sehr sensibel reagierte.
Seine Schwester.
(Hatte er nicht auch einen Bruder,
der noch in ihrem Elternhaus wohnte?)
Seine Freunde.
Seine...Vergangenheit?
Antonio fiel urplötzlich ein, dass er nur spärliches Wissen über Abels Vergangenheit besaß. Das Meiste erfuhr er aus den Erzählungen seiner Schwester. Der Blonde sprach selten über sich selbst und sparte selbst bei der Aufforderung an Details.
"Antonio! Verstehst du endlich, was hier abgeht?!" Der plötzliche Ruck an seinen Schultern und Abels unnatürlich laute Stimme rissen ihn augenblicklich aus seinen Gedanken.
Wie?
Der Spanier war gedanklich komplett abgedriftet! Was sollte er nun sagen?
Anscheinend reichte sein wirrer Blick aus, um Abel zur Verzweiflung zu bringen. War Antonio wirklich so stutzig und schwer vom Begriff?
Seufzend legte Abel den Kopf in die Hände. "Ich erkläre es nochmal in ganz einfach, okay? Toni, als wir hierhergezogen sind und dieses Angebot bei diesem Institut angenommen haben, haben wir einen riesigen Fehler begangen...Erinnerst du dich noch an dieses Dokument, wo du versprechen musstest, aufgrund des Dienstgeheimnisses 'damit das Ergebnis nicht verfälscht oder beeinflusst wird' keine näheren Details deiner Aufzeichnungen oder Aufträge an andere weitergibst? Hast du das Kleingedruckte nicht gelesen auf dem stand, dass es bei Verstößen 'leider' zu Konsequenzen führen könnte? Toni...", Abel atmete tief ein, setzte sich wieder gerade auf und schaute seinem Freund ernst in die lebendig grünen Augen, "Das war eine vertuschte Omertà - ein Schweige-Gelübte. Die Leute dort nutzen uns und alle anderen, die dringend eine Arbeit gesucht haben aus und verheimlichen uns ihr eigentliches Ziel! Ist dir nicht aufgefallen, wie..."
"Wie die Leute, die wir beobachten nach rund zwei Wochen wie spurlos verschwinden?" Antonio beendete mit brüchiger Stimme seinen Satz, die Realisation, die sich nach und nach wie ein Puzzle zusammenfügte, schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht.
Sollte das etwa bedeuten, dass er...
Sind alle diese Leute wegen ihm...
Nein, nicht nochmal.
Bitte.
Bitte, lass das nicht stimmen.
"Ja", Abel spürte, wie seine menschliche Seele sich bei all der aufgedeckten Schuld zusammenknüllte wie ein Stück Papier, seine Muskeln versteiften sich, "Toni, wir haben Blut an den Händen. Wir sind diese verdammte treibende Kraft hinter all dieser Scheiße, die hier abgeht. Wir und alle anderen ahnungslosen Laufburschen dieses Lügenpakets von Institut!" Abel brach zusammen und verzog die Miene vor internem Schmerz. Tränen gab es keine, doch sein starrer, verstörter Blick spiegelte das dunkle Chaos in seiner Seele wider.
Verdammt.
Verdammt.
Verdammt!
Wie viele Opfer hat es bis jetzt schon erwischt?
Antonio war wie versteinert. Es gab keine Gefühlsregung mehr, er war zu einer Statue, einem leblosen Stein, geworden. Kälte pfiff eines Windes ähnlich durch seine Brust, als herrschte darin nichts außer gähnender Leere. Glas klirrte. Etwas musste in ihm zerbrochen sein. Sein eigener Körper war ihm mehr als fremd und ein kaltes, unangenehmes Kribbeln folterte ihn unter seiner Haut. Das Verlangen, sein Unverständnis und den Schock mit einem lauten, markerschütternden Schrei von sich zu lösen, wuchs immer stärker heran.
Nein. Nein, er hatte es schon wieder getan!
Wieder...wieder sind unschuldige Menschen durch ihn...Das musste ein Albtraum sein! Oh, bitte...lass es nur ein Traum sein...Vor kurzem wurde er doch auch befördert...Welche schmutzigen Aufgaben hielt diese neue Stelle bereit? Sein kurzer Urlaub endete demnächst...
Er wollte nicht...
Er wollte nicht noch mehr in den Tod treiben!
In seiner Magengegend herrschte ein Tumult, alles drehte und überstürzte sich und Übelkeit drückte sich in seiner Speiseröhre hoch. Statt der gesunden, gebräunten Haut legte sich Blässe über sein Gesicht. Seine Augen standen weit offen, ebenso der Mund.
Plötzlich...
Lovino!
Was, wenn ein Unaufgeklärter ihn unter die Lupe nahm?!
Was, wenn es ihn eines Tages traf?
Herzklopfen wurde zu Herzrasen, in Antonios Kopf brummte es und er atmete unregelmäßig in kurzen Abständen. Er musste verhindern...Er musste verhindern, dass weitere junge Männer ins Jenseits befördert wurden...Er musste verhindern...dass Lovino etwas zustieß.
"Und was machen wir jetzt?", Panik und ein Hauch Verzweiflung brachen seine sonst so fröhliche, sichere Stimme auf, "Wie kommen wir aus dieser Misere raus, Abel? Bitte...sag es mir..." Antonio wollte nicht mehr, er betete darum, dass diese plötzliche Realisation ein einfacher Albtraum wäre, aus dem er in wenigen Augenblicken erwachte, doch leider erwies sich diese Hoffnung als negativ. Das hier war die nackte, furchtbare Realität.
"Ich weiß es nicht, Toni!", so aufgebracht, wie Abel in dieser nächtlichen Stunde war, hatte Antonio ihn noch nie erlebt, "Wüsste ich es, wäre ich doch schon längst hier ausgestiegen! Aber es geht nicht!" Sich die Haare raufend atmete er scharf ein, jeder Atemzug stach wie ein Dolch in seine Lunge. "Verdammt, ich hab es vor wenigen Wochen, als ich dieses Gespräch zwischen dem Capo und Lutz mitgehört habe, auch versucht. Ich hab doch gehört, wie sie darüber gesprochen haben, ob der Fall 'Scharlachrot' erfolgreich war. Die Abteilung von Lutz war für das Verschwinden und den Tod von Lorenzo und Silvio verantwortlich. Sie hätten beide 'entsorgt', doch der Boss sei unzufrieden. Ich hab natürlich in diesem Moment nichts gesagt und so getan, als wäre ich gerade erst angekommen, als sie mir entgegenkamen. Wenige Tage später hab ich mit Natalya geredet und gemeint, dass ich kündige. Ich wollte mit der Sache nichts zu tun haben und möglichst gleich zu den Carabinieri gehen, möglichst anonym natürlich, um dem Ganzen ein Ende zu setzen."
Abel holte tief Luft und beäugte mit grau verschleiertem Blick die Standuhr, die immerwährend und ruhig vor sich hin tickte. "Natalya hat mit dem Personalleiter gesprochen. Eine Kündigung meinerseits sei unmöglich. Der Capo unserer Fakultät hat dann natürlich Wind davon bekommen und sofort geahnt, was los war und Lutz und seine Männer dazu angestiftet, sich um mich zu 'kümmern'." Abel knickte den Zeige- und Mittelfinger beider Hände auf und ab und imitierte Anführungszeichen. "Tja. Meine erste Warnung war natürlich dann die Narbe hier oben", er zeigte auf die verheilte, aber gut sichtbare Narbe an seiner Stirn über seiner rechten Augenbraue, „Würde ich es wagen mit Außenstehenden darüber zu sprechen, wüssten sie genau, mit welchen Mitteln sie gegen mich vorgehen müssten. Ich Trottel nahm das natürlich nicht ernst, sie wussten doch, dass ich weder Frau noch Kinder habe, und meine Eltern sind außer Reichweite, also habe ich mir gedacht, sie hätten nichts gegen mich in der Hand...So dachte ich jedenfalls..."
"Sie haben aber etwas gefunden, nicht wahr?" Antonio hörte ihm genau zu, ein eisiger Schauer jagte ihm über den Rücken und fror sein heißes Blut ein. Abel nickte und sein Blick verfinsterte sich, war aber zudem geprägt von einer Ängstlichkeit, die für jemand mutigen wie Abel unmöglich erschien. "Sie wissen, dass Emma meine Schwester ist. Und sie wissen auch, dass Michelle und sie zusammen sind. Sie könnten ihnen, was weiß ich, schreckliche Sachen antun. Sie besitzen genügend Mittel und somit haben sie mich in eine Zwickmühle gedrängt. Nun habe ich wieder einen Fehler begangen. Ich habe dennoch versucht, irgendwie aus diesem Wahnsinn rauszukommen. Nur um Emma und Michelle zu schützen...Aber, naja, jetzt siehst du ja, was daraus geworden ist. Der Beweis sitzt ja vor dir. Antonio...", wieder raufte sich der Mann die zerzausten Strähnen nach hinten, "sag mir, was soll ich tun? Ich kann nicht riskieren, dass meine Schwester und ihre Freundin wegen mir in Schwierigkeiten geraten. Ich kann nur mit dir darüber sprechen, denn du bist in diesen Mist doch genauso verwickelt und ich kann dich nicht im Dunkeln stehen lassen. Du musstest es erfahren und so wie ich aussehe, kann ich nicht nach Hause. Emma würde ausrasten. Was...soll ich tun?"
