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Kapitel 17 - Botschaft in Rot und Familienkrach

Als er seine Augen öffnete, entgegnete ihm dunkles Rot.
Es klebte wie Farbe an seinen Fingern, war jedoch viel zu flüssig und intensiv für ein einfaches Farbenspiel.
Es tauchte nicht nur seine Hände in die Farbe des Lebens, sondern auch die Mitte seines Hemdes waren von Flecken desselben Rottons gekennzeichnet und sie wuchsen heran. Immer und immer wieder stetig, als läge die Quelle jenes monochromen Chaos in seiner Brust, in seinem Herzen. Doch nicht nur an sich selbst floss ein Flüsschen des Lebenssaftes hinab, auch um sich herum schwappte ein Meer aus...Blut.

Blut...

Es wirkte viel zu friedlich, viel zu still. Beinahe dachte er, es wäre ein Missverständnis und all dies sei nur die gespiegelte Farbe des rubinroten Himmels, der sich über seinem Kopf in all der Einsamkeit über alle Berge, Seen und Kontinente der Erde spannte. Das musste es sein, nicht wahr?

Zweifel hielten in seinem Herzen inne und verleiteten ihn dazu, diese "Farbe" an seinen Händen zu den Lippen zu führen.
Warmes Metall...Es schmeckte wie Eisen. Diesen Geschmack kannte er. - Vor allem aus Kindestagen, wenn er einen Milchzahn verlor...

Blut...

Es war tatsächlich Blut. Angst ergriff sein bis gerade eben ruhig gebliebenes Herz. Sie zerrte an seinen Herzsträngen, bohrte sich brutal und mit aller Kraft in das lebenbringende Organ, als wäre es nichts weiter als ein lebloses Stück Fleisch. Panisch suchten seine grünen Iriden nach einem Anhaltspunkt, um aus dieser Misere herauszukommen; um aus diesem Meer des blutigen Wahnsinns zu entfliehen, doch seine Beine waren wie angewurzelt und der Wasserspiegel des Blutes wuchs stetig heran. Inzwischen stieg es bis zu seinen Oberschenkeln an und seine Kleidung sog sich eng an seinen Körper. Plötzlich spürte er etwas Festes, Kühles in seiner Hand. Es war klein und wurde gegen Ende immer dünner und filigraner. Vom Horror gepackt starrte er nur verstört und halbherzig zu seiner Hand herab. Etwas Silbriges blitzte sofort auf.
Ein Messer.

Woher...Woher kam es nur her und weswegen war es genau so sehr mit Blutspritzern versehen wie der Rest seines eigenen Körpers?

Antonio begann zu zittern, ließ die vermeintliche Tatwaffe in das weite Blutmeer fallen, als sich plötzlich aus der Stille heraus ein Chor qualvoller, leidender und trostloser Schreie erhob und aus dem stillen Meer abertausende pechschwarze Silhouetten wie Dämonen aufstanden und ihn mit gebückter Haltung mit ihren fehlenden Gesichtern anstarrten. Antonio schluckte, sein Herz pochte und er wandte den Kopf angespannt hin und her. Von Sekunde zu Sekunde wuchs die Zahl der geisterhaften, schwarzen Silhouetten stetig heran und sie alle...absolut alle befanden sich in einem schier endlosen Kreis um ihn herum, als wäre Antonio selbst der Ursprung allen Übels. Farbe entwich Antonios Gesicht, vor Angst und Bange schlotternd hielt er sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung dieser Albtraum würde enden, bevor er von diesen Schattenmännern übermannt werden würde.

Doch auch, wenn er die Augen panisch zukniff, um sich von dem Anblick und der Welt, die sich ihm bot, abzuspalten, hielt ihn eine unsichtbare Macht zurück. Er...Er konnte nicht fliehen, egal wie sehr er sich es wünschte. Und so vermehrten sich die Schatten des scharlachroten Meeres und pechschwarze, einer Silhouette ähnelnde, Arme tauchten aus den sanften Wellen hervor. Gierig streckten sie ihre Hände nach dem Licht aus, das sich hinter schwarzen Wolken aus Asche versteckte. Lediglich die kleinen, gelbroten Funken eines immensen Feuers, das nirgends existierte, knackten und flackerten mit dem minimalen Licht, das sie besaßen und tanzten mit einem Windstoß davon wie Schneeflocken.

Plötzlich spürte Antonio, wie etwas ihn grob an den Knöcheln packte und in die Tiefe zog. Finger bohrten sich in seine erkalteten Waden und er sank herab, als steckte er inmitten von Treibsand. Zwei körperlose Armpaare erhoben sich aus der warmen Blutlache und klammerten sich fest an seine Beine wie schwere Eisenketten. Antonio sog die Luft scharf ein und in seinem Kopf herrschte nur noch eines: Er musste sofort hier raus!
Er wehrte sich.
Er bemühte sich aus ihren Griffen zu befreien.
Er versuchte so schnell wie möglich jene Arme von sich zu lösen.

Vergebens.
Bei jeder noch so schwachen Widerstandsbewegung wanderte das silhouettenähnliche Armpaar zentimeterweise nach oben; Stück für Stück, bis sie schließlich auch seine Oberschenkel und Hüften erreichten und sich an ihm festklammerten. Nach und nach sank er in den Boden ein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er in all der roten Lebensfarbe elendig ertrank. Antonio riss den Mund weit auf und schrie, aber sein Schreien verstummte bereits im Rachen. Kein Klang, kein Ton, kein Wort wollte mehr aus seinem Mund kommen. Und so stand er nun da...
Hilflos.
Allein.
Und dem Wahnsinn ausgesetzt, in dem er sich plötzlich wiederfand.

Doch.

Doch...

Aus dem Nichts erschien eine Hand aus Licht in der Luft, die nicht in das hiesige Bild passte. Als hätte man eine vertikal stehende, durchsichtige Wasseroberfläche vor seine Augen gespannt, schlugen sanfte Wellen rund um den golden leuchtenden Punkt, der diese Hoffnung vermittelnde Hand vor dem Rest der Welt trennte. Ob dies ein Tor zu einer heilen Welt war, die sich ihm offenbarte, wenn er die helfende Hand annahm?

Wer sich wohl hinter dieser transparenten Grenze befand?

Antonio hatte keine Zeit zu verlieren, denn von Sekunde zu Sekunde fand er sich dem Tod näher. Seinen Arm nach der warm leuchtenden Hand ausstreckend, lehnte er sich nach vorne. Wenige Zentimeter trennte sie und doch wurde ihr Abstand immer größer.
Nein! Antonios Herz pochte vor Angst. Er wollte nicht hier sein! Dennoch zerrten ihn die Kräfte der Dunkelheit ewiglich in ihre tiefsten Abgründe. Ab in den Tartaros.

Antonios Hoffnung schwand, doch plötzlich gab sich das Lichtwesen hinter seiner schützenden, anonym-machenden Wand einen Ruck und schnappte sich mit einer raschen Bewegung Antonios Handgelenk und zog ihn mit aller Kraft zu sich. Antonio hielt augenblicklich inne.
Diese Hand...Sie war...Sie gehörte...

Weiter kam Antonio nicht. Denn die Arme, die ihn an die ewige Blutlache fesselten, zerplatzten wie harmlose, dickflüssige Luftblasen, kaum hatte ihn das Licht in seine Obhut genommen. Wie benebelt zog es Antonio durch das transparente Tor und ein warmes, beruhigendes Gefühl übermannte ihn, während er seinen Albtraum verließ.
Denn diese rettende Hand gehörte jemandem, dem er mit ganzem Herzen blind vertrauen konnte.

~0~

Vogelgezwitscher und das Geräusch von tratschenden Nachbarn riss Antonio schließlich aus seinem langen, verstörenden Albtraum. Sein Bettzeug war schweißgetränkt, ebenso seine Stirn und seine Kleidung klebte ekelhaft an seiner Haut. Schwer atmend setzte er sich auf, wanderte mit dem Blick zögerlich von links nach rechts und starrte schließlich in wirren Gedanken versunken auf seine Hände.
Was war gerade geschehen?

Irritiert und völlig orientierungslos ließ er seine warmen Finger durch seine feuchten Locken gleiten und wischte sie sich aus der Stirn. Seine grünen Augen fokussierten sich auf die Vöglein, die an den dünnen Ästchen des Orangenbaumes saßen und ihr morgendliches Lied anstimmten.
Alles war friedlich...
Nur nicht der Traum, der von Sekunde zu Sekunde mehr aus seinem Gedächtnis verschwand und wie Kreidestaub verwischte und undeutlich wurde.
Übrig blieb lediglich das Unbehagen in seiner Brust, etwas gesehen zu haben, das nicht spurlos an seinem Geist vorbeizog.

"Egal", redete er sich gut zu und entschloss sich, diese negativen Gefühle hinter sich zu lassen. In seinem Leben war kein Platz mehr für Negativität und Pessimismus.
Lieber verdrängte er.
So wie er es seit über einem Jahrzehnt gewohnt war.

Mit einem unauffälligen Blick beäugte er das unterste Fach seines Schreibtisches und Bitteres entfachte in seinem Herzen.
Nein. Die Zeit war nicht reif dafür.

