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Kapitel 16 - Verdacht und die Akzeptanz eines Vaters

Geschwind glitt die Mine des Stiftes über das schneeweiße, gekörnte Papier und zog dabei feine Striche und Kurven mit sich. Kurze, kontextlose Wörter und unvollständige Sätze füllten den Zettel allmählich mit grauer Farbe; die Buchstaben ritzten sich sachte hinein und hinterließen kleine Mulden, die man mit freiem Auge kaum erkannte. Seine Hand, verdreckt durch den verwischten, schimmernden Staub des Bleistiftes, streifte die Oberfläche nur mehr spärlich. Sein Handgelenk agierte schnell, schrieb von Sekunde zu Sekunde weitere Informationen auf, bis ihm der Platz zu eng wurde. Dabei brauchte er keinerlei Aufmerksamkeit auf den Zettel richten. Stattdessen beäugte er die Situation mit prüfendem Blick. Alle Details, alle noch so kleinen Hinweise...sie mussten notiert werden. Je genauer er arbeitete, desto höher fiele sein Verdienst aus. Und diesen benötigte er mehr als alles andere.
Wie es ihr wohl erging?
Er hatte sie seit drei Jahren nicht mehr gesehen...

Plötzlich löste sich die kleine Versammlung am Marktplatz neben dem Brunnen auf. Die jungen Damen mit den feinen Kleidern und der Mann mit den verwuschelten braunen Locken trennten ihre Wege. Diese Szene geschah beinahe täglich, immer um dieselbe Uhrzeit herum. Zumindest las man das aus seinen Aufzeichnungen heraus, die er im Laufe der Woche zusammengesammelt hatte, seitdem er hierhin versetzt wurde.
An sich schien die zu beobachtende Person nicht wirklich Auffälliges an sich zu haben. Es handelte sich einfach um einen Mann Mitte zwanzig, der bald ein Familienvater sein würde. Also war es eigentlich nichts Bahnbrechendes, aber anscheinend war das genug für diese Studie über die Bewohner dieser kleinen süditalienischen Stadt. Wahrscheinlich hatten diese Informationen ausschließlich Bedeutung für die Statistik, aber hoffentlich brachte ihm das trotzdem die ein oder andere Lira ein.

Antonio sah zum Himmel hinauf. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen,
Wie viele Leute hatte er bis jetzt beobachtet, seitdem er eingewilligt hat, aufgrund von Job- und Geldmangel als Freiwilliger dieser Studie beizutreten?
Es müssten schon um die zehn gewesen sein.

Erschöpft und einen leichten Krampf an seinen Sehnen spürend, fing Antonio an laut zu gähnen. Die ganze Schreiberei hatte ihn müde gemacht und es wäre gerade die gnädigste Zeit, um eine wohlverdiente Siesta einzuhalten. Wie lange musste er denn noch hier hocken und unbekannte Leute beobachten, bis er endlich Pause hatte?
Müde schaute Antonio zur Seite, vorbei an dem Brunnen, an dem er mit Lovino letztens eine halbe Überschwemmung über den Marktplatz geschaffen hatte. Ein simples Lächeln malte sich auf sein Gesicht, als er das Erlebnis in Erinnerung rief.
Der Anruf von gestern...

Auf einmal wurde Antonio rapide aus seinen Gedanken gerissen, als er am anderen Ende des Platzes Abel erblickte. Mit einem spontanen Blick sah er auf die Uhr des Kirchturmes.
Abels Morgenschicht war gerade zu Ende gegangen und Antonio würde ebenfalls in ein paar Minuten frei von Aufgaben sein.

Frohen Mutes sammelte er also seine vielen, handgeschriebenen Zettelchen ein und gesellte sich direkt zu seinem wortkargen Freund. "¡Hola! Abel!", begrüßte er ihn gut gelaunt wie immer, während der Niederländer nur mit einem schroffen, leisen "Hey" antworten konnte.
"Auch grad fertig geworden?"

"Wie man's nimmt..." Abel würdigte ihn nicht einmal eines einzelnen Blickes, sondern starrte nur weiter geradeaus, während sie so nebeneinander einher wanderten. Das war selbst für Abels Verhältnisse zu kalt und abweisend.

"Ach so. Also ich bin in fünf Minuten frei für heute. Hoffentlich ist die Schlange bei den Imbiss-Ständen nicht zu lang, ich hatte seit heute Morgen nichts Anständiges mehr im Magen..." Sich schauspielerisch an den Bauch fassend schaute er zu Abel hoch, der einfach keine Miene verziehen wollte.

"Da hinten ist momentan kaum was los. Wenn du Glück hast...", gab er kalt, aber bemüht um Freundlichkeit zurück. Daraufhin lächelte Antonio mit leichtem Unbehagen. Manchmal war es knifflig, richtig auf Abels Äußerungen zu reagieren. Insbesondere, wenn dieser zwar über Positives sprach, allerdings eine unbeabsichtigte, desinteressierte Haltung zeigte.