Und zum ersten Mal in Antonios Leben sah er den sonst so starken, emotionskalten Mann mit Tränen in den Augen, die nun endgültig seine blassen Wangen herunterrollten. Antonio öffnete den Mund. Kein Wort erklang, nur der seichte Atem streifte seine Lippen. Statt des wahnsinnigen Chaos und der Pein in seiner Brust herrschte nun ausschließlich eine Leere, als hätte es seine sensible Seele nie gegeben. Vielleicht war es besser so. Vielleicht war diese Betäubung der Sinne und Emotionen doch gerade das, was er brauchte, um mit kühlem Kopf voranzuschreiten und eine Lösung zu finden.
Denn irgendwie...kannte er diese Situation bereits.
Dass jemand wegen einem selbst in Gefahr schwebte und dass Menschen durch einen selbst in den Schlund des forcierten, eiskalten Todes fielen...
Viele Male hatten seine Gefühle ihn durch das Feuer der inneren Hölle geleitet, ihn in seiner Trauer und in der Wut ertränkt und gepeinigt, um ihn dann in seiner Ohnmacht der Situation zu überlassen.
Dieses Mal...verschloss sich Antonio. Und er spürte nichts.
Klar, er fand all dies furchtbar und schlimm, doch seine Emotionen brannten nicht mehr mit ihm durch. Er behielt den kühlen Kopf und sah weder rot noch schwarz allein durch den persönlichen Affekt.
"Abel", sachte legte er seine Hand bestärkend auf den Rücken seines Freundes, "Du schaffst das. Wir schaffen das. Wir werden eine Lösung finden. Es wird vielleicht eine Weile dauern, wir sind weder ein Zauberer noch Gott, der uns mit einem Fingerschnippen hier raus hexen könnte, aber ich werde dich unterstützen. Ich bin noch nicht auf ihrer Liste, ich kann versuchen, in diesem System herauszufinden, wie wir beide möglichst friedlich oder zumindest unauffällig und still aussteigen können. Dann packen wir alle - also Emma, Michelle, Lovino, du und ich - unsere Sachen, melden es anonym den Carabinieri und verschwinden noch am selben Tag aus der Stadt."
Zumindest hoffte Antonio das.
~o~
Tage vergingen und aus dem einst kühlen Wetter wurde nach und nach eine letzte Hitzewelle im Spätsommer. Der Herbst war nun nur noch wenige Wochen entfernt und für Abel und Antonio hatte sich in der Zwischenzeit nicht viel geändert. Noch immer gab es keinerlei Fortschritte oder allein Einfälle, wie die beiden sich aus diesem ausgeklügelten Marionettenspiel herauskämpfen konnten, ohne dabei mit dem Risiko zu spielen, sich selbst und andere zu verletzen. Doch zur selben Zeit verhielten sich auch die Kriminalfälle in der Stadt in Grenzen. Es war...ungewöhnlich ruhig, als wüssten die Verantwortlichen, dass sie von nun an ständig beobachtet und kontrolliert wurden. Aber gerade diese auffällige Ruhe - als Konferenz der "Forschungsergebnisse" getarnt - machten den beiden Männern das Leben schwer. Hatte sie jemand im Visier und erhielten demnach falsche oder ungenügend Informationen oder versammelten sich tatsächlich alle Capos und ihre Untergebenen am runden Tisch, um ihre Strategien zu ändern? Sortierten sie die Laien und Verdächtigen aus? Antonio war sich nicht sicher, was ihn erwartete und der ständige Druck auch nur einen falschen Schritt zu vollziehen, hielt die spitzen Klauen an seinen Nacken; dazu bereit, ihm die Luft zu rauben, wenn es ihm zu viel wurde.
Umso mehr freute er sich als seitens der ahnungslosen Emma die Idee kam, am letzten warmen Sommertag raus in die Natur, weit weg von dieser wahnsinnigen Stadt, zu reisen, um einen freien Tag gemeinsam zu verbringen.
Genau...vielleicht half ihm ja dieses Fernbleiben von der Stadt damit, seine Gedanken zu ordnen und sich einen anständigen Plan zu überlegen...
Zur selben Zeit beobachtete Antonio, dass Lovino regelmäßiger Briefe von seiner Familie erhielt. Sie mussten wohl ihre Kommunikationsprobleme halbwegs aussortiert haben und auch Lovino wirkte weniger verbittert bei dem Stichwort 'Familie'. Anders als Antonio, dessen Seele bei jedem Brief, den er in Lovinos Händen erblickte, daran verdarb und litt, dass ihm dasselbe Glück niemals wieder widerfahren könnte.
Dabei würde er so gerne versuchen, seine Mutter ein allerletztes Mal umzustimmen oder zumindest sich auf reife, selbstbewusste Art und Weise von ihr ein für alle Mal zu trennen. Doch viel mehr sehnte er sich danach, seine Großmutter nach diesen drei Jahren zu besuchen. Seine Abuela war immer an seiner Seite gestanden, auch als ihn alle Welt verlassen hatte. Zwar schickte er ihr regelmäßig einen Teil seines Gehalts, um sie finanziell zu unterstützen und die Korrespondenz zwischen ihnen war aufrecht geblieben, jedoch blieben die Briefe seit einem Monat aus.
Vielleicht war sie mit der Ernte so beschäftigt...
Antonio sollte sie wieder besuchen...sie war doch schon eine alte Dame, wer wusste schon, wie lang er sie noch bei sich hatte?
Aber wie brachte er all das unter einen Hut? Diese Zwickmühle dieses verflixten Berufs und den Drang seine Familie wieder zu sehen? Wäre es egoistisch für eine Handvoll Tage aus der Stadt zu verschwinden? Oder wäre gerade diese situative Ablenkung Inspiration für sein weiteres Vorgehen?
"Erde an Bastard! Ey!"
Plötzlich schnippte jemand mit den Fingern vor seinem Gesicht und riss Antonio somit aus seiner Gedankenwelt. Allein vom Wortlaut her konnte es niemand anderes als Lovino sein.
"Sag mal, schläfst du im Stehen ein?! Willst du jetzt 'n Focaccia mitnehmen oder nicht?" Der knapp kleinere Italiener zupfte an seinem beigen Hemd, um die Aufmerksamkeit seines Freundes zu erhalten. Antonio hatte komplett ausgeblendet, dass sie gerade durch die Marktstraße schlenderten, um sich etwas Proviant für den Nachmittag mitzunehmen. Schon die ganze Woche lang zeigte er sich beinahe ausschließlich so gedankenversunken und Lovino bereitete das große Sorgen.
Dass jemand wie Antonio seinen Kopf so sehr anstrengt, kann nur ungesund für ihn sein...
Da musste etwas falsch sein, denn wie hätte er sonst den Titel "hirnloser Tomaten-Bastard" bei Lovino eingeheimst?
Trotz Lovinos äußerlicher, rauen Schale erkannte Antonio seinen weichen, fürsorglichen Kern, in jedem Moment, in denen er in Lovinos honigfarbene Augen sah. Antonio las seine Seele wie ein offenes Buch vor sich und allein Lovis Blick verriet ihm: "Wieso denkst du so viel? Ist es noch wegen den Briefen, die du letztens wieder gelesen hast? Geht es dir gut? Ich möchte dir wirklich helfen, doch ich weiß einfach nicht wie..."
Für Lovino war seine atypische Art also offensichtlich, doch er schaffte es nicht, darauf direkt einzugehen. Sein Lovinito war kein Mensch der Worte, das wusste Antonio, dennoch verspürte er durch Lovinos Idee, mit ihm gemeinsam in die Innenstadt zu gehen, um sich gemeinsam für den kleinen Ausflug am Nachmittag vorzubereiten, die tiefe Fürsorge, die sein Freund für ihn empfand. Mit diesem Vorschlag meinte Lovino auch, ihm die eine oder andere kulinarische Kleinigkeit zu zahlen, kaum bemerkte er den Heißhunger Antonios auf dieses oder jenes kleine Gericht. Er hatte also bemerkt, dass es Antonio nicht sonderlich gut ging und bemühte sich aus tiefstem Herzen darum, dieses Unbehagen durch kleine Taten für Antonio zu lindern.