Stattdessen bewegte er sich verschlafen in den schmalen Gang seiner Zweizimmerwohnung, hob gähnend und mit halboffenen Augen die Handvoll Briefe mit Zeitung auf und verschwand anschließend in der Wohnküche. Zwischen den Seiten erkannte er nichts Außergewöhnliches. Wie erwartet fand er typische Nachrichten vor, wie beispielsweise die momentanen Neuigkeiten von ganz oben und was König Umberto I. so trieb.

Antonio blätterte weiter herum, überflog Manches sehr grob und wieder anderes las er sich gar nicht erst durch. Dafür reichte seine Aufmerksamkeit am Morgen einfach nicht aus. Schon wollte er das gedruckte Häuflein Papier zur Seite schieben und einen Schluck aus seiner Lieblingstasse trinken, als ihm auf dem letzten Zettelchen die Vermissten und Todesfallanzeigen entgegenlachten.

Ein Eiswind brach über ihn herein, der seine Adern gefrieren ließ und Antonio bekam eine Gänsehaut, als er all die Namen der wöchentlichen Todesfälle las. Neben den alten Pensionisten, die natürlich an Altersschwäche oder Krankheit gestorben waren, prangerten sich auch die Namen dreier junger Erwachsenen an der Seite an. Sie alle waren nicht älter als fünfundzwanzig und Antonio erkannte zwei ihrer Gesichter augenblicklich wieder. Marcello und David. Abel und er beobachteten diese beiden Männer vor rund zwei Wochen am Marktplatz. Ihr Chef hatte ihnen seit Anfang des Monats aufgetragen, das Kaufverhalten von Männern zu beobachten. Warum auch immer sie dabei persönliche Details wie Name, Alter und Familienform benötigten, blieb für Antonio seit Beginn ein einziges Rätsel. Aber da fiel ihm ein, dass es seit Anfang des Jahres Anmeldungen von Freiwilligen gab, wahrscheinlich war das der Grund, weshalb Antonio sowie Abel so personenzentriert arbeiteten. Der größte Rest seiner neueren Kollegen hatte dagegen eher Glück, ihnen war nicht mehr aufgetragen worden, als Strichlisten anzuschmieren.

Dennoch...

Antonio konnte den Blick von der Todesanzeige nicht abwenden und seine Gedanken kreisten herum.
Zwei Wochen...vor zwei Wochen hörte er doch Ähnliches mit, als er seinen letzten Bericht für die Woche abgab. Damals ging es um Luca und Alberto, die tot aufgefunden wurden. Und genau diese beiden hatte er auch wiederum zwei Wochen davor in seinem Bericht erwähnt.

Antonio fasste sich an die Stirn und fing an zu grübeln. Das musste ein schlechter Zufall sein, dass die Personen, die er genauer beobachten sollte, zumeist zwei Wochen später verschwanden oder bereits tot aufgefunden wurden. Trotzdem. Jede Woche gab es mindestens um die ein bis zwei Fälle. Wenn das so weiterginge, würde die gesamte junge, männliche Generation der Stadt in wenigen Monaten ausgelöscht werden, denn viele konnten sich einen spontanen Auszug dann doch nicht leisten, geschweige denn hatte kaum jemand eine Ahnung, inwieweit ausgeprägt dieses verdammte System mit diesen Mordserien im Rest der Gegend war. Diese Stadt in der sie lebten. Sie war zwar wohlhabender, aber weit entfernt von anderen Dörfern oder Kleinstädten.

Nun stellte sich allerdings die Frage, was überhaupt das Ziel dieses Massenmords war, der sich seit Mitte des Jahres mit neuen verlorenen Leben anhäufte. Jedes Mal, wenn die örtliche Polizei meinte, einen Hinweis gefunden zu haben, änderten die Täter ihre Taktik. Neuerdings spräche sich zum Beispiel rum, dass die Opfer anders zugerichtet gefunden wurden als bisher. Früher fand man sie blutüberströmt auf. Zumeist schienen die Kriminellen einem simplen Mord nachzugehen, bei dem es primär um das Auslöschen eines Lebens ging. Doch nun - um genauer zu sein seit diesem Monat - fehlte den Leichen jedes Mal ein wichtiges Element, das zuvor noch blutrünstig zerstochen und elendig zurückgelassen wurde.
Ihr Herz.

Sein Blut gefror in den Adern, als er daran dachte, dass ein Haufen Sadisten diesen armen Männern eiskalt das Herz aus der Brust herausrissen.
Brrr, schoss es ihm durch den Kopf und er zitterte wie Espenlaub, der bloße Gedanke drehte ihm den Magen um.
Oje, hoffentlich passierte ihm nichts...er passte doch selbst viel zu gut in das Opferprofil der Mörder. Dunkles Haar, Anfang bis Mitte zwanzig...Eigentlich könnte er selbst schon gefundenes Fressen für ihre hungrigen, spitz und silbrig glänzenden Messer sein. Genug Grund, ihn zu töten, fänden sie schnell. Seine Neigungen müssten nur in die Hände falscher Personen geraten und Antonio war dem Untergang geweiht.
Als hätte er es sowieso nicht verdient einen ebenso grausamen Tod zu erfahren, wie Roderich es wegen ihm musste. Es wäre...die einzige gerechte Abrechnung, die ihm zustünde. Egal, ob er sich vor einem solchen Tod fürchtete oder nicht.

Doch...

Nein, Antonio war nicht der Einzige in seinem Freundeskreis, der sich optisch gesehen in der Zielgruppe befand. Da war noch jemand...

"Antonio! Lass mich mal ausreden, du Bastard!"

Antonio biss sich auf die Unterlippe, als er seine Stimme in seinem Kopf vernahm.
Scheiße, auch er würde in das Profil passen.
Lovino...
Antonio dachte an Lovinos sonnengeküsstes, rundliches Gesicht. An seine bernsteinfarbenen Iriden, die im Sonnenlicht an süßen, flüssigen Honig oder Gold erinnerten. An seine schmalen Lippen, die wahrscheinlich zu Unrecht noch völlig ungeküsst waren. Und an sein sanft herabfallendes dunkles Haar, das sein Gesicht wie einen seidenen Schleier einrahmte; so manche ungebändigte Strähne fiel über sein rechtes Auge oder gegen seine Stirn, wiederum andere wollten gar nicht brav herabgekämmt werden und standen somit etwas unordentlich zur Seite.

Lovino...Falls ihm etwas passierte, würde Antonio einmal mehr an der Kante stehen, an der er vor drei Jahren schon brenzlig nahestand.
Grausame, unfreiwillige Bilder entstanden in Antonios Kopf, als er sich seine schlimmsten Albträume gedanklich ausmalte. Der Gedanke daran, dass jemand seinen Freund derartig blutig zurichten könnte, bereitete ihm ein tiefes, unbeschreibliches Stechen in der Brust, das demselben Dolch glich, mit dem die Täter womöglich arbeiteten.

Nein. Halt.

Schnell schob er die Zeitung wieder zur Seite, verbannte all jene brutalen Hirngespinste und Vorstellungen aus seinem Kopf und widmete sich stattdessen seinem Frühstück. Doch hin und wieder schaffte er es auch nicht, seine voreiligen Schlüsse und Theorien sowie Ängste gänzlich zu ignorieren...
Es war wahrlich zum Haare Ausreißen!
Hoffentlich hörte dieser Horror so bald wie möglich auf...

~0~

Als Lovino am Vortag die Tür zu seiner Wohnung das erste Mal seit seiner Abreise wieder betrat, begrüßte ihn neben dem gräulichen Staubteppich auf seinen Möbeln auch ein ungewöhnlich hoher Stapel an Briefen vor seiner Tür. Lovino bekam in der Regel nur wenige Briefe pro Woche zugeschickt, weswegen lagen dann statt einem Brief sogar ganze drei Umschläge auf dem Boden? Neugierig und dezent überrascht hatte Lovino die weißen Kuverts vom Boden aufgehoben und checkte anschließend die Absender. Einmal die monatliche Rechnung für die Miete...und...

Entsetzt starrte Lovino auf die in schwarzer Farbe verfassten Buchstaben vor sich. Name, Adresse und das Schriftbild bei beiden Briefen war unverwechselbar.

"Ach! Kommen die auch mal auf die Idee mir persönlich zu schreiben, na sowas..." Immer noch etwas verletzt von dem Fakt, dass sein Großvater noch eher Kontakt mit seinem Boss hatte als mit seinem eigenen Enkel, beäugte er den Brief in seiner linken Hand. Nach den paar Monaten, die er bereits in dieser Stadt verbrachte, hatte sich seine Familie wohl nun endlich auch einmal bei ihm gemeldet. Lovino hatte schon befürchtet, sie hätten ihn bereits vergessen. Auch der Brief in Lovinos rechter Hand war von einem Familienmitglied. Feliciano hatte ihm ebenfalls einen eigenen Text verfasst, lebte er doch schon seit einigen Monaten in Venedig. Dass von beiden Seiten seiner Familie zugleich Briefe gesendet wurden, konnte ein eigenartiger Zufall sein, aber Lovino befürchtete eher, dass es dabei einen Zusammenhang gab.