"Okay, gut. Gehen wir gemeinsam?", bemühte sich der Spanier um freundschaftliches Engagement, obwohl er die Absage von Abels Seite bereits erahnte.

"Meinetwegen..."

Erstaunt fiel Antonio die Kinnlade runter und er richtete seinen Blick verwundert zu seinem Kumpel, der keine Anstalten machte, Augenkontakt mit ihm zu halten. Abel hatte tatsächlich zugesagt?

Den Blick bemerkend, drehte Abel endlich den Kopf zu Antonio, wobei dieser plötzlich auf die tiefe Narbe auf seiner Stirn aufmerksam wurde.
Bis jetzt war ihm dieser dunkelrote Schnitt, der sich von seiner rechten Stirnhälfte fast bis zur Augenbraue erstreckte, nie aufgefallen...Zudem wirkte er frisch, vielleicht gerade einmal drei bis vier Tage alt. War ihm etwas zugestoßen oder handelte es sich schlicht und einfach um einen Unfall?

Auf einmal verdunkelte sich Abels Mimik. Antonios Neugier war zu ihm durchgedrungen. "Was ist? Darf ich nicht einmal zusagen?"

"Doch, doch! Es ist nur...du hast da etwas auf der Stirn." Antonio zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf das strenge Gesicht seines Freundes. "Seit wann hast du denn diese Narbe?"

Stille.
Abel zögerte, hob beide Augenbrauen und schaute irritiert auf den etwas Kleineren herab. "Was?"
Mit aller Vorsicht fasste er sich an die Stirn, streifte die unregelmäßige, raue Wölbung auf seiner Haut und ein oberflächliches Stechen ergab sich an der Stelle, an der er sich berührte.
Stimmt ja...Vor vier Tagen...

"Ach so, die", Abel zupfte an seinem dünnen blau-weiß gestreiften Sommerschal herum, "Ist nicht wichtig...bin mit dem Kopf am offenen Küchenkasten angestoßen."

"Du am Küchenkasten?", skeptisch betrachtete Antonio seinen Freund von oben bis unten, um möglicherweise Hinweise zu finden, die bewiesen, dass Abel log. Nie im Leben hatte dieser sich an der Kante des Kastens angehauen. Er war viel zu groß, um allein beim Vorbeigehen das Eck so mies zu streifen. "Wie ist das denn möglich?"

Abel zog die Oberlippe ein, wandte den Blick auf seine eigenen Schritte, anstatt seinen Gesprächspartner anzusehen. "Indem ich aufgestanden bin und dann ist es passiert."

Antonio war alles andere als glücklich mit dieser Antwort. Abel verheimlichte ihm die Wahrheit, aber je mehr er nachbohrte, desto genervter würde Abel ihm gegenüber auftreten. "Hm, wie du meinst."

Schweigen verfolgte ihren kleinen Spaziergang zu den Essensständen des täglichen Marktes. Selbst für einen redefreudigen Menschen wie Antonio endete es hin und wieder schwer, mit seinem wortkargen Kumpel ständig kommunizieren zu können. Doch die Stille war nichtsdestotrotz etwas, das Antonio mehr zu schätzen wissen sollte.

Nachdem sie sich ein spontanes Mittagessen verschafften, trennten sich allmählich ihre Wege: Abel durfte bereits die Reise nach Hause antreten, während Antonio seine Berichte noch geschwind zur Zentrale trug. Ansonsten würde er sie ohnehin in seinem Saustall zuhause verlieren. Sein innerer Chaot vereitelte es ihm allzu oft, Ordnung zu behalten.

Antonio sprintete mit einem Mal die Stufen hinunter, das Geländer in der Mitte war bereits abgetragen und einige kleine Pflänzchen schossen zwischen den Steinfliesen hervor. Seine Beine schwebten sekundenlang; schienen nicht mit Antonios Körper verbunden zu sein. Frohen Mutes setzte er allerdings seinen Weg fort, bewältigte nun den sanft herabfallenden Hügel hinab zu den weiter weg und tiefer gelegenen administrativen Zentren der Kleinstadt.
Seine Zettel zählend schlenderte er an einigen Passanten vorbei, die ihre Kinder womöglich von der Schule abgeholt hatten.

Nebenbei schnappte man das ein oder andere hitzige Argument auf. Antonio hörte nur mit halbem Ohr zu und kontrollierte seine Schriften auf mögliche Fehler. Erst als ihm die wöchentliche Debatte um das Verschwinden oder Morden von Einwohnern unterkam, spitzte er doch einmal die Ohren und - obwohl er das aus Höflichkeit nicht gerne tat - lauschte dem Gespräch.