Womöglich dachte der hitzköpfige, grob auftretende Italiener, keinerlei Hilfe zu sein oder Antonio mit jedem ungewollt harschen Satz noch unzufriedener zu stimmen, doch dem war nicht so. Im Gegenteil.
Antonio verstand Lovinos Sprache der Zuneigung und das Bemühen um ihn, das er zu spüren bekam, war der beste Trost und die liebste Geste, die er sich wünschen könnte.
Denn auch wenn Antonio gerne Dinge, die ihn belastete, aussprechen würde, er brauchte jemanden, der ihn ohne belehrenden Kommentar aus seiner abgeschirmten Welt rausholte, um überhaupt erst mit kühlem Kopf auf seine Probleme eingehen zu können.
Worte konnten vieles heißen, vielleicht waren sie auch nur ein Produkt von Halbherzigkeit und eine oberflächliche Art und Weise, seinen Kummer im Kopf zu stillen.
Aber Taten...diese sprachen sein Herz an und benötigten Engagement sowie etwas Wahres, denn sie konnten niemals lügen. Die Augen und seine Seele mussten sich jedoch erst aufmerksam öffnen, um die durch Taten getragene Liebe und Fürsorge in ihrem vollen Glanz zu erkennen.
"Also! Focaccia oder nicht?" Lovino wartete ungeduldig auf seine Antwort und kramte durch sein rotes Portemonnaie. Ein kleines Lächeln malte sich auf Antonios Gesicht und er nickte. "Ja, nimm ein paar davon mit, am besten die mit Tomaten und Oliven."
"War ja klar", schoss es Lovino direkt durch den Kopf, als er der Verkäuferin die scheppernden Münzen in die Hand leerte und dafür die gewünschten Focaccia erhielt. Mittlerweile sollte Lovino gelernt haben, dass sein lieber Freund gerne Tomaten und Oliven aß. Dabei sollte er nicht selbst reden, denn auch Lovino hatte seine kleinen Lieblingsspeisen, die oftmals auch mit Tomaten auf den Teller kamen. Geschwind verschwand die frische Speise in Lovinos Tasche und der etwas kleinere der beiden Männer griff direkt nach der Hand Antonios und zog ihn durch den Menschenstrom. "Boah, das nächste Mal sind wir am Morgen hier und nicht zu Mittag! Ich hasse so scheiß große Menschenmengen so verdammt sehr!", fluchte Lovino zischend vor sich hin, während er sich darum bemühte gemeinsam mit Antonio - und zwar ohne ihn zu verlieren - endlich wieder zur weniger belebten Gasse des Marktes zu gelangen. "Lovi, du stehst ja selbst an freien Tagen nicht unbedingt früher als ich auf..."
Das hätte Antonio besser nicht sagen sollen, denn nun hatte er Lovinos Ehre verletzt. "Beiß ja nicht die Hand, die dich füttert, Bastard. Du weißt, ich hab dein Essen für den Nachmittag!"
"Du kannst mich doch nicht verhungern lassen!", protestierte Antonio direkt, als sie einmal abbogen, aber Lovino setzte seine neu begonnene Ära als Bösewicht mit einem frechen Grinsen fort.
"Oh doch, das kann ich und dann ess' ich mein Focaccia auch noch provokant vor deinen Augen, damit ich den Schmerz in deinen Augen sehen kann!" Überspitzt zeigte er die Zähne beim Lächeln und seine Augen schlossen sich zur Hälfte, die Schadenfreude in seinem Herzen war nicht zu übersehen. "Aber...Aber, Lovi!", jaulte Antonio sofort und legte mit seinem Sinn für überspielte Dramatik gleich noch mehr Leid und Jammern in seine Misere, "Du bist ja richtig gemein!" "Gern geschehen!" Lovino schmunzelte weiter, schickte seinem Freund zusätzlich noch im Affekt seiner nun aufgebauten Selbstgefälligkeit einen spitzbübisch und schadenfreudig gemeinten Luftkuss zu.
Plötzlich, keine Antwort.
Lovino dachte sich nichts dabei und zog seinen Freund weiterhin mit sich mit.
Antonios Mund öffnete sich einen Spalt, aber kein Wort wagte sich heraus. Sein Blick lag weiterhin auf Lovino, der ihm wenige Sekunden zuvor einen kribbelnden, eisigen Schauer über alle Gliedmaßen schickte und sein Herz in einer Paralyse aus roten, elektrischen Fäden zum Stillstand brachte, ehe es schneller denn je zu schlagen begann. Aus der Kälte des Schauers wurde Wärme und dann schließlich Hitze, die sich in seinem Inneren wie eine kleine Flamme entfachte und ihn wärmte wie der glimmernde Docht einer Kerze im Advent. An seinen Wangen brannte es. Ob er rot geworden war?
Antonio konnte sich selbst nicht betrachten.
Denn sonst hätte er bestimmt auch dieses plötzlich aufgeblitzte Funkeln in seinem Augenpaar entdeckt...
Lovino selbst schritt ahnungslos durch die Gegend weiter, nicht wissend, was er mit seinem spaßig gemeinten Verhalten bei Antonio angestellt hatte. Stattdessen war er einfach froh, als er endlich wieder mehr Luft und Raum um sich herum spürte und aus dieser erstickenden Menschenmenge fliehen konnte. Der neu gewonnene Raum führte jedoch auch dazu, dass Lovino Antonios Hand losließ und dieser nun mit dem Verlassen seiner wohligen Wärme konfrontiert war.
Antonio hätte seine Hand gern noch ein paar Minuten länger gehalten...
Oje, Antonio verdrängte seine Gedanken sofort, über solche Dinge sollte er nicht nachdenken. Insbesondere, wenn es um einen Freund ging.
Je weiter sie sich vom Hauptplatz entfernten, desto nuschelnder und abgeschwächter vernahm er die vielen diversen Stimmen vom Markt und Ruhe kehrte ein, die seinen Ohren mächtig gut tat. Lediglich das Klacken und Klappern der Hufe und Räder einiger alter Kutschen von Bauern, die ihre Ware lieferten, störten die sonstige Stille. Gerade eine Handvoll Leute schwirrten noch in den Gassen herum, darunter eine kleine Gruppe von Jugendlichen und einer älteren Dame im roten Kleid, die sich offensichtlich mit ihrem Einkauf abschleppte. Ein weiterer Wagen, geladen mit zahlreichem Getreide fuhr vorbei, als plötzlich einige Orangen und Zitronen auf der Straße herumpurzelten und Lovino erkannte, dass das vorhin noch prall gefüllte Leinensäckchen der alten Dame an den Trägern gerissen war und sie trotz ihres wehleidigen Kreuzes versuchte, die Lebensmittel zusammenzusammeln.
Lovino dachte nicht nach, kniete sich auf die warme, gepflasterte Straße und griff nach den Zitrusfrüchten, die sich vor ihm befanden. Es dauerte nicht lange, da hatte er alle Orangen und Zitronen in seinen Armen zusammengesammelt und brachte sie der alten Dame zurück, die sie dankend annahm. "Grazie, junger Mann", die Dame steckte eine Frucht nach der anderen in ihren Ersatzbeutel, "Es ist schön zu sehen, dass es noch einige hilfsbereite junge Leute wie Sie...gibt." Sie hob den Kopf, ein Lächeln auf dem Gesicht tragend, das plötzlich verblasste, kaum sah sie sein Gesicht. Stille. Für den Augenblick hielt sie inne, betrachtete ihn und doch malte sich keine Sekunde später erneut ein mildes Grinsen auf ihre Lippen. Lovino spürte ihren Blick auf sich und feine Härchen auf seiner Haut stellten sich nacheinander auf.
Kälte...Weswegen war ihm auf einmal so kalt geworden? Wieso fühlte er sich für jenen Moment von der Welt abgekapselt?
"Lovino! Wir müssen los!" Antonios Ruf holte ihn aus seinen Gedanken ab und Wärme entfachte in seinem Körper, vertrieb die Kälte, die gerade noch wie eine Brise an seinen Armen leckte. Sofort schnellte er den Kopf in Antonios Richtung. Die alte Dame mit den rubinroten Ohrringen und dem silbergrauen Haarkranz, die nun an ihm vorbeizog, vergaß er für den Augenblick. Dennoch ließ ihn das komische Gefühl nicht los, das in seiner Magengegend herumtollte.
Irgendwoher kannte er sie, aber er hatte den Namen vergessen.