Neugierig, wie er war, öffnete er geschwind den ersten Briefumschlag und las, was sein Nonno und sein jüngster Bruder Romeo ihm wohl schrieben. Flink rasten seine Augen über das Papier und saugten jedes Wort wie ein Schwamm auf. Neben den typischen Fragen, wie es Lovino wohl nun nach diesen paar Monaten ging, ob er ausreichend aß, ob er schon eine Freundin gefunden hatte und noch einigen anderen Einwürfen, kam sein Opa mit seinem Schreiben endlich auf den Punkt.
Wurde aber auch Zeit...

Er schrieb, dass er ihn in den nächsten Tagen mit Romeo und Feliciano besuchen wollen würde, da er ihn bereits vermisse und gerne sehen würde, wie er sich so im Alltag alleine durchschlug.

Oh Gott im Himmel, nicht auch das noch.
Lovino stöhnte genervt auf und könnte sich bereits den Kopf gegen die Wand schlagen. Da kam er gerade nach einer kleinen Reise zurück in seine Wohnung, musste sich mit Herzschmerz wegen Isabella und komischen Gefühlen und Gedanken hinsichtlich eines gewissen Bastards rumschlagen und schon kam die nächste Ladung pure Scheiße auf ihn zu, weil er mental eindeutig nicht dafür vorbereitet war, sich um einen nörgelnden, peinlichen Großvater, einen - wahrscheinlich hormongesteuerten - Pubertierenden und einen, wie ein Wasserfall labernden, Idioten von Vorzeigekind zu kümmern.
Was hatte Lovino nur getan, dass er das verdiente?
Wahrscheinlich hatte er sich als Kind zu oft geprügelt oder das Gemüse nicht aufgegessen und nun war das Schicksal sauer auf ihn. Anders konnte er es sich nicht erklären.

Bereits keinen Bock mehr habend las er auch noch den Rest des Briefes, als er plötzlich erstarrte. Das Blut in seinen Adern gefror und seine Augen weiteten sich vor Schreck.
"Sie kommen WANN?!" Stress übermannte seinen Körper, die kleinen Blitzchen schossen in Lichtgeschwindigkeit durch seine Adern. Lovino war einem gespielten Herzinfarkt nahe.
Nicht im Ernst hatten sie den Besuch auf morgen früh hin angekündigt!
Lovino raufte sich die Haare.
Das hatte man also davon, wenn man eine Woche lang nicht im eigenen Zimmer vergammelte. Man bekam die Nachricht über Besuch gefühlte fünf Stunden vorher.

Bereits der Verzweiflung nahestehend riss Lovino auch noch schnell das Kuvert mit Felicianos Brieflein auf und überflog es halbherzig. Es überraschte ihn wenig, was darinstand. Auch er wollte ihn morgen mit dem Rest der kleinen Familie für ein paar Tage besuchen. Oje, soviel wie er es sich erwarten konnte, würden sie allesamt in diesem zusammengepferchten Raum bei ihm schlafen, denn genügend Vermögen, um sich in dieser touristenstarken Jahreszeit ein Zimmer zu mieten und die Anreise zu finanzieren könnte schwierig werden.
Obwohl, Lovino dachte nach, Feliciano könnte bereits ganz angemessen mit seinen Werken verdienen und sich ein eigenes Zimmer leisten. Er erinnerte sich daran, wie einige seiner Bilder schon in Rom ausgestellt wurden.
Allerdings bezweifelte er, dass er sein gespartes Geld direkt hinauswerfen wollte.

Das hieße also, Lovino müsste, gezwungenermaßen, das Zimmer aufräumen und Platz schaffen. Er warf einen Blick auf die geringe Bodenfläche, die ihm übrigblieb. Passten da überhaupt noch drei alte Matratzen mit Decken und Kissen rein?
Lovino fasste sich an die Stirn. Er war komplett unvorbereitet. Er musste sich etwas einfallen lassen.

Grübelnd ließ er sich rücklings aufs Bett fallen und starrte zur beigen Zimmerdecke hinauf. Theoretischer Weise könnte er seine Freunde fragen, ob sie einen oder zwei von ihnen für die paar Tage aufnehmen könnten. Nein, Lovino schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. Seine Freunde sollten nicht mit seiner Familie belastet werden, immerhin waren sie praktisch Fremde und unhöflich wäre es sowieso, die drei irgendwohin aufzuteilen.

Lovino massierte angestrengt seinen Nasenrücken. Ein Plan, ein Plan...Er brauchte einen Plan! Müde von seiner eigenen Anreise drehte er sich in seinem Bett zur Seite und spielte unbewusst mit seiner Brosche, während er nachdachte.

Nonno, Romeo und Feliciano würden also eher alle gemeinsam hier übernachten...Zwei Matratzen gingen sich vielleicht mit etwas Glück am Boden aus. Vorausgesetzt, es machte keinem etwas aus, mit dem Kopf oder den Beinen unter dem Schreibtisch zu liegen. Eine andere Matratze ginge sich zwischen dem Kasten und seinem Bett aus und einer könnte einfach in seinem Bett schlafen.
Aber wo war dann Platz für Lovino?

Wieder drückte er an seiner Brosche herum, bis er sich aus Versehen an der gelösten Nadel stach und verletzt aufzischte. "Scheiße!" Doch gerade in dem Moment, in dem er das Schmuckstück wieder richten wollte, kam ihm endlich ein Geistesblitz. Seine Familie könnte in seiner Wohnung übernachten, so müssten sie nicht zu Fremden oder sich eng zusammenpferchten und Lovino selbst übernachtete ganz spontan bei Emma oder Antonio zuhause. Je nachdem, wer ihm einen Schlafplatz zu bieten hatte.
Antonio hatte zumindest eine alte Couch in der Wohnküche....

Lovino seufzte und setzte sich mit seinen schweren, erschöpften Gliedern auf. Er musste morgen Früh unbedingt vor der Ankunft seiner Familie mit Antonio oder Emma, Abel oder Michelle reden...Aber nun stand widerwilliges Aufräumen auf dem Programm.

"Na, dann mal los..."

~0~

Die sengende Sommerhitze herrschte schon zu Beginn des Tages in den weiten sowie engen Straßen und Gassen der Stadt. Um diese gottlose Uhrzeit wagte sich in der Regel kaum einer hinaus, außer unter Umständen einzelne Hundebesitzer, die den Hund ausführten. Ansonsten befände sich Lovino allein in der gähnenden Leere einer verschlafenen, in der Sonne brutzelnden Stadt. Er konnte sich selbst nicht glauben, dass er unnormal früh aufwachte und direkt einen Abstecher zu Emma, Abel und Michelles Wohnung machte und schließlich auch bei Antonio vorbeikam. Lovino war natürlich kein Bastard, der um sechs Uhr früh wegen einer klitzekleinen Frage hinsichtlich einer spontanen Übernachtungsmöglichkeit alle vier aus dem Bettchen schmiss. Stattdessen warf er seinen Freunden einen angekritzelten Zettel durch den Türschlitz, in der Hoffnung, einer von ihnen stand an einem Sonntagmorgen vor dem Nachmittag auf.

Mittlerweile befand sich Lovino schon auf seinen wohlverdienten Heimweg, denn Morgensport war für ihn purer Mord und dazu gehörte auch zu frühes Aufstehen sowie zu frühe Spaziergänge. Der Einundzwanzigjährige schloss also bald darauf sein Zimmer wieder auf und warf sich rücklings in sein einsames Bett, das schon sehnsüchtig auf ihn wartete. Darum betend, dass seine Familie erst in ein oder zwei Stunden auftauchten, wollte er sich bereits zur Seite drehen und ein zusätzliches Nickerchen einlegen, bevor die Lärmbelästigung dreier kommunikationsengagierter Familienmitglieder ihn aus seiner wohlverdienten Pause und Ruhe riss.

Leider genoss er seine wohlverdiente Ruhe nicht sonderlich lange, denn kaum war der Minutenzeiger seiner Taschenuhr um zwei Zahlen nach vorne gerückt, mischte sich bereits das unausstehliche Geräusch der mechanischen Klingel in seine friedliche Stille.

Oh Gott, waren sie etwa schon da? Lovino stellte sich bereits sein eigenes Spiegelbild vor: mit Augenringen, krummer Haltung und ungebürsteten Haaren. - Also das gesamte Programm von Schlafmangel.

Schritte dreier Personen hallten lauter im schlicht gehaltenen Flur, gefolgt von Nuscheln und unkontrolliertem Geflüster.

Oh ja, das konnten nur die drei Plagegeister sein. Die Städter hier kämen nie auf die Idee so lautstark in derartiger Früh herumzuspuken und herumzuquatschen als wäre es helllichter Tag. Lovino raffte sich widerwillig auf und trottete wie ein schlaftrunkenes Kind zu seiner Zimmertür.

Je näher er dieser kam, desto eher verstand er, was die drei zu besprechen hatten.

"Wo genau wohnt Lovi jetzt?"

"Sind wir hier überhaupt richtig? Es sieht mir hier fast so wie in einer Notunterkunft aus...Der Arme."