"Jetzt hat's tatsächlich den armen Alberto auch erwischt..." Der Mann mit dem erdbeerblonden Haar und der violetten Brosche, die durch eine goldene Kette an sein blutrotes Jackett angebracht war, sah besorgt zu dem Mann neben sich.

Antonio erkannte die Stimme sofort. Das konnte nur Vladimir sein! Er kannte ihn von Francis' Bar. Wer kannte den Rumänen denn nicht? Er war derjenige, der jeden Samstag versuchte, mit Arthur und Lukas Zaubertricks vorzuführen - Dabei waren Kartentricks seine Leidenschaft. - aber leider gingen diese im Regelfall in die Hose und im Endeffekt endete jeder Samstag damit, dass er sich mit Aleksandar besoffen ein Karaoke-Duell gab, um seinen Frust abzulassen. Allerdings wusste er nicht, dass Vlad ein Kind hatte...oder einen Bruder, der gerade einmal im Volksschulalter sein konnte.

"Nicht nur den Alberto!", Aleksandar atmete bedrückt ein und bemühte sich auf Rücksicht des Kindes neben sich, ruhig zu bleiben, "Auch Luca ist weg! Die zwei hatten noch nie auch nur irgendetwas angestellt. Insbesondere Luca!"

Luca?
Helles Klingeln schlug wie ein Blitz in Antonios Gedanken ein und löschte jegliche nebensächliche Idee sofort aus.
Vor zwei oder drei Wochen beobachtete er diesen jungen Mann oftmals zusammen mit diesem Alberto und einem Mädchen namens Giulia bei den örtlichen Cafés, umso schockierender traf ihn die Nachricht, dass diesen zwei, fast noch jugendlichen, Männern etwas zugestoßen war.
Sein Herz zog sich zusammen, zerrte sich wie Blei in seiner Brust in einen fiktiven Abgrund.

"Aleks, ich habe nachgedacht..." Vladimir setzte ein ungewöhnlich ernstes Gesicht auf und hielt die Hand des Kindes fest. "Ich werde mit Aurel zurück nach Rumänien ziehen. Ich kann nicht riskieren, dass mein Bruder in so einer Gefahrenzone aufwächst..."

"Verstehe ich...", den Blick zur Seite wendend, presste er die Lippen zusammen und unterdrückte somit, den Kommentar, den er einfach nicht herausbringen konnte. Allein aus seiner unsicheren Körperhaltung wurde klar: Es musste etwas Wichtiges gewesen sein. Erst als die kleine Hand Aurels an seinem Ärmel zupfte, brach Aleksandar aus seiner eigenen Welt heraus in die Realität.

"Komm einfach mit! Dann brauchst du Vlad nicht vermissen. Und wir können dann immer zusammen Verstecken spielen...und Ball! Außerdem braucht dich Vlad, sonst ist er ganz doll traur-" Weiter kam er nicht, denn Vladimir hielt dem Zehnjährigen auf die Sekunde genau den Mund zu. Rote Flecken malten sich auf den Hals des Rumänen, die allmählich bis zu seinem Gesicht vorstießen. "A-Aurel, das darf Aleks selbst entscheiden, wie er will." Schwitzend und von einer Spannung verfolgt, wanderten seine Iriden von einem Punkt zum anderen, als wüsste er nicht, wohin er nun schauen sollte, ohne sich zu blamieren.

Doch Aleksandar brach daraufhin in Gelächter aus und legte den Arm locker und kumpelhaft um die Schultern seines vor Röte brodelnden Freundes. "Ich hab, um ehrlich zu sein, eh nichts zu verlieren! Und Bock von irgendwelchen Zwielichtigen niedergemetzelt zu werden, ist ebenso nicht meins. Also, warum nicht!" Dem kleinen Aurel ein Lächeln schenkend klopfte der Bulgare währenddessen Vladimirs linke Schulter.

Antonios Mundwinkel zuckten, als ihm dies zu Ohren kam.
Von hier wegziehen...
Das wäre womöglich die sicherste Option für diese drei, wenn sie der ganzen Sache aus dem Weg gehen wollten. Viele Einwohner dieser kunterbunten Stadt entschlossen sich zurzeit, der Gefahr zu entfliehen. Die Morde zentrierten sich immer mehr in die Innenstadt, waren sie doch früher hauptsächlich in den Außenbezirken aktiv. Noch dazu schienen sie sich mittlerweile wöchentlich anzuhäufen. Anfang Juni meinte man noch, es passiere jeweils am Anfang sowie am Ende des Monats ein Unglück. Binnen zweieinhalb Monaten hatten sich die Opfer pro Monat geradezu verdoppelt und trotz der neuen Informationen schürte die Situation einen in einen Wettlauf gegen das rasante Lauffeuer ein. Antonio vollzog die Entscheidungen vieler junger Menschen nur zu gut nach. Ebenso er würde eher über einen Umzug nachdenken, steckte er in ihrer Haut.
Aber, wenn die örtliche Flucht die beste Möglichkeit zu einem sicheren Leben sei, warum war Antonio dann nicht weggezogen?
Ihn beunruhigten die Vermisstenanzeigen und die immer wieder zufällig auftauchenden Leichen ebenso stark wie jeden anderen.
Also warum reiste er nicht einfach zurück nach Spanien, in seine Heimat?