~0~
Die Natur lebte. Die im Wind sanft wiegenden Gräser, das Surren der Insekten in der wärmenden Sonne und der Geruch von Meer, der in die Nase stieg. Die Luft war feucht, gar schwül und einige Möwen flogen kreischend über das Wasser, das man schon von Weitem erblickte. Wellen preschten gegen die Klippen; der Stein färbte sich eine Nuance dunkler, wenn es ihn traf. Die Landschaft war hügelig, der Aufstieg steil und beinahe hätte Lovino geglaubt, er befände sich in den Bergen, dabei wanderten sie lediglich einen der vielen Hügeln hinauf, die sich eine gute halbe Stunde von der Stadt entfernt befanden. Abel, Michelle, Emma, Antonio sowie Lovino hatten Glück. Der alte Jean, den Lovino noch von seiner Ankunft kannte, begegnete ihnen auf ihrem Weg aus der Stadt und nahm sie ein Stück lang auf seinem Fuhrwerk mit. Er war ohnehin bereits auf dem Weg nach Hause und musste in dieselbe Richtung wie die fünf Freunde. Die Straße war uneben gewesen, hin und wieder schupfte es die Truppe ein klein wenig zur Seite, wenn ein Stein auf der Straße lag, die schließlich in einen engen Pfad führte. Lovino dachte ungern an die Fahrt zurück. Er hatte sich sehr eingeengt gefühlt, wenn durch das sich bewegende Fuhrwerk, Antonio sowie Emma ihm auf die Pelle rückten. Insbesondere Antonio, der ziemlich dauerhaft an ihm klebte. Seine Nähe...sie löste in Lovino Gefühle aus, die er selbst kaum benennen konnte.
Sie waren neu, aber nicht unbedingt...unangenehm?
Aber nun latschten sie seit einer gefühlten Ewigkeit auf diesen Hügeln herum, in der Hoffnung endlich einen sicheren Zugang zum Meer zu finden. Vorzugshalber mit einem kleinen Sandstrand. Lovino brummte genervt. Er war eigentlich davon ausgegangen, dass er einen schönen Tag haben würde, aber stattdessen wurde er zum Sport gezwungen. Igitt. Konnte er nicht einfach sein Tuch hier ins Gras legen und ein Nickerchen halten?
Wahrscheinlich eher nicht, es sei denn, er wollte einen Sonnenbrand riskieren.
Dennoch blieb er bei seiner Standardeinstellung: Sport war Mord und das nächste Mal würde er lieber in eine leichter erreichbare Gegend gehen, in der er nicht zum Wandern gezwungen war. Konnte ihn denn niemand tragen? Seine Füße schmerzten schon und er hatte sichtlich keinen Bock mehr, sich weiter abschwitzen und lebendig braten zu lassen wie bei einer Freiluft-Grillerei, einer Foltermethode...der sizilianische Bulle!
"Lovi? Du siehst durstig aus, vergiss nicht zu trinken. Sollen wir eine Pause machen?" Antonio, der mittlerweile zum Gruppen-Packesel ernannt wurde, hatte sich zu ihm gedreht, als er bemerkte, dass Lovino das Schlusslicht bildete und immer langsamere Schritte machte. Bevor Lovino überhaupt eine Antwort parat hatte, drückte ihm Antonio bereits die Flasche in die Hand, suchte womöglich auch schon nach den Focaccia. Lovino verstummte durch die plötzliche Fürsorge, sein Sonnenbrand war wohl nicht mehr das einzig Rote auf seinen Wangen und die Bewegung war nicht mehr der einzige Grund für sein schnell schlagendes Herz.
Nun bemerkte auch Michelle, dass Antonio sowie Lovino stehen geblieben waren und legte nun ebenso eine kurze Rast ein, sagte dann aber noch Abel und Emma Bescheid. "Leute, wir machen Pause! Lovino braucht kurz eine..."
"Nein, schon gut, ihr braucht wegen mir jetzt kein Trara machen! Gehen wir einfach weiter!", protestierte Lovino augenblicklich. Er wollte vor den anderen nicht schwach und zu unsportlich wirken, denn außer ihm schien jeder noch Energie zu haben.
"Aber überanstrengen solltest du dich auch nicht..." Antonio sprach ihm sanft und doch sorgend zu. Seine Worte glitten wie Seide über seine Haut, sein Kopf rebellierte kein Stück als hätte man eine Zauberformel an ihm angewendet, denn sie erreichten sein Herz ohne Widerrede und Lovino akzeptierte sie. "Okay...Ist ja gut! Ich hab es kapiert!" Lovino nahm einen kräftigen Schluck Wasser, wischte sich über den Mund, drückte Antonio die Flasche wieder in die Hand und ging schon einige Schritte voraus. "Aber so lange werden wir nicht mehr herumlatschen. Hoffentlich. Ein bisschen kann ich noch."
"Das ist gut!", Michelle lächelte ihm zu. Plötzlich erklang ein Ruf von Emma, ihre Augen funkelten vor Energie. "Abel hat einen kleinen Pfad bergab entdeckt, der geht direkt runter zum Strand!" Mit dem Zeigefinger zeigte sie auf den schmalen Weg, der neben den kleineren Klippen einen direkten Zugang zum Meer ermöglichte. Was für ein Glück! Das hieß doch, dass Lovino nicht noch mehr Stunden mit Wandern aushalten musste!
"Uh, wie toll, wir kommen schon!", rief Michelle Emma sofort zu und wandte sich anschließend zu Lovino, "Los, Lovino, gehen wir! Es ist gar nicht mehr weit!"
"Stimmt! Wenn wir unten sind, dann kannst du auch eine längere Pause machen, ich pass auch auf, dass ich dir was von den Focaccia übriglasse." Antonio trug wie erwartet sein Grinsen mit sich. Er grinste immer, wenn er in Lovinos Nähe war und das seit Tag eins, fiel Lovino ein, wurde aber anschließend aus seinen Gedanken gerissen, als er eine warme Hand auf der seinen spürte und ein Kribbeln durch seine Adern schoss. Antonio hatte nach seiner Hand gegriffen, hielt sie mit aller Vorsicht und zog Lovino hinter sich her, den engen Pfad hinunter.
Lovino sollte nicht dauernd das alleinige Schlusslicht sein, das einsam vor sich hin trottete.
"Boah, ey, macht doch etwas langsamer! Was habt ihr denn für einen Stress?", maulte Lovino und bemühte sich darum, bergab nicht über seine eigenen Füße zu stolpern, während Antonio weiterhin seine Hand hielt. Lovino verabscheute es, so gehetzt zu werden!
"So schnell laufen wir aber auch nicht, Lovino..." Abel sah über die Schulter nach hinten und seine normalerweise emotionsleere Mine erhellte sich belustigt. "Du mit deinen kurzen Beinen brauchst eben doch noch mehr Schritte."
"Na, hör mal! Was soll der Scheiß?! So kurze Beine hab ich nicht!", protestierte Lovino sofort, legte extra einen Zahn zu, um ganz vorne mitzulaufen und Antonio verkniff sich ein Kichern. Lovino war einfach zu niedlich, wenn er versuchte, sich zu behaupten!
"So!", kaum erreichte Lovino als erstes die von den Hügeln und Klippen eingeschlossene Bucht mit dem kleinen Sandstrand, ließ er sich auch schon erschöpft in den aufgeheizten Sand fallen, "Ich geh keinen Zentimeter mehr!" Dass ihm der heiße Untergrund gerade die Haut verbrannte, unterdrückte er gekonnt. Sonst hätten die anderen wieder etwas zu lachen.
"Willst du dich nicht lieber in den Schatten legen?" Emma sah verdutzt auf Lovino herab, stellte aber ihre Tasche dann in den Schatten des Felsvorsprungs der hohen Felswand. Ein Loch ragte in Augenhöhe in der steinernen Wand, es sah aus wie ein Tor zu einer anderen Welt, wurde aber direkt als Halterung für ihre Handtücher missbraucht.
"Ne! Da müsste ich ja wieder aufstehen, igitt!" Lovino blieb ganz der Dickkopf und murrte rum und akzeptierte lieber sein Leiden in der Sonne, als nur einen einzigen weiteren Schritt zur Seite zu machen.
"Wie kann man nur so stur sein?", lachte Michelle, fasste ihn an den Handgelenken und zwang ihn dazu, sich aufzusetzen, "Du findest immer irgendetwas, um dich beschweren zu können!"
Lovino nickte und machte sich extra schwer, um nicht von ihr auf die Beine gezogen zu werden. Dann würde er ja doch wieder stehen! "Lass mich hier liegen. Ich hab entschieden, hier einfach in der Sonne zu verenden wie ein verrottendes Stück Fleisch."
Darauf folgte ein Klatschen, denn Michelle schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Lovino dachte schon, er hätte gewonnen, doch plötzlich spürte er einen Ruck unter seinen Achseln und wurde widerwillig von Abel hochgezerrt. "Wenn wir dich hier liegen lassen, beschwerst du dich morgen, dass du einen Sonnenbrand hast. Also jammere nicht. Der eine Schritt bringt dich nicht um."