"Shhh! Wollt ihr beide die ganzen Leute hier aufwecken?"

Als Lovino dann endlich still und heimlich die Tür öffnete und Nonno Romulus, Feliciano und Romeo mitten im Gang stehen sah, stieß er lediglich einen müden Seufzer aus. "Wollt ihr drei eigentlich noch fünf Stunden herumstehen? Neben meiner Tür steht dick und fett mein Name", er zeigte auf das aufgeklebte Schildchen neben seiner Tür, "also wie blind seid ihr geworden?"

Und wie erwartet fiel ihm sofort der Anstrengendste und Anhänglichste seiner Brüder um den Hals und drückte ihn fest, als hätte er ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Dabei waren es nur wenige Monate. "Lovi! Wie geht es dir?! Hast du schon einen Beruf? Obwohl, klar hast du einen! Nonno hat mir schon darüber erzählt! Hast du schon Freunde gefunden? Bist du glücklich hier? Hast du-"

"Feliciano, halt deine Fresse bitte zumindest für ein paar Sekunden! Du schreist mir ins Ohr, verdammt!" Lovino hasste es, wenn sein kleiner Bruder, der ihm wie ein Zwilling mit lediglich hellerem Haar ähnelte, ihn mit Fragen überhäufte und ihm ins Ohr brüllte. Das hasste er schon seitdem er klein war und natürlich auch jetzt mit Einundzwanzig.

"Nana, Lovino, sei doch nicht so zu Feli, er war einfach nur glücklich, dass er dich wiedersieht." Nonno Romulus rollte mit den Augen, grinste aber. Lovino war also immer noch der Alte und hatte sich kaum verändert.

"Sag mir nicht, was ich zu tun habe, alter Mann! Er schreit mir ja ins Ohr, da kann ich nichts dafür!" Lovino zeigte sich natürlich von seiner besten Seite, kaum sah er seinen Großvater wieder. Einerseits hatte er ihn unfassbar gerne und andererseits ging er ihm derartig mit seiner zwiegespaltenen Art auf den Sack.
Er erinnerte sich wieder an den Fakt, dass er ihm, bis auf den Ankündigungsbrief, niemals persönlich geschrieben hatte und stattdessen seinen Boss anschwärzte.

"Lovino, wie geht es dir?", ein Glück zeigte sich Romeo nicht so anstrengend und überfordernd, wie es Feliciano tat.

"Das Übliche, mich bockts zu nichts und will lieber weiterschlafen...Und dir?" Mittlerweile konnte er sich aus der Umarmung mit Feliciano herausreißen und konnte seine kleine Familie in seine winzigen vier Wände einladen.

"Richtig gut! Ich hab letztens beim Dorffest ein Mädchen kennengelernt! Sie heißt Lucille! Und sie ist so cool und hübsch! Und so wie es aussieht, habe ich eine gute Chance!" Romeo schaute ganz stolz zu seinem großen Bruder. Insbesondere, weil er von allen dreien am ehesten dran war, die erste Freundin zu haben, und zwar mit Erfolg!

Romano kniff die Augen streng zusammen, als er seinen Blick sah und schloss die Tür hinter sich, als alle drei in seinem Kämmerlein standen und ihre Sachen ablegten. Dachte Romeo etwa, Lovino hätte es nicht drauf, sich eine Freundin zu suchen? Er? Dieser kleine Siebzehnjährige Zwerg dachte wohl, er könnte sich mit Lovino anlegen? Bestimmt nicht! Lovino war immer eine sehr gefragte Person gewesen..., wenn es ums Körbe sammeln ging.

Romulus war der erste, der sich auf Lovinos Bett selbst bediente und sich hinsetzte, sein Blick musterte die wenigen Möbel, voller Krimskrams von zuhause. "Und in dieser Kammer hier lebst du? Verdienst du nicht eigentlich genug, um dir was Besseres zu leisten?"
Lovino wurde rot vor Scham. "Tu ich, aber ich spare lieber. Meistens sind die Kosten für die Anzahlung höher als die monatliche Miete später...Und ich bin ohnehin nur zum Schlafen hier..."

Leider ließ sich der alte Mann nicht von seiner Einstellung abbringen. "Ja, aber wenn du mal eine hübsche Dame zu dir einlädst, musst du schon mehr zu bieten haben. Für Romantik hat der Raum ja wenig Ambiente zu b-"

"Nonno, es reicht!" Lovino wollte nichts von peinlichen Dingen dieser Art hören. Es ging ihn ohnehin nichts an, wie er es mit seinen zukünftigen Partnerinnen anging. Er war ein erwachsener Mann, er konnte sich selbst einschätzen. "Ich dachte, ihr kommt mich besuchen, weil ihr mich vermisst und nicht um meinen Wohnstil zu kritisieren!"

"Tun wir ja auch", Feliciano warf einen Blick auf die Ansammlung an Zetteln, die Lovino auf seinem Tisch liegen hatte. Ein Funkeln entfachte in seinen Augen, als er seine schönen Kritzeleien sah und sein innerer Künstler brachte sein Herz freudig zum Klopfen. "Oh wow, Lovino! Warst du etwa mal in Rom?" Er zeigte auf eine Skizze, die Lovino tatsächlich in Rom anfertigte, als er zwischen den Kursen ein paar Stunden Freizeit hatte.

Auch Romeo war ganz begeistert von der "Skizze", so wie sie Lovino betitelte. "Uii, das sieht toll aus. Fast wie auf einem Foto, nur halt schärfer!"

"Ja, musste von der Arbeit aus mal dorthin...", Lovino wirkte etwas apathisch, als er an Rom dachte, obwohl es durchaus schöne Momente gab, "War ganz nett..."

"Wie cool!", Feliciano durchforstete weiterhin voller Begeisterung ungefragt durch Lovinos schwarz-weiß Zeichnungen, "Weißt du, meine Bilder wurden auch mal in einem berühmten Caffè ausgestellt! Das hat mein Professor an der Uni in Venedig so ermöglicht, weil er fand, dass meine Gemälde gut zum momentanen Ausstellungsthema passten!"

Oh, Lovino erinnerte sich schon daran, wie er seine Bilder im Caffè Greco erblickte und sein Minderwertigkeitskomplex automatisch kickte.

"Ja, hab ich gesehen. Herzlichen Glückwunsch, Feli. Das machst du toll." Lovino bemühte sich von ganzem Herzen ansatzweise stolz und lieb gegenüber seinem perfekten Bruder zu sein, denn er freute sich tatsächlich für seinen Erfolg, aber zugleich erinnerte es ihn sofort wieder daran, dass er selbst nichts erreichte, weswegen es nur halbherzig aus seinem Munde kam.

Glücklicherweise hatte keiner seiner Familienmitglieder seinen tristen Unterton gemerkt, stattdessen hörte man von Feliciano nur ein strahlendes, fröhliches "Danke" und Romulus streichelte seinen Enkel stolz am Kopf, so wie er es früher gerne als Lob tat. "Unser Feli wird ja schon fast eine kleine Berühmtheit mit seinem Talent. Und viele Aufträge hast du auch schon bekommen, obwohl du noch studierst!"

Feliciano nickte stolz und war rundum froh, von seiner Familie Zuspruch in seiner Karriere zu erhalten. Was dieser Anblick allerdings mit Lovino anstellte, wusste niemand, außer er selbst. Denn Selbstmitleid und Eifersucht waren Eigenschaften, die sein leidendes, inneres Kind nie loszulassen versuchte.

"Darf ich mir den Rest ansehen?", Romeo nahm Feliciano ein paar Zeichnungen aus der Hand und schaute sie sich gemeinsam mit seinem größeren Bruder an. Romulus schaute ihnen interessiert über die Schulter, denn auch er wollte wissen, was seinen ältesten Enkelsohn beschäftigte. Lovino lehnte sich lediglich an den Schreibtisch und wartete darauf, Kommentare zu erhalten, während er den Drang unterdrückte, ihnen die Zettel aus der Hand zu reißen. In gewisser Maßen galten diese Zeichnungen als seine Privatsphäre und sein Eigentum, was ihn daher in leichten Stress versetzte, wenn andere sich seine Bilder ansahen.
Denn Bilder zeigten sein inneres Wesen.
Sie zeigten einen Teil von Lovino, der zumeist nur ihm vorbehalten war.
Sie waren ein Einblick in Lovinos wahrstes Ich.
Sie bildeten ab, was in seinem Kopf, in seiner Seele und in seinem Herzen vorging, wie eine Geschichte des Lebens, die sich von Sekunde zu Sekunde selbst verfasste und erst am Lebensabend wieder aufgedeckt und analysiert wiedergegeben wurde.

Plötzlich zog Romeo einen leicht zerknitterten Zettel hervor und betrachtete ihn von allen Seiten. "Uhh, wer sind die alle?"
Feliciano beugte sich zu ihm und warf ebenfalls einen interessierten Blick auf den Schmierzettel voller Gesichter. "Uhh, du hast aber da drei hübsche Mädels gezeichnet!", Feliciano schaute ins linke Eck, "Oh und zwei Typen, die sehen auch toll aus. Sind die echt oder aus deiner Fantasie?"