Nach Aragón...
Antonio biss sich auf die Unterlippe und verwarf den Gedanken so schnell, wie er auch gekommen war.
Rückkehr war undenkbar...Antonio...konnte nicht dorthin zurück.

Aber was hielt ihn dennoch in dieser Stadt?

So wirklich heiß auf seinen Beruf könnte er sich selbst nicht beschreiben, wenn er könnte, hätte er sich bereits eine neue Beschäftigung gesucht; machte er die momentane doch geradezu aus Schuldgefühlen...Aufgrund von einer selbst-auferlegten Schuld, die er wiedergutmachen wollte.

Antonio legte den Kopf in den Nacken, als er in das verwinkelte, schmale Nebengässchen einbog. - Es war eine kleine Abkürzung, die er seit dem ersten Tag kannte.

Auch wenn in den letzten Wochen mehr Mitarbeiter hinzukamen und sich daher seine eigene Arbeitszeit als weniger stressig gestaltete, konnte er bei dieser öden Berufung von alles außer Spaß sprechen. Womöglich schleppte er hierbei auch den Grund mit sich, wieso er diese Stelle annahm: Er tat das ausschließlich als Sündenbegleich für den indirekten Todesgrund von Roderichs Freundin Erzsébet.
Erinnerungen an die Vergangenheit entfachten in seiner Seele.
Erzsébets Mutter...sie war ein Wrack gewesen. Was hätte Antonio denn tun sollen, außer der armen Frau etwas unter die Arme zu greifen und in dem knapp vor dem Zusammenbruch stehenden Institutes mitzuhelfen - und wenn es nur die Weiterführung der Arbeit ihrer ehemaligen Arbeitskräfte war. Als verwitwete Frau mit Kindsverlust musste sie es nicht leicht gehabt haben, den Betrieb ihres Mannes als einzige Einnahmequelle am Leben zu erhalten.

Als Antonio dann endlich die schwere Tür aus dickem Ebenholz mit Schwung aufdrückte, entgegnete ihm lediglich die elanlose Stimme von Natalya, die ihren müden Blick kaum von der Schreibmaschine abwendete. Das laute Tacken der Tastatur sowie das des Typenhebels waren neben dem stetigen Ticken der Uhr das einzige Geräusch, das sich durch jenen Eingangsbereich schlängelte. Zur Mittagszeit herrschte in der Rezeption wie üblich tote Hose. Neben Natalya befand sich um diese Tageszeit nie jemand in diesen feinen, aber schlichten Räumen. Demnach war er wohl der einzige Wahnsinnige, der es wagte, Natalyas Konzentration zu unterbrechen. Wie jeden Tag trug sie eine niedliche Schleife im Haar, was eigentlich das einzige Sanftmütige an ihr war und einen auf die falsche Fährte lockte. Diese Frau war alles andere als lieb und mädchenhaft. Sie könnte Antonio hier und jetzt sämtliche Rippen brechen, wenn sie nur wollte. Zumindest glaubte er das, denn ihre Ausstrahlung war kälter als der Eisschnee im tiefsten Winter Sibiriens.

Der Spanier zitterte für den Bruchteil einer Sekunde, als bräche plötzlich ein spontaner Wintereinzug inmitten des Augusts ein, bewältigte aber sein Verhalten gottseidank rasch und gab sich wieder offen und gelassen, als er der Russin gegenüberstand.
"¡Hola, Natalya!", schluckte Antonio seine Ehrfurcht hinunter und ließ seinen Blick über ihren Schreibtisch wandern. Ein kleiner Haufen Briefe verstreute sich unregelmäßig über ihren Schreibtisch; die Namen Ivan und Katyusha fanden sich auf jeden einzelnen Umschlag.
Neugierde entfachte in Antonios Herz wie ein frisch entzündetes Streichholz.
Ivan und Katyusha...
Waren sie Teil von Natalyas Familie? An irgendeinem Betriebstreffen erwähnte sie etwas von Geschwistern...
Falls seine Vermutung stimmte, war es tatsächlich sehr niedlich von ihr, wie sie die Briefe sogar an ihrem Arbeitsplatz bei sich hatte.
Natalya hatte also doch eine liebende Seite...
Antonio starrte für den Moment auf die Uhr an der beigefarbenen Wand