"Jaja, ist ja schon gut!", zischte Lovino und quälte sich in den Schatten, wo auch schon Antonio auf ihn wartete und direkt lächelte. "Sieh es positiv, Lovi, jetzt kannst du entspannen!" Antonios Lächeln nahm neue Züge an; es wurde wärmer und vertrauter als die, die er bisher beobachten konnte. Doch während Lovino seine Blicke auf sich spürte, wie ein seidenes Tuch, bemerkte er, dass sein Grinser allmählich verschwand, aber Antonio stattdessen näherkam. Er konnte seine Körperwärme an seinem Oberarm spüren und wie sich seine feinen Härchen aufstellten. "Du hast Sand in den Haaren, warte kurz..." Geschwind fuhr ihm Antonio durch seine Strähnen, bis der Sand wie Schnee zu Boden rieselte. Stumm ließ Lovino diese spontane Nähe zu, doch ein schwaches Kribbeln schoss durch seine Adern, machte sein Herz unruhig und seine Wangen heißer, obwohl ihm im Schatten eigentlich kühler sein müsste.
Huch? Woher kam diese Reaktion?
"So, jetzt ist alles weg!", triumphierend und stolz auf seine Hilfsbereitschaft kam sein Lächeln wieder zum Vorschein und Lovino spürte, wie sich ein einzelner Strang seines Herzens ruckartig zusammenzog.
Was war das gerade?
Auf einmal erklang ein wildes Rauschen und Lachen von Weitem und Lovino schnellte augenblicklich den Kopf zum Meer. Emma und Michelle hatten ihre Kleider hochgerafft, standen im knöcheltiefen Wasser und alberten wie zwei Kinder herum, indem sie sich gegenseitig abspritzten. Lovino beobachtete das Pärchen, sah sich dann aber nach Abel um, nur um ihn angespannt und in Gedanken versunken einige Meter weiter von Antonio und ihm entfernt an der Felswand angelehnt zu entdecken. In seinen Händen befanden sich einige Zettel. So manche besaßen Kritzeleien und Notizen, die anderen waren nur zur Hälfte beschrieben, nur konnte Lovino von der Entfernung kaum erkennen, was Abel sich notiert hatte. Plötzlich sah Abel in seine Richtung und doch an ihm vorbei, zu Antonio.
Heimlich wechselte Lovino den Blick zu Antonio. Neugierde kribbelte ihn bereits unter den Fingerspitzen, doch als er Antonios erschöpft grinsenden Gesichtsausdruck erblickte, den er Abel zuwarf, wurde er ruhig.
Was war denn nur los?
Lovino wusste nichts.
Woher denn auch?
Nie könnte er ahnen, was sich in den Köpfen seiner beiden Freunde abspielte.
Nie könnte er ahnen, dass sich beide tagelang die Köpfe darüber zerbrochen haben, wie sie aus ihrer Misere herausfänden.
Nie könnte er ahnen, dass zwei seiner engsten Vertrauten in jener Stadt auch diejenigen waren, die hautnah an der Gefahr beteiligt waren, die Lovinos Beine tagtäglich zum Schlottern bringen konnten.
Abel hatte seine Überlegungen der letzten Tage in Stichworten aufgeschrieben, Vieles jedoch verworfen und schließlich mit Feuer vernichtet, um kein Risiko einzugehen. Er war müde. Er brauchte eine Pause und bestenfalls eine kurze Zeit, in der er weder an die Last denken musste, die auf seinen Schultern lag noch an die Konsequenzen dachte, die durch seine Pläne hervorgebracht werden könnten. Aber auch Antonio sehnte sich nach einer Auszeit, die ihm kaum gegeben war, denn dachte er einmal nicht an seine Zwickmühle mit der 'Arbeit', dann waren es die selbstzerstörerischen Gedanken an seine Familie, die ihm das Leben erschwerten. Eines seiner Probleme musste sich so bald wie möglich in Luft auflösen, doch welches davon sollte er als erstes bewältigen? Am liebsten wäre er nun zurück in Spanien, weit weg von der Gefahr und mit einem Neuanfang mit seiner Familie. Vielleicht könnte er dort besser darüber nachdenken, wie er seinen Konflikt hier in Italien lösen könnte, ohne unmittelbar mit den hochgefährlichen Institutionen konfrontiert zu werden. Aber...was wurde dann aus seinen Freunden?
Nein, nun, wo sie am Strand waren, hatte er keine Zeit, um darüber nachzudenken. Er sollte die wenigen Stunden außerhalb der Stadt genießen, um Kraft zu tanken. Das galt auch für Abel. Er sollte sein Schreibzeug zur Seite legen. Ansonsten explodierte sein Kopf vor endloser Anstrengung. Also drückte sich Antonio mit den Händen vom Boden ab, stand auf, zog Abel die Zettel aus den Händen und schob sie tief in die Tasche zurück.
"Hey!" - "Heute nicht, nutz die Zeit anders. Ist besser für dich."
Antonio hatte Abels Protest direkt abgewürgt und beäugte ihn ernst. Seinem Blick zufolge konnte Abel es sich deuten, was Antonio im Moment dachte, weswegen er seufzte und einmal auf seinen jüngeren Freund hörte.
Ein Dickkopf war er.
So wie jemand, den er vor einigen Jahren...
Nein.
"Von mir aus." Kaum hatte Abel nachgegeben und seine Zwangspause akzeptiert, stand auch schon Lovino neben Antonio und ihm. Neugierde stand ihm auf der Stirn geschrieben und sein interessiertes Funkeln in den Augen schlug Purzelbäume. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit erlangt.
"Was für eine Art von Lästerrunde habt ihr grad eröffnet? Kann ich mitmachen?"
Lovino hatte keine Ahnung von dem neu entstandenen Chaos in Abels und Antonios Leben. Vielleicht war es auch besser so.
Sich auf die Unterlippe beißend, suchte Antonio nach einer Ausrede und nahm direkt seine erste zur Hand. "Ach, eigentlich lästern wir gar nicht! Ich hab dem da nur gesagt, dass er mal Spaß haben soll. Du weißt ja, wie Abel ist. Der Typ hat glaub ich die letzten...Warte, wie alt bist du nochmal?", er wandte den Kopf erkundigend zu Abel, verwarf aber kurz darauf die Wichtigkeit der Frage, "Wie auch immer, Abel macht nie Pause, dieser Wahnsinnige!"
"Was soll das denn jetzt heißen?" Abel zog die Luft scharf ein und zog die Augenbrauen streng zusammen. Antonio hob jedoch direkt die Hände auf Brusthöhe. "Nichts!"
"Meine Fresse, ihr beide seid Volltrottel", Lovino seufzte und verschränkte augenrollend die Arme vor der Brust, "Viel Spaß noch beim Streiten oder so, ich geh ans Wasser."
"Ich geh mit!", flötete Antonio, fasste Abel am Oberarm und zerrte ihn mit sich, "Und Abel kommt auch!"
"Das hast du jetzt gesagt, nicht ich...", raunte dieser genervt, wehrte sich aber nicht gegen die übertriebene Motivation seines Freundes und ließ sich von ihm zum Ufer zerren, wo Lovino sich bereits die Füße abkühlte. Mit Sicherheitsabstand zu der Wasserschlacht von Emma und Michelle, die mittlerweile aussahen, als hätten sie mitsamt Kleidern versucht, nach einem versunkenen Schatz zu tauchen.
Eine Wolke schob sich über die brennend heiße Sonne, spendete für den Moment Schatten und erlosch das glitzernde Wellenspiel, machte es matt. Antonio gesellte sich neben Lovino, beobachtete seinen Freund aus dem Augenwinkel, während eine angenehme Brise seine dunklen Strähnen sanft aufplusterte. Das ferne Kreischen von Möwen hallte in einem Zusammenspiel mit dem Meeresrauschen in Antonios Ohren, dann verschwand die flüchtige Dämmerung wieder, als Lovino sich mit dem Oberkörper in seine Richtung drehte und ihn das Sonnenlicht augenblicklich erfasste, seine Haare fein mit glänzendem Kupfer versah.
"Hey, Antonio?"
Bernstein traf Smaragd.
Sie beide strahlten, trugen einen eigenen Funken Licht in sich, abseits von der Sonne, die ihre Wimpern erhellte und die wahre Farbe ihrer Augen offenbarte.
Ba-Dum.
Antonios Herz pochte, zog sich zusammen und öffnete sich für alles, was dieser unscheinbare Moment für ihn bereithielt.
Für alles...
Wusste Lovino eigentlich, wie schön er war?
Wusste Antonio eigentlich, dass er selbst gar nicht so scheiße aussah?