Lovino wollte im Boden versinken, einzelne Härchen stellten sich auf und ein klitzekleiner Blitz brach über ihn herein, als er bemerkte, über welches Bild die zwei sprachen. Es war bestimmt dieser eine Schmierzettel von der Uni, wo er ein paar Leute hingekritzelt hat. "Das sind alles Freunde. Mir war langweilig, also habe ich sie gezeichn-"

"Du hast Freunde?", sofort biss sich Romulus auf die Lippe und bereute die dumme Wortwahl, als er im selben Moment bemerkte, wie sein Enkel sich automatisch gekränkt fühlte und sich seine Körperhaltung veränderte, "Scusa, Lovino, ich meinte, wer sind deine Freunde?"

Ein Zucken durchfuhr die linke Hand des Angesprochenen, er musste sich konzentrieren, nicht sofort wie ein Vulkan zu explodieren, als ihm einmal mehr mit dieser unbeabsichtigt abwertenden Wortwahl ein neuer seelischer Dolch in die Brust gerammt wurde. Still setzte sich Lovino jedoch zu seiner Familie; waren sie doch der einzige verbindliche Rückhalt, den er hatte. "Die da ist Emma." Mit monotoner Stimme und unveränderlicher Mimik zeigte er auf die Skizze eines fröhlichen Mädchens mit schulterlangem Haar und Schleife. "Das ist Abel, ihr Bruder, ich glaub das sieht man." Nun zeigte er auf den emotionslosen Mann mit den hellen, hochgekämmten Haaren. "Das ist Michelle." Sein Finger wanderte zu dem dunkler schattierten Mädchen mit den zwei langen Zöpfen. "Das...Isabella. Die kenn ich nur aus Rom." Lovino hatte einen leicht bitteren Beigeschmack, als er auf die schöne Frau zeigte. Der letzte Korb saß noch etwas tief, denn er hatte es viel zu persönlich genommen als es ihm lieb war. "Und das da ist Antonio." Schließlich zeigte er auf den gezeichneten Kopf, den Lovino fast am detailliertesten skizziert hatte. Zweimal. Von vorne und im Seitenprofil..., weil ihm langweilig war.

"Was ist mit mir?"
Lovino erschauderte und seine Schultern zuckten in die Höhe. Sein Herz raste und setzte für einen dumpfen Schlag aus, als er eine neue Stimme hinter sich hörte. Blitzschnell drehte er sich nach hinten zum geöffneten Fenster und bekam beinahe einen Herzinfarkt, als er Antonio jenseits des Fensters erblickte. "WAH?! Was machst du denn hier?!" Fast aus Reflex schnappte sich Lovino sein Kissen, beugte sich aus dem Fenster und schlug seinen Freund damit im Affekt seines Schreckens auf den Kopf. "Mach das ja nie wieder, du Bastard! Was soll die Scheiße?!"

Weitere, für Antonio fremde Blicke, beäugten ihn und er kratzte sich nervös am Hinterkopf; sein peinlich berührtes Grinsen machte seinen katastrophalen ersten Eindruck noch schlimmer. "Oh, ihr seid schon da. H-Hola, ich bin Antonio." Vom Selbstscham gesteuert winkte er Lovinos Familie mechanisch zu und sein Gesicht verfärbte sich in ein tiefes Rot.

Lovinos Großvater musterte den Idioten von Mann hinter dem Fenster und verkniff sich ein Lachen, doch das Grinsen wollte nicht von seinem Gesicht verschwinden. "Lovi, der schaut ja so rot aus wie du, wenn du dich aufregst." Flüsterte er seinem Enkel belustigt zu.

Und wenn es nicht noch schlimmer kommen könnte, fügte auch Feliciano etwas wispernd hinzu. "Boah, stimmt. Rot wie eine Tomat-"

"SCHNAUZE!" Lovino positionierte sich direkt vor Antonio und seine Mimik verfinsterte sich, ebenso stieg die unausstehliche Hitze in sein Gesicht, die neben Antonios Röte noch drei Nuancen kräftiger aussah. Am liebsten wäre er nun im Boden versunken und nie mehr aufgetaucht. Seine Familie war einfach nur peinlich und nun, mit Antonio als Klotz am Bein, würde es in noch mehr Chaos enden.

Dann sah er über die Schulter nach hinten, nur um zu sehen, dass Antonio weiterhin tatenlos und grundlos herumstand. "Und was machst du bitte hier?!"

Sich die Worte zurechtlegend, begann er zu stottern. Die peinliche rote Farbe ging nur fleckenweise zurück. "Ich wollte gerade bei...bei dir anläuten und hab dann gehört, dass du über mich geredet hast."

Lovino verdrehte die Augen und stöhnte genervt auf. Der Tag wurde immer besser..."Ja, aber warum wolltest du anläuten?! Muss man dir echt alles aus der Nase ziehen?"

Da hob Antonio ein kleines Stücklein Papier hoch. "Wegen dem Zettel von vorhin wollt ich sagen, dass ich dir gern-"

Plötzlich klingelte es an Lovinos Tür. Bei Gott, was war das denn jetzt? Lud sich auf einmal jeder selbst bei ihm ein, oder was?

"Hast du Besuch?", nun wagte auch Romeo etwas zu sagen und deutete mit einer knappen Kopfbewegung zur Tür.

"Wenn, dann unerwarteten...", Lovino stand vom Bett auf, "...genauso wie der da", fügte er beim Vorbeigehen hinzu und deutete mit dem Daumen hinter sich. Schnell und mit dem nagenden Stress in seiner Brust öffnete er ein weiteres Mal an diesem Tag die Tür. Michelle, Abel und Emma fehlten gerade noch. Antonio schmuggelte sich in der Zwischenzeit hinter ihren Rücken hinzu.

Lovino schlug sich ins Gesicht und seufzte. "Kommt rein..."
Es hatte keinen Sinn mehr, sich aufzuregen.
Lovino hatte aufgegeben, sein Schicksal zu hinterfragen.

"Hallo, Lovino!", Emma schaute freudig und strahlendem Grinsen zu ihm, hielt dabei ebenfalls den kleinen Brief in der Hand, den Lovino verfasst hatte, sah aber dann bereits seinen Besuch, "Oh, deine Familie ist auch schon da! Hallo!" Freundlich und offen, wie sie war, ging sie auf die drei Männer zu und grüßte sie persönlich mit der Hand. Michelle tat es ihr gleich, blieb aber wesentlich zurückhaltender und leiser. Abel schüttelte lediglich ihre Hände und sagte nichts weiter. Womöglich blockierte gerade etwas seine sozialen Fähigkeiten und er war unsicher geworden.

Antonio musste natürlich wieder den Speziellen spielen, der neben seinem dämlichen Grinsen auch noch hunderte Entschuldigungen für sein plötzliches Reinplatzen und einem Kompliment für jeden von ihnen hinzufügen musste.
Bitte, Lovino wollte gerade einfach nur sterben. So hatte er sich nicht vorgestellt, dass seine Chaosfamilie auf seine Chaosfreunde träfe.

Abel, der von allen mit Abstand immer noch der größte Lulatsch war, blickte durch die Runde. Sein Blick verriet, dass er angestrengt nachdachte. "Das sind also deine großen Brüder, Lovino? Ihr seht beinahe aus wie Drillinge..."

Antonio warf einen Blick auf die drei Brüder und einmal mehr fiel ihm auf, wie Lovino anscheinend wirklich der Kleinste unter ihnen war, obwohl er - seines Wissens nach - der Älteste sein müsste. Die Gesichter der drei Vargas' Brüder waren zudem noch beinahe ident, lediglich ihre Frisur und ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten halfen, um sie voneinander zu unterscheiden. "Oh dios mio... drei Lovinos", fügte er grinsend in Gedanken hinzu.

"Kleine Brüder. Das sind meine kleinen Brüder." Wieder einmal hatte jemand es geschafft, Lovinos letztes bisschen Geduld mit einem Schlag zu zerstören. Lovino war an dem Punkt angelangt, an dem er jedes Mal, bei dem jemand glaubte, er sei der jüngste seiner Brüder, ein paar Lire verlangen müsste. Wenn das so einfach ginge, wäre er bestimmt schon reich und könnte aus dieser Bude ausziehen. "Das da ist Romeo." Der Jüngste mit dem kupferfarbenen Haar winkte etwas unbeholfen in der peinlichen Situation. "Ciao-"

"Und das ist Feliciano." Kaum hatte Lovino seinen jüngeren Bruder vorgestellt, konnte sich dieser kaum mehr zurückhalten, auch etwas beizutragen. Dass er wie ein Wasserfall reden konnte, war nichts Neues für Lovino, sondern eher eine nervige Angewohnheit, die er seit Tag eins auszuhalten hatte.

"Und du bist Abel, oder? Wow, du bist riesig! Du erinnerst mich an einen Freund, den ich im Studium kennengelernt hab!"

"Uhh...", Abel wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Sichtlich überrumpelt von der Lebhaftigkeit des Italieners entschloss er sich zu schweigen. Jedoch rettete seine Schwester die Situation für ihn. "Wow, cool! Was studierst du denn eigentlich?"

Während Emma und Feliciano also über Felicianos Zeit in Venedig und seinen kleineren Studiumsreisen quatschten, rückte Lovino selbst immer mehr in den Hintergrund, als sein Opa plötzlich verschmitzt lächelnd neben ihm stand und ihm mit gedämpfter Lautstärke etwas zusagte. Lovino wusste es. Dieser Grinser bedeutete nur Schwachsinn und er bereitete sich darauf vor, vor Fremdscham im Boden zu sinken. "Das Mädchen da", Romulus zeigte mit dem Kinn in Emmas Richtung, "die wäre doch was für dich, oder?"

Lovino schnellte den Kopf irritiert zur Seite. "Hä?!"
Wenn Lovino gerade etwas getrunken hätte, hätte er es nun definitiv in hohem Bogen ausgespuckt.

"Stimmt doch! Schau, sie wirkt doch voll lieb und hübsch und passt sicher gut zu dir."
Bei Gott, Romulus wollte nicht im Ernst jetzt Verkupplungsmeister spielen...

"Nonno-", Lovino wollte gerade widersprechen, während er zur selben Zeit vor Fremdscham sterben könnte. Hitze machte sich in ihm breit und er fühlte sich bereits so, als stünde er geradewegs in der Sahara. Konnte sein Opa nicht ein einziges Mal damit aufhören, ihm eine Freundin zu suchen? Vor allem war Emma in einer Beziehung und nicht einmal ansatzweise interessiert an Männern...Warum war er nur so, so peinlich?

"Hä?", Emma hatte sich mittlerweile verwirrt umgedreht und verstand genau so wenig.

Lovino wollte am liebsten schreien. Wieso...Wieso musste seine Familie ihn dauerhaft so derartig blamieren oder sich in seine Privatsphäre einmischen?! Lovino versteckte sein glühend heißes Gesicht beschämt hinter seinen Händen.
"Halt die Klappe, Nonno! Du blamierst mich!", presste er krächzend heraus und machte sich immer kleiner.

Michelle, die die gesamte Zeit über zurückhaltend war, schenkte Lovinos Großvater einen Blick, den sie selbst nicht so recht zu beschreiben vermochte, als sie das Gespräch nebenbei mithörte. Ein bitterer, unbehaglicher Nachgeschmack lag auf ihrer Zunge, den sie zu unterdrücken versuchte und sie rümpfte die Nase.

Doch nicht nur Michelle schien mit Eifersucht zu kämpfen, auch jemand anderes in der Runde starrte unauffällige, nahezu feindselige Blicke in den Rücken des alten Mannes, der doch alles nur gut gemeint hatte. Doch eine Maske aus Freundlichkeit verdeckte die inneren Dämonen vor der Außenwelt und Antonio ließ sich keinerlei negativer Emotion anmerken. Stattdessen war es sein dämliches Lächeln, das er der Welt zeigte, doch wenn Lovino nur einen kleinen Blick nach hinten gewagt hätte, wäre es ihm sofort klar gewesen: Dieses Lächeln war rein gespielt.

"Herr Vargas", Antonio grinste immer noch 'freundlich', als er plötzlich einen Arm um Lovino legte und ihm bestärkend auf den Rücken klopfte, "Ich bin mir sicher, Ihr Enkel schafft das schon alleine. Er wird schon eines Tages die Richtige finden und da wird er schon wissen, was zu tun ist. Vertrauen Sie ihm da."

Lovino spannte sich etwas an und gab die Hände von seiner blutrot glühenden Visage weg, als er Antonios Hand spürte. Jetzt mischte sich sein Idiotenfreund auch noch ein! Was hatte die Welt nur gegen ihn?!

"Ja, und außerdem sind wir zwei eh nur Freunde", natürlich mischte sich Emma genauso hinzu und machte es Antonio gleich, indem sie einen Arm um Lovino legte, "Ich bin nämlich schon vergeben, also..."

Michelles angespannte Schultern fielen erleichtert herab, als sie Emmas Einwand hörte. Nun müsste Romulus doch auch verstehen. Dennoch ärgerte sie sich darüber, dass sie aus Selbstschutz nicht sagen konnte, dass Emma zu ihr gehörte und sie zu Emma.
Warum konnten das andere Pärchen mit Leichtigkeit zugeben und nicht sie beide?
Weshalb waren sie gezwungen, sich hinter dem Vorwand zu verstecken, nur beste Freundinnen zu sein, nur um Anfeindungen aus dem Weg zu gehen?
Michelle erinnerte sich an Chiara und Acelya. Sie waren auch in einer Beziehung und ebenfalls Mädchen und zeigten dies auch weitgehend offener, trotz aller Risiken. Michelle wäre auch gerne so mutig wie die beiden...aber die Geschichten darüber, wie Acelya und Chiara durchaus öfters mit Demütigung, Bespucken, Kommentaren und Raufereien zu tun haben, allein, weil sie verliebt sind, schreckten sie zu sehr ab...


"Ach so! Mein Fehler", Romulus nahm seine Aussagen augenblicklich zurück und entschuldigte sich bei Emma, während Lovino seiner Familie für kurze Zeit den Rücken kehrte und das Zimmer verließ. Leise schloss er die Tür hinter sich ab, lehnte sich an die kühle Hauswand nebenan und rutschte schnaufend hinunter. Oh Mann, keine fünf Minuten sprach sein Großvater mit seinen einzigen Freunden und schon nahm das Chaos seinen Lauf. Feliciano sowie Romeo waren allerdings auch nicht besser: Ihre unnachgiebige Neugier - eine Eigenschaft, die er mit beiden seiner Brüder teilte - war derartig ungestüm und unersättlich, dass es anstrengend wurde, eigene Grenzen zu setzen und diese auch zu vertreten, denn eigentlich verabscheute Lovino es, wenn Menschen in seinen Sachen rumwühlten.
Dennoch...Obwohl er seine kleine Familie über alles liebte...Sie brachten ihn blitzschnell zur Weißglut! Diese unsichere, ambivalente Bindung die Lovino mit seinem Nonno teilte, blieb jedoch seit Kindestagen das größte Problem. Einerseits zeigte er sich so überfürsorglich bis einmischend - wie er es vor wenigen Augenblicken mit seinem zum Scheitern verurteilten Verkupplungsversuch tat - und andererseits hatte er ihn die letzten Monate einfach vernachlässigt und keinerlei persönlichen Kontakt aufgenommen. Diese bipolaren Extremwerte von Romulus gelebter familiärer Liebe machten Lovino zu schaffen. Vielleicht hatte er seine eigene Gegenteiligkeit in vielerlei Bereichen aber geradezu von Romulus abgeschaut. Das würde zumindest seine Zwiegespaltenheit erklären.
Lovino zog die Beine enger zu sich und stützte den schweren Kopf auf die Knie, als sich urplötzlich die Türklinke nach unten bewegte. Sofort huschten einige aufgeregte Gesprächsfetzen durch den kleinen Türspalt: Feliciano und Romulus diskutierten voller Elan mit den Mädchen, während der ruhige Abel sich dazu überreden ließ, mit Romeo ein paar Worte auszutauschen.

"Lovino, alles gut?", Antonio stand beim Türrahmen, die Hand an der Klinke angelegt und den Blick auf den schmollenden kleinen Mann vor sich gerichtet.
Doch Lovino gab als Antwort nicht mehr als ein knappes Schnaufen und Grummeln. Ein Zeichen, das Antonio gar nicht falsch verstehen konnte. Ohne zu zögern, hockte er sich vor Lovino hin und bemühte sich, seine Aufmerksamkeit zu bekommen. "Hey, was ist los? Du wirkst so gar nicht glücklich, dass deine Familie hier ist."
Antonio machte den Eindruck, als würde er nicht nachvollziehen können, wie Lovino seiner -für Antonio sehr liebevollen und beschützenden - Familienkonstellation nur mit derartig viel Bitterness begegnete. Er sollte doch froh sein, dass er Familienmitglieder hatte, die ihn liebten...

"Bin ich schon...", murmelte Lovino vor sich hin und würdigte den Spanier keines Blickes, doch seine gehobene Stimmlage lud Antonio dazu ein, die Chance zu nutzen, hinter Lovinos Fassade zu sehen.

"Aber...?" Antonio wandte den Blick von seinem Freund nicht ab, auch wenn dieser ihn abweisend und kalt behandelte. Lovinos Seele kannte er schon viel zu gut. Oft, zwar nicht immer, aber oft sagte er Dinge oder verhielt sich forsch, wenn er eigentlich das Gegenteil anpeilte: In diesem Fall benötigte er dieses Gespräch mehr als alles andere, gab es aber aufgrund seiner Unmöglichkeit, nach Hilfe zu fragen, nicht zu und verdrängte stattdessen.

"Aber was?! Es gibt kein 'Aber', Bastard!", wieder einmal sträubte sich Lovino dagegen, einmal ehrlich zu sich selbst zu sein.
Dabei wollte er nichts anderes, als sich seinen Schmerz von der Seele zu reden.