Auch er war Lovino flüchtig ins Auge gestochen und immer wieder fragte sich der Kleinere, wie einzigartig und selten Antonios grüne Iriden sein mussten. Solch' grün strahlende Augen hatte er noch nie gesehen. Und...Woher kam das plötzliche Verlangen, ihm seine braunen Locken aus der Stirn zu streichen?
"Hm?", Antonio legte den Kopf schief und Lovino hatte tatsächlich vergessen, was er ihn gerade fragen wollte. Stress baute sich wie eine Mauer in ihm auf und übermannte Lovinos Selbstkontrolle mit Leichtigkeit und machte ihn unruhig. Wohin mit dieser Ruhelosigkeit? Lovino wollte sich selbst entfliehen; vor diesen Gefühlen davonlaufen!
"Ich, uhh..." Verwirrt über sich selbst sah er angespannt umher, stockte aber, als sein Blick auf die Wellen vor seinen Füßen fiel. Er musste seine innere Flut an Angespanntheit sofort loswerden! "Viel Spaß beim Tauchen!" Und schon rempelte Lovino Antonio an, schubste ihn direkt ins Meer. Zusammen mit dem inneren Druck, der ihn in den Wahnsinn trieb.
Abel, der die Szene bis jetzt still wie üblich beobachtet hatte, verkniff es sich, loszuprusten, als er den Platscher hörte und einen komplett durchnässten, hustenden Antonio entdeckte. Schnell verdeckte er seinen Mund mit der Hand und versteckte sein Schmunzeln. Erst dieser auffällige Blick von unbewusster Zuneigung zwischen Lovino und Antonio und nun das.
"Lovino!" Antonio hustete laut, klopfte sich mit der Faust gegen die Brust und spuckte das Salzwasser aus, das seinen Mund widerlich austrocknete und in seinem Rachen kratzte. Nasse Locken klebten an seiner Stirn, Hemd und Hose erschwerten sich durch das eingesaugte Wasser und lagen eng an seiner Haut. "Na warte! Das wirst du mir büßen!" Fies lachend und die Arme leicht hebend brachte sich Antonio wieder auf die Beine, watete die letzten Schritte aus dem seichten Wasser heraus und näherte sich Lovino schleppend an wie ein sich aufbäumender Bär. "Komm her, Lovi, ich glaub, du brauchst eine schöne Umarmung!", schnurrte Antonio, sein durchtriebenes Lächeln wollte nicht mehr verblassen. Wasser tröpfelte von seinen Armen herab und Lovino stolperte direkt ein paar Schritte zurück, er wollte nicht von einem nassen Bastard umarmt werden. "Boah, ne, bitte nicht! Behalt dir deine Umarmungen!"
"Naw, aber warum denn nicht? Ich bin doch ganz lieb!" Schadenfreude blitzte in Antonios Augen auf und man spürte den veränderten, frechen Klang in seiner Stimme durch Mark und Bein. Doch Lovino vergrößerte ihren Abstand zueinander, sobald Antonio ihm zu nahe kam. "Ich scheiß auf dein 'lieb sein'!" Lovino schmunzelte, aber die Panik und gespielte Furcht in seinen Augen war offensichtlich. Antonios feste Umarmungen waren wie ein Gefängnis aus warmen, starken Armen, aus dem man nicht entfliehen konnte. Lovino hatte es schon einmal in der Vergangenheit erlebt und wollte es nicht wiederholen; vor allem nicht, wenn Antonio wie ein nasser Hund eine Spur im Sand hinterließ, als wäre er ein Seemonster, das ihn entführen wollte.
"Och, komm schon...So schlimm bin ich doch auch nicht! Komm doch in meine Arme!", schmunzelte Antonio und wollte Lovino bereits in seine Arme schließen, doch dieser wich ihm geschwind aus. "Dann musst du mich erst kriegen, du Bastard!" Erneut nahm er Reißaus und lief von Antonio davon, der ihn natürlich sofort verfolgte. Immerhin wollte er Rache nehmen.
Heißer Sand wirbelte sich unter ihren Füßen auf und die nassen Klamotten hingen schwer und unangenehm an Antonios Körper herab, verlangsamten ihn. Lovino war hingegen flink, sodass Antonio ihn nie erreichte, wenn er die Arme nach ihm ausstreckte. Nichtsdestotrotz ließ er sich nicht aufhalten und Emma, Michelle sowie Abel beobachteten die beiden Idioten mit belustigter Miene. "Michelle!", Lovino ächzte außer Atem, als er Antonio erneut auswich, "Hilf mir!"
"Oh nein, Lovino", Michelle kicherte über Lovinos Jammer und darüber, wie er nun quer über den Strand gejagt wurde, "Das hast du jetzt leider selbst zu verantworten! Du hast ihn ja geschubst!"
"Stimmt", fügte Abel knapp hinzu, während er ein paar Steine und Äste auf den Boden legte, die Emma für ein Lagerfeuer für den Abend benötigte, "Ich kann das bestätigen."
"Danke für nichts!", jaulte Lovino nun, als ihn plötzlich ein Paar feuchter Arme am Bauch umfassten und ihn mit dem Rücken an Antonio drückten. Er spürte schon, wie Wasserflecken durch sein dünnes Hemd bluteten, dunkle Flecken hinterließen und immer größer wurden, desto enger und fester Antonio ihn umarmte. Zugleich heimste ihm die intensive körperliche Nähe ein überraschendes Kribbeln auf der Haut ein. Lovino wollte es loswerden!
"Bah! Nein! Lass mich los, Bastard! Du bist nass, bist du dumm?!" Wider allen Erwartens begann Lovino trotzdem herzhaft loszulachen, dass es ihm schon das warme Blut in die Wangen trieb. Ihm wurde warm und sein Herz pochte schneller, aber in hellen, federleicht anfühlenden Tönen.
"Tja, wegen wem ist das denn wohl so?" Diese Worte, wollte Antonio ihm schon an den Kopf schmeißen, doch sie verweilten als Gedanken in seinem Kopf. Denn Antonio wagte es kaum zu atmen und wieder entstand ein wohliges, warmes Blubbern in seiner Brust, als er Lovinos Lachen hörte. Seine Sinne verschärften sich, fixierten sich ganz auf den Mann mit dem herzerwärmenden Lachen in seinen Armen und ein schwaches Funkeln blitzte wie der erste Abendstern in seinen Augen auf.
Lovino...
Lovino sollte unbedingt mehr lachen...
Denn schließlich schaffte genau dieses Lachen es, aus dem schadenfreudigen, fiesen Schmunzeln einen weichen, geradezu amourösen Blick zu zaubern. Am liebsten hätte Antonio dieser wunderbaren Stimme noch stundenlang zugehört, die Augen geschlossen und einfach nur genossen, aber die Rache für Lovinos Aktion hatte er nicht vergessen, daher schnappte Antonio ihn an den Kniekehlen, legte eine Hand an seinen Rücken und hob ihn hoch. Wie zu erwarten entgegnete Lovino ihm direkt mit Rebellion, aber sich aus seinen Fängen befreien konnte er sich nicht, stattdessen wurde er still und heimlich zurück zum Meer getragen. "Hey! Bastard! Lass mich runter!"
"Ach, runter willst du?", Antonio grinste dreist und watete bereits durchs seichte Wasser, die Augen nicht von Lovino abwendend, "Bist du dir da sicher?" Lovino zog die Augenbrauen zusammen und knurrte empört, ohne zu bemerken, in welcher Situation er sich gerade hineingeritten hatte. "Ja! Ich bin mir sicher! Lass mich los! Sofort!"
Das Wasser unter ihm rauschte, preschte gegen Antonios Beine und Antonios Lächeln wurde breiter, während Lovino allmählich seinen Fehler realisierte. Seine Augen weiteten sich.
"Wie du wünscht, Lovi!" - "Warte! Nein!"
Vergebens. Mit einem lauten Platscher fiel nun auch Lovino ins Meer, sein Kopf versank im Wasser, Kälte umgarnte seinen Körper. Das Salz klebte an seiner Haut und seinen Lippen und als Lovino wieder auftauchte und wie ein kleines Kind mürrisch zu Antonio aufsah, hatte er bereits eine neue Idee. Bevor Antonio nur ansatzweise reagierte, erhob er sich, packte ihn an den Schultern und riss ihn direkt mit sich ins Wasser und dümpelte ihn, bis Antonios Kopf gänzlich unter Wasser war. "Wenn ich hier verrecke, reiß' ich dich gefälligst mit ins Verderben. Denk nicht, du kommst so leicht davon." Diesmal war Lovino es, der mit erhabenem Grinsen auf seinen Freund herabsah, dann ließ er ihn frei. So gemein, dass er seinen besten Freund ertränken würde, war er dann doch nicht. Hustend tauchte Antonio wieder auf und wischte sich die Haare aus der Stirn, sein Blick verriet sofort, was er wollte. Er wollte dieses freundschaftliche Spielchen von passiver Aggressivität fortführen, bis sie endlich quitt waren. "So, du willst dich also mit mir anlegen?", seine Stimme wurde tiefer, sensueller, ein verführerischer Hauch hinterlegte sie und obwohl Lovino sich der Albernheit der Situation bewusst war und nichts ernst nahm, zog sich sein Herz aufgeregt zusammen.