"Gibt es, ansonsten würdest du nicht so gequält alleine hier draußen rumhocken." Schon plumpste Antonio neben ihm auf den Boden und lehnte sich ebenfalls an der Wand an, seine Augen hingen dennoch an seinem Kumpel. "Also, erzähl doch dem lieben Toni, was los ist!"

Doch Lovino brummte nur und verdrehte genervt die Augen. "Erstens sitz ich nicht alleine hier draußen. Das ist schonmal der erste Fehler, denn du hockst neben mir", lenkte er zunächst geschickt ab und zog die Beine dabei noch näher an seinen Körper, "Und zweitens kannst du dir deine Möchtegern-Therapiesitzungen sparen. Ich brauch den Scheiß nicht! Mir geht es gut und es gibt nichts zu bereden! Lass mich einfach in Ruhe, Bastard!"

Betrübt verdunkelte sich Antonios übliche Sonnenschein-Stimmung und seine Stimme wurde leiser sowie vorsichtiger. "Lovino, du lenkst wieder ab-"

"Tu ich nicht, denn es gab schon nichts abzulenken!", verteidigte Lovino sich sogleich und schnaufte. Es ging ihn ohnehin nichts an! Es betraf Antonio nicht, also sollte er seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken.

Lovino erwartete schon einen neuen Einwand seines Freundes...

Nichts...
Es kam kein Rat, keine Bitte, kein belehrender Kommentar.
Es kam keine Ausfragerei, es kam keine penetrante Moralpredigt.
Antonio hatte nachgegeben und respektiert, dass Lovino nun einmal nicht mit ihm reden mochte.
Auch, wenn er aus Sorge und Mitgefühl Lovinos innere Welt kennenlernen wollte. Ihn dazu zu zwingen könnte Antonio dennoch nicht.
Lovino sollte aus freiem Willen sein offenes Ohr annehmen können. Schließlich war es doch seine eigene Wahl.

Trotzdem gab es eine Kleinigkeit, die Antonio seit seiner Ankunft brennend interessierte. Egal ob Lovino es ihm erzählte oder nicht, Antonio war zu neugierig, um nicht nachzufragen. "Darf ich dir dennoch eine Frage stellen?"

Lovino legte seinen Kopf seitlich auf die zu sich gezogenen Knie und schaute müde zu seinem schönen Freund. "Spuck's einfach aus und frag nicht vorher."

"Wieso sind nur dein Opa und deine Brüder gekommen?", Antonio legte sich die Worte möglichst sensibel zurecht, ein eigener kleiner Hilfeschrei seiner eigenen Seele stiftete ihn womöglich dazu an genau diese Frage zu stellen, "Hatten deine Eltern keine Zeit...? Kommen sie später?"
Antonio bemerkte gar nicht wie vorsichtig und zurückhaltend seiner Stimmlage wurde, sein Fokus lag ausschließlich auf dem niedlichen, aber trübsalblasenden Mann vor ihm.

Lovino schwieg eine Sekunde, wandte den Blick von Antonio ab und nahm eine ungewöhnlich ruhige Stimmung an. "Die gibt's nicht mehr."

"Wie?", Antonio stockte und verstand nicht; verwirrt zog er die Augenbrauen hoch und spitzte umso mehr die Ohren, "Was meinst du damit?"
Antonio ahnte leider bereits, was nun folgen würde.
Und sein eigenes, inneres Kind fühlte den Schmerz mit.

Doch diese Frage zerriss das schützende Pflaster, das sich Lovino vor siebzehn Jahren regelrecht aufzwang, um nicht schon mit vier Jahren an dem unfairen Schicksal durch die verdorbene Welt zu zerbrechen und Lovinos Stimme verlor an Selbstbewusstsein und Stärke. "Ich hab keine Eltern! Das heißt das! Du bist aber auch zu dämlich für alles!" Wut anstelle von offen gelebter Trauer kennzeichnete sein rot werdendes Gesicht und Antonio merkte sofort, dass er einen empfindlichen Nerv getroffen hatte.
Und er bereute es sofort.

"Lovino, tut mir leid, ich wollte ni-", Antonio redete sich heraus, doch Lovino ließ nichts mehr zu und wehrte wie eine Schutzmauer alles ab, was er auch sagte.

"Halt dein Maul!", Unruhe wütete in ihm, sein Herz wurde schwer wie Blei und erdrückte ihn nach und nach, "Du willst es also wirklich wissen?! Dann hör zu und frag ja nie wieder danach!"

Temperamentvoll sprang er vom Boden auf, drückte sich von der Wand weg und würdigte Antonio keines Blickes mehr.
Er hatte es mal wieder geschafft, die Situation zu verschlimmern. "Meine Mutter ist am Kindbettfieber gestorben als Romeo auf die Welt kam und mein Vater, der Bastard, ist dann einfach gegangen. Der war mir aber sowieso egal, er war ja ohnehin nie da für uns."

Antonios Herz sank schwer herab. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit und im Moment hätte er nichts lieber getan, als Lovino voller Mitgefühl in den Arm zu nehmen.
Er wollte bereits etwas erwidern, etwas sagen und etwas tun, aber Lovino ließ ihm keinerlei Chance zu antworten.

"Deshalb...", er drehte den Rücken zu Antonio und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich selbst vor der Welt verschließen zu können, "Deshalb red' ich doch immer nur von Nonno, Feli und Romeo..." Die Worte kamen nur mehr brüchig aus seinem Mund und sein Hals zog sich nach und nach zusammen als hätte man eine Schnur um ihn gespannt. "Ich hab niemand anderen mehr. Nur die drei. Mein Nonno und meine Nonna haben mich großgezogen, aber Nonna ist mittlerweile auch nicht mehr hier."

"Lovino..." Antonio sah, wie sehr sich Lovino in seine Vergangenheit hineinsteigerte und es brach ihm regelrecht das Herz, seinen nahestehendsten Freund so traurig und vulnerabel zu sehen.

Lovino ließ sich allerdings nicht so leicht aus seiner Trance und seinem Selbstgespräch wecken, jede Sekunde entpuppte sich als noch leidtragender und qualvoller für ihn und er murmelte weiterhin Unverständliches vor sich hin. "Ich...Ich weiß nicht mal mehr wie sie aussah und ich werde es niemals mehr erfahren. Ich kenne ihre Stimme nicht mehr...Nonno sagt immer, meine Brüder und ich hätten ihr Gesicht geerbt, aber..."

"Hey..." Plötzlich erfuhr Lovino Wärme, jemand hielt ihn nah bei sich und umarmte ihn. Der ruhige Puls, der besänftigende Duft, die behutsame, liebevolle Berührung...Lovino hielt die Luft an und jemand schien das Tor zu seiner Selbst zu öffnen; ihn von seinen übermannenden Gedanken zu befreien wie einen Vogel aus einem goldenen Käfig. Sein ewig heranwachsender Schatten stockte, fiel zusammen wie die blubbernden Bläschen des Kochtopfes am Herd...Lovino verspürte Sicherheit...Rückhalt und Ruhe...Allein durch die Umarmung, die Antonio ihm schenkte. Sachte und leise wisperte er ihm beruhigende Worte zu; Worte, die Lovino schon seit Jahren hätte hören sollen, um selbstbewusst und zufrieden wachsen zu können.

"Ich bin bei dir. Alles ist gut...Ich kann verstehen, dass dich das sehr belastet, Lovino...", Antonio verfestigte seinen Griff und drückte ihn etwas mehr, "Und es ist auch nicht schlimm, dass du so fühlst oder wenn dich das mitnimmt. So etwas gehört dazu. Trauer...gehört eben dazu."
Antonio biss sich auf die Unterlippe. Wieso erinnerte er sich gerade jetzt daran, was vor wenigen Wochen passierte? Damals, als es ihm scheußlich ging und Lovino ihm mit Empathie und Rückhalt entgegnete?

Lovino antwortete nicht. Er machte keinerlei Mucks...
Stattdessen drehte er sich um, erwiderte zögerlich die Umarmung und klammerte sich unsicher mit den Fingern am Rücken von Antonios Hemd fest.
Auch wenn sich sein Kopf dagegen sträubte, diese Nähe zuzulassen...Lovino brauchte sie.
Er brauchte diese vertraute Nähe unbedingt.

"Außerdem...", Antonio setzte fort und beäugte Lovino mit einem sanften Lächeln im Gesicht, als er ihn so in den Armen hielt, "...ich kenne zwar deine Mutter nicht, aber wenn dein Nonno sagt, dass neben deinen Brüdern auch du ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelst..." Sein Blick erweichte und er musterte jedes noch so kleine Detail in Lovinos Gesicht: seine, in der Sonne, warm leuchtende Haut, seine Augen - ein Zusammenspiel aus goldenem Honig und...einem sanften Grünstich mittendrin - seine Stupsnase und seine Lippen, die das Bild perfekt vervollständigten. "...dann muss eure Mutter eine wunderschöne Frau gewesen sein."

Herzklopfen, Leichtigkeit und ein sachtes Kribbeln. Diese Worte wären bereits zu wenig gewesen, um beschreiben zu können, wie sich Lovino in jenem Moment fühlte.
Antonio war viel zu nett zu ihm.
Mehr als er sollte...
Aber...

Lovinos Mundwinkel zuckten tatsächlich nach oben, wenn auch nur für eine Millisekunde...

Aber Lovino verspürte Glück, Freude und...
Letzteres vermochte er nicht zu beschreiben, doch eines wusste er...
Es machte ihn unglaublich glücklich.

~0~

"Tja, und dann hat er tatsächlich versucht eine Sechzehnjährige aufzureißen", Romeo entfuhr ein leises Lachen heraus, "Er war erst zwölf, natürlich ging das komplett in die Hose und das Mädel hat ihn gar nicht ernst nehmen können! Du hättest sein Gesicht sehen müssen. Er hat tatsächlich gedacht er - der zwölfjährige Hosenscheißer, der noch nicht mal in einem eigenen Zimmer allein schlafen konnte - hätte eine Chance gehabt. Das Mädel hat logischerweise geglaubt, dass das ein Scherz ist, aber das war Lovinos voller Ernst, haha!"

Emma unterdrückte mit Mühe ein Lachen bei der Vorstellung daran. Es war zu komisch sich einen kleinen, überzeugten Lovino vorzustellen, der voller Elan einer Sechzehnjährigen Gänseblümchen und Schafgarben schenkt - Letzteres war sogar noch Unkraut - und sich dann eine Beziehung daraus erhoffte. Was war nur in seinem Kopf damals vorgegangen? In dem Alter hätte ihm doch schon klar sein müssen, dass sowas nicht funktioniert.

"Aja, unser kleiner Lovino", Romulus erinnerte sich an die Vergangenheit, als wäre es erst gestern gewesen, "Damals sind die Hormone mit ihm durchgegangen. Und eventuell hätte ich ihm nie meine Sprüche lernen sollen." Er machte eine Pause. "Und das Gläslein Wein, das ich ihm zu der Zeit kurz vorher bei der Feier gegeben habe, war vielleicht auch nicht so ganz verantwortungsvoll von mir. Oje...Am Ende kommt heraus, dass ich die Schuld habe. Aber es war trotzdem lustig zuzuschauen, ich hatte fast Mitleid."

Als hätte man bereits vom Teufel gesprochen, öffnete Lovino im selbigen Moment die Tür. Die letzten Gesprächsfetzen drangen ihm unglücklicherweise noch ins Ohr und seine ruhige Stimmung neigte sich binnen Sekunden dem Ende zu und er zog die Augenbrauen zusammen. "Ich hoff, ich hab grad eine Hörschädigung gekriegt. Was zum Teufel schwätzt ihr schon wieder über mich! Ich dachte, es wäre abgemacht, dass wir das damals nie, NIE, wieder erwähnen! Das ist nie passiert!" Lovino wollte sich im Moment schon in der Luft zerreißen. Kaum war er für fünf Minuten weg und schon plauderte seine Familie die schlimmsten und peinlichsten Geschichten und Geheimnisse aus! Vor allem dieses Erlebnis...Gott, es war ihm so peinlich. Niemals. Niemals hätte er als Zwölfjähriger ahnen können, dass ihm der Wein damals so sehr zusetzen würde, dass er Dummheiten wie diese anstellte.
Gott, ihm tat das Mädchen im Nachhinein so leid, es war bestimmt richtig schlimm peinlich und unangenehm für sie.

Plötzlich mischte sich die laute Stimme lachend hinter ihm ein. "Warte, was hat Lovino gemacht?"

Feliciano klopfte einladend zu dem Platz neben sich auf Lovinos Bett und Antonio setzte sich zugleich neugierig zu ihm, Lovino gefiel das absolut gar nicht.
"Da haben sich wieder einmal zwei Deppen gefunden...", murmelte er stimmlos herum und setzte sich einmal mehr auf die Kante seines Schreibtischs, sich darauf bereit machend, dass innerhalb der nächsten Minuten, seine schlimmsten Geheimnisse der Welt offenbart wurden.

"Lovi war früher so richtig überdreht als er in der Pubertät war, du hättest ihn sehen müssen! Er war so komplett hormongesteuert und launisch, dass ich freiwillig aus dem Zimmer ausgezogen bin!" Grinsend, als hätte er noch nicht genug angestellt, brachte der mittlere der drei Brüder die nächsten bescheuerten Geschichten in die Runde.

Ein Brummen hallte durch den Raum, gefolgt von einer lautstarken Gegenrede. "Das...Das stimmt doch gar nicht, du Scheißkerl!"

"Und wie das stimmt! Weißt du noch damals, als du-"

"Shhhht! Klappe!" Nun wurde es Lovino endgültig zu viel und er hielt sich augenblicklich die Ohren zu, sein offensichtliches Schmollen thronte einmal mehr auf seinem Gesicht. "Ich kann nichts hören, lalalala!" Er stäubte sich dagegen, auch noch ein peinliches Wort über sich zu hören.

"Hach, dann nicht. Dabei wäre das jetzt echt lustig gewesen...", Feliciano schnaufte grinsend und widmete sich dann wieder Antonio, "Im Vergleich zu früher ist er jetzt mega ruhig geworden, fällt mir auf. Normalerweise hätte er mir jetzt schon fünf Kissen ins Gesicht geschmissen."

"Das würd ich auch tun, wenn ich so viele hätte!", zischte Lovino verärgert von der Seite zu ihm. Die Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt und seinen Blick zur Seite gewandt. Na, sehr schön, wahrscheinlich wussten nun alle seine Freunde über die bescheuertsten Szenarien, in denen er bereits gesteckt hatte. Feliciano, Romeo und sein Nonno waren solche Tratschtanten! Geheimnisse zu behalten war noch nie eine Stärke von ihnen gewesen und den Sinn für Privates schienen sie ebenso nicht zu besitzen. Wenn er könnte, hätte er ihnen bereits eine Moralpredigt aufgezwungen, jedoch brächte das nichts...
Seine Familie war nun mal seine Familie. Egal wie nervig sie sein konnte, Lovino hatte seine drei nahestehenden Menschen sehr lieb und ihr Urteil sowie ihr Wohlergehen waren ihm unsagbar wichtig. Nur es auch offen zu zeigen...damit kämpfte Lovino tagtäglich, auch in anderen Situationen.

"Sag doch sowas nicht, Lovino..." Schon nahm Romulus seinen erwachsenen Enkel in den Arm. Romeo und Feliciano taten es ihm gleich und zwängten somit den kleinen Hitzkopf dazu, im Mittelpunkt ihrer Umarmung zu stehen. "Wir wissen doch, dass du uns trotzdem liebhast und wir dich doch auch."

Lovino antwortete vorerst nicht, stattdessen ließ er für wenige Augenblicke zu, die familiäre Liebe zu erfahren, die er nun seit Monaten nicht mehr zu spüren bekam.
Vielleicht.
Nur vielleicht linderte diese kleine, spontane Aussage für einen Moment die an seiner Seele nagende Minderwertigkeit und Negativität.

Antonio beobachtete die Szene, ein für ihn mildes Lächeln auf dem Gesicht tragend. In seinen Augen aber zog sich ein trüber Schleier über das sonst so strahlende Grün; es verlor gedanklich an Farbe, wirkte grau. Seine Brust sendete kleine, dumpfe Schläge aus und sie wurden von Sekunde zu Sekunde träger und schwerer.
Es war so schön zu sehen, dass Lovinos Familie Lovino dennoch liebte, trotz seiner aufbrausenden, unhöflichen Art...
Lovino verdiente all diese positive Aufmerksamkeit.
Doch...in seinem eigenen kleinen Herzen öffneten sich bei diesem herzerwärmenden Anblick alte Wunden, die er tagtäglich zu verdrängen versuchte, um seine Frohnatur behalten zu können und nicht der anbahnenden Depression zum Opfer zu fallen. Man könnte meinen, Antonio wünschte sich jenen familiären Rückhalt, den Lovino erfuhr ebenso, jedoch stünden seine Chancen schlechter denn je...Für Antonio schien Lovinos kleine Familie nahezu perfekt zu sein, über die gegenseitigen Sticheleien und das Ausplaudern dummer Ereignisse sah Antonio voll und ganz hinweg, denn Tomás tat dasselbe bei ihm, wenn nicht sogar noch schlimmer.
Dass sein Bruder ihn immer damit erpresst hatte, all seine beschämenden Geheimnisse anderen zu petzen, wenn er nicht das tat, was er wollte, hat er ihm bis heute nicht verziehen...Obwohl er ihn vermisste. In diesem Fall verblieb Antonio eindeutig nachtragend; eine Eigenschaft, die nur in Extremfällen zur Geltung kam.

Aber...
Antonios Herz sank schwer herab und Kälte zog in ihm ein.
Zumindest diesen Beistand einer Familie...Die Versicherung auch geliebt zu werden, wenn man sich von der schlechtesten Seite zeigte...Antonio sehnte sich nach einem solchen Rückhalt.
Doch er wusste, dass dieser Wunsch nie in Erfüllung gehen würde.
Egal, wie sehr sein inneres Kind nach der Zuneigung, Liebe und dem Verständnis seiner Eltern flehte.

Denn nicht einmal seine schriftlichen, von Herzen kommenden Bitten konnten seine alte, liebende Familienkonstellation wiederherstellen.

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