"Hab ich das nicht schon längst?", antwortete er mutig, den kurzen Moment der Schwäche gekonnt ignorierend. Zwar zuckten Lovinos Mundwinkel kess und selbstbewusst nach oben, doch in seiner Seele entfachten tausend Funken, die alles in Brand setzten, doch jenes Feuer war fern von Wut oder Schmerz. Es war auch kein Sodbrennen oder Angst. Es war eine gerade entflammte Glut, die ihn wärmte, aber auch mit Nervenkitzel und Neugier überraschte.
Was war dieses Gefühl?
"Hast du." Antonio näherte sich Lovino stetig an, doch dieser watete nach und nach aus dem Meer heraus.
"Wenn das so ist, warum fragst du dann?" Lovino stieg auf alberne Geplänkel ein, imitierte Antonios charmante Stimmlage, aber den frechen Ton, der ihn ausmachte, verlor er nie.
"Ich...Vergiss es." Antonio fand keine Antwort mehr, seine Augen fokussierten sich ausschließlich auf die kostbaren Bernsteine, die Lovinos Spiegel zur Seele waren. Doch Lovino war raffinierter als gedacht, denn ein weiteres Mal nutzte er Antonios Unachtsamkeit aus, um ihn zu Fall zu bringen. Nun lag er wieder im weichen, klebrigen Sand und die sanften Wellen schlugen kleine Bögen um ihn. Lovino hockte sich neben ihn ins seichte Gewässer, grinste schadenfroh und lehnte sich etwas über ihn. "Wenn ich mich mit dir anlege, hab ich aber ein leichtes Spiel. Es steht drei zu eins für mich." Antonio zog die Augenbrauen zusammen und lächelte.
"Dann machen wir doch drei zu zwei draus." - "Hä?"
Plötzlich packte er Lovino an den Schultern, räkelte sich selbst hoch, drückte den Kleineren rücklings in den Sand und positionierte sich über ihn, aber Lovino sah unbeeindruckt zu ihm auf.
"Du weißt, dass ich dich hier im Schwitzkasten habe?" Antonio deutete mit dem Kinn auf das Wasser, das um sie herumfloss, als wären sie ein Fels in der Brandung. Jederzeit könnte eine größere Welle Lovino überraschen. "Gegenfrage: Du weißt, dass ich dir jederzeit so richtig in die Eier treten kann, wenn du mir zu frech wirst?" Lovino ließ einfach nicht locker. Er wollte dieses Spielchen nicht verlieren, sei es auch noch so irrelevant für sein Leben.
Antonio öffnete den Mund, wollte eine blöde Bemerkung machen, als...
Bernstein traf Smaragd.
Einmal mehr trafen sich ihre Blicke.
Und einmal mehr gewann die Stille, die lediglich vom Rauschen des Meeres und dem Knistern des Lagerfeuers begleitet wurde.
Antonio sah auf Lovino.
Lovino betrachtete Antonio.
Ihre Pupillen weiteten sich, ihr Herz blieb stehen.
Plötzlich, eine kleine Welle, die über Lovinos Gesicht spülte und direkt in seine Nase, Mund und Augen eindrang. Lovino hustete lautstark, schnappte gierig nach Luft, während das Salzwasser in seinen Augen und in den Nasenlöchern brannte. Verdammt! Musste das jetzt sein?
"Ah, Lovi! Warte...", Antonio vergaß seine geglückte Rache sofort und er strich Lovino fürsorglich einige nasse Strähnen aus der Stirn, "Lass mich helfen..." Sich vor Schmerzen windend, zwickte Lovino die Augen zu. Antonios warme Fingerspitzen glitten zärtlich über seine Wange, dann wischte er ihm mit dem Daumen das Wasser von den Augen weg. Alles glühte. Jede Stelle, die er berührte, erwärmte sich, als hätte man hundert Kerzen unter seiner Haut entzündet. Wenn Lovino nicht ohnehin einen Sonnenbrand über seine Nase bis zu den Wangen gehabt hätte, dann wäre Antonio bestimmt aufgefallen, wie rot er geworden war und hätte sich womöglich auch noch darüber lustig gemacht.
"Geht's?" Aus Antonios Stimme war jegliche Schadenfreude entwischt, stattdessen hörte man die Sorge um seinen Freund heraus. Lovino öffnete nur spärlich die Augen. Sie waren noch ein klein wenig rot, aber zumindest konnte er wieder sehen.
Sehen...Genau, das konnte er, aber nicht in Antonios Augen.
Denn sonst...
Lovino antwortete nicht direkt auf Antonios Frage, sein Rachen blieb auch nach dem Hustanfall beleidigt und trocken, weswegen er nicht mehr als ein knappes "Mhm" rausbrachte.
Auf einmal erklang ein Räuspern von rechts und Antonio sowie Lovino wandten den Kopf zur Seite, verharrten aber in ihrer Position. "Wenn ihr zwei da mit dem Flirten fertig seid, dann könnt ihr euch zum Lagerfeuer setzen. Michelle hat Teig für Stockbrot mitgenommen." Emma lächelte die beiden Männer keck an und hob belustigt eine Augenbraue, als sie die beiden weiter so betrachtete. Zwischen Antonio und Lovino gab es etwas. Sie standen sich anders nahe, sie konnte es spüren.
"Wir haben nicht geflirtet! Niemals im Leben!", gab Lovino empört zurück, setzte sich blitzschnell auf und drückte Antonio von sich weg, "Wenn das für dich Flirten war, dann mach ich mir ernsthaft Sorgen um deine Psyche. Wir haben uns gegenseitig ertränken wollen! Aus Rache! Oder, Antonio?" Mit aufforderndem Blick sah er über die Schulter zu Antonio hoch, die Verwirrung stand ihm im Gesicht geschrieben. "Eh...Ja?", der Mann sah angespannt umher, nicht wissend, ob er das Richtige gesagt hatte, "aber natürlich würd ich Lovi nie wirklich ertränken. Ich hab ihn doch lieb!" Da verdrehte Lovino die Augen, schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht und stand endlich auf. Dann wrang er sein patschnasses Hemd aus und zischte. "Du bist echt für nichts zu gebrauchen, Idiot."
"Aja..." Emma verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihre beiden Freunde. Sie glaubte kein Wort von dem Schwachsinn, dem sie ihr aufdrängen wollten.
~0~
Das Feuer knisterte, die Grillen stimmten ihr Nachtlied an. Orange ergoss sich über den strahlend blauen Himmel, verfärbte ihn wie Wasserfarbe. Stockbrot und Focaccia hatte man schon längst verputzt. Fünf Gläschen voller Rotwein steckten im Sand, alle bereits mehrmals aufgefüllt. Ein erfrischender Windzug kitzelte auf der Haut, Worte verewigten sich in der Vergangenheit. Es fielen Geschichten und Witze, vielleicht auch der ein oder andere flüchtige Blick.
Lovino lachte. Und das mehrere Male. Ob ihn der kleine Schuss Alkohol in seinem Blut lockerer und offener machte? Er wusste es nicht. Doch gerade diese Freiheit und Gelassenheit, die er an jenem Abend ausstrahlte, versetzten Antonio ins Staunen. Jedes Lächeln, jeder glückselige Laut, der von Lovinos Lippen kam, entzündete ein Funkeln in Antonios Augen und verleiteten ihn dazu, den schönen Italiener näher zu betrachten. Obwohl er ihn bereits seit einigen Monaten kannte, Antonio bemerkte jedes Mal aufs Neue ein kleines Detail an seinem Freund, das seinem Herz einen Sprung versetzte. Seien es nur die winzigen Grübchen, wenn er breit lächelte, die heller und freundlicher gewordene Stimme, sobald er sich jemandem öffnete oder seine bernsteinfarbenen Augen, die im Licht der Flammen und des orangeroten Himmels wie Gold schimmerten. Lovino war wunderschön. Äußerlich sowie innerlich, auch wenn er Letzteres zumeist von der Außenwelt verschloss.
Antonio...bewunderte Lovino.
Manchmal entdeckte oder spürte Lovino den Blick seines Freundes auf sich. Er ahnte nichts, aber sobald sich ihre Augen trafen, schnellte er den Kopf zurück zum Lagerfeuer. Er konnte sich nicht deuten, weshalb er so reagierte oder warum ihn jene Momente mit schwachem Nervenkitzel begegneten.
Aber...Lovino mochte es, nur wusste er nicht, was dieses Gefühl auslöste...
Emmas Worte rangen in seinem Kopf herum.
Dass Antonio und er geflirtet hätten...? Nein, das wäre doch dumm. Das waren rein freundschaftliche Spielchen.
Lovino überanalysierte sich selbst, während Antonio mit einer Frage zu kämpfen hatte, die ihn seit Beginn der Woche heimsuchte. Sollte er eine letzte Chance nutzen und zurück in seine Heimat gehen, um sich vielleicht doch noch mit seiner Mutter zu versöhnen? Er hatte auch so lange nichts mehr von seiner Abuela gehört. Gerade sie wollte er unbedingt wiedersehen. Dann endlich, entschied er sich. Hoffentlich nahm Abel ihm dies nicht böse, immerhin wollten sie weiter an ihren Plänen schmieden, aber er musste einfach raus aus dieser Stadt! Aus persönlichen Gründen und der Tatsache, dass diese Umgebung ihn erdrückte. So könnte er niemals klar denken...
"Leute, ich muss euch etwas sagen..." Antonio unterbrach das Gespräch zwischen Emma und Lovino, Abel und Michelle schenkten sich noch geschwind das letzte Bisschen Rotwein ins Glas, "Ich hab mir überlegt, die nächsten Tage nach Hause zu reisen...also in meine Heimat."
Ruhe. Keiner der Truppe sagte ein Wort, lediglich ihre überraschten Blicke kamen als Antwort. Antonio kratzte sich am Hinterkopf. Kam diese Ankündigung zu spontan? Heimlich sah er zu Abel, wartete seine Reaktion ab, doch dieser schloss nur ungläubig die Augen und würdigte ihn keines Blickes mehr.
Da meinte Antonio,er helfe ihm unddann wollte er verschwinden!
Antonios Magen drehte sich augenblicklich um. War diese Entscheidung doch zu selbstsüchtig gewesen? Antonio bohrte die Fingernägel in seine Oberschenkel. Er musste es Abel anders sagen, sonst sah er den Konflikt bereits auf sich zukommen.
"Huh? Wieso das, ich dachte, du wolltest nie wieder zurückkehren...?" Auch Emma entgegnete ihm mit Unverständnis, blinzelte ihn verwirrt an und legte den Kopf schief. Als sie sich kennenlernten, meinte er doch, dass ihm der Gedanke an seine alte Heimat nur Schmerzen bereitete und nun wollte er zurück? Da passte etwas nicht zusammen.
"Ich weiß, aber...", Antonio bemühte sich Rechtfertigungen zu finden, aber Michelle war schneller. "Und mit welchem Geld willst du das anfangen? Du weißt, die Reise mit dem Schiff kostet einiges." Ihre Stimme war ruhiger. Sie wollte keinen Grund für Antonios Reise wissen, stattdessen machte sie sich Sorgen, dass diese spontane Entscheidung für Antonio finanzielle Schwierigkeiten einher brachte.
Schweiß benetzte seine Haut. Diese Frage stürzte sein Vorhaben in den Müll. Michelle hatte recht...woher nahm er das Geld? Es sei denn... "Also entweder muss ich altes Zeug von mir verkaufen...oder ich schleiche mich als blinder Passagier hinein. Beides ist riskant, aber..."
"Aber was?" Lovino beäugte Antonio argwöhnisch. "Antonio, du kannst keine Reise so spontan antreten, ohne einen Plan zu haben. Du wirst dich massiv verschulden, auch wenn du deinen Schrott verkaufst. Du brauchst ja auch ein Ticket für zurück, du Volltrottel! Und wenn du dich als blinder Passagier reinschleichst, will ich nicht wissen, wie du es anstellen willst, nicht kontrolliert zu werden."
Antonio lachte nervös und kratzte sich am Hinterkopf, bemühte sich aber darum, optimistisch zu bleiben. "Ach was, das wird schon! Wenn das andere geschafft haben, warum nicht auch ich?"
"Du bist wahnsinnig...", Lovino seufzte laut auf, trank den letzten Schluck seines Weines, rutschte nah an Antonios Seite - etwas, das er im nüchternen Zustand womöglich nicht so einfach gemacht hätte - und legte seinen Arm um Antonios Rücken, "Dann komm ich mit."
"Hä?!" - "Du hast mich verstanden, ich komm mit, wenn du dich illegal aufs Schiff schleichst. Ich kann dich Idiot doch nicht allein lassen, sonst verplapperst du dich direkt und schmeißen dich über Bord. Du bist ein offenes Buch und kannst nichts geheim halten, wenn keiner da ist, der dich notfalls aus der Scheiße ziehen kann."
Nichts geheim halten? Oje, dann konnte das mit dem 'anderen Problem' nur eine Katastrophe werden...Antonio schluckte. Er hatte nicht geplant, dass Lovino mit ihm mitkommt, geschweige denn, dass er sich zuerst über Antonios Spontanität beschwert und dann selbst Teil davon wird. Andererseits war dies eine Chance, um Lovino im schlimmsten Falle vor Gefahren zu bewahren. Wenn Lovino nicht in der Stadt war, konnte ihm doch nichts passieren, oder?
"Und was machst du? Musst du nicht eigentlich arbeiten?", mischte sich Abel kalt ins Gespräch ein. Man konnte sehen, wie tief ihn Antonios Entscheidung verwirrte und enttäuschte und nun würde auch Lovino mit ihm verschwinden.
"Ich?", Lovino runzelte die Stirn und überlegte kurz, "Mein Boss ist nicht so streng, zum Glück, er hat mir auch mal gesagt, dass man das Reisen als junger Mensch ausnutzen sollte...Vielleicht kann ich das als Ausrede nehmen und dafür die Stunden wieder nacharbeiten, sobald ich zurück bin. Außerdem sind bald die Feiertage dazwischen, wo ich ohnehin frei hätte, dann fehlen mir vielleicht nur mehr zwei Tage, die ich nachholen müsste..." Hoffentlich behielt er bei seiner Einschätzung über seinen Chef recht. Urlaub war im Endeffekt eher etwas, das sich Beamte leisten konnten und das mittlere Bürgertum konnte froh sein, wenn sie an Sonn- und Feiertagen frei hatten.
"Lovino, du musst dir wegen mir jetzt nicht deine Karriere durcheinanderbringen lassen!" Antonio konnte nicht verantworten, dass Lovino sich wegen ihm schlussendlich zu Tode arbeitete. Er war oft so müde nach seinem regulären Arbeitstag, wie schaffte er es dann bei Überstunden? "Welche Karriere denn? Die Karriere, fast den ganzen Tag bei der Theke zu stehen, Regale einzuräumen und gelegentlich Skizzen für Forschungen zu machen? Glaub mir, ich hänge nicht an meinem Beruf, wenn ich eine bessere Stelle fände, würde ich sofort wechseln. Auch, wenn es schade um meinen Boss wäre, der beutet mich wenigstens nicht aus, so wie die meisten."
"Lovi..." Antonios Augen waren mit einem trüben Schleier verhangen.
"Nein, nicht 'Lovi'. Ich komme mit dir mit...", Lovino bestand darauf, wirkte plötzlich sehr selbstbewusst und kompetent, aber auch überraschend fürsorglich auf seine direkte Art und Weise, "Ich weiß genau, warum du so plötzlich einen Abstecher nach Hause machen willst. Und ich will an deiner Seite sein, so wie du es bei mir letztens warst...", Lovino senkte die Stimme und sprach leiser, "...du willst deine Familie sehen und ich weiß, wie sehr sie dich verletzt hat, also werde ich für dich da sein, wenn du ihr gegenüberstehst."
Staunend sah Antonio auf den kleineren Mann vor sich, seine Augen wurden größer und sein Herz blieb stehen. Lovino...Er wollte mit, weil er...
Antonio war gerührt von der Geste, könnte Lovino in den Arm nehmen und ihn mit Küssen der Dankbarkeit überhäufen.
Lovi. Er hatte in Wirklichkeit eben doch ein Herz aus Gold...
Leicht lächelnd wisperte Antonio Lovino ein 'Danke' zu, während sein Herz sachte gegen seine Brust hämmerte. Aber auch Lovino spürte ein heimliches Prickeln auf seiner Haut, als er Antonios Reaktion sah. Es malte ihm ebenso ein kleines Grinsen auf die Lippen.
Das Grinsen, das Antonio gerne öfters auf seinem Gesicht sehen möchte. Sie wussten, was der jeweils andere dachte; was der jeweils andere sagen wollte.
Und doch verstanden sie sich selbst nicht komplett. Sie verstanden nicht das wohlige Gefühl in ihrer Brust, das Kribbeln in ihren Bäuchen oder die stetig größer werdende Faszination füreinander.
Denn was sie beide nicht wussten...sie verliebten sich im Spätsommer.
~♥~
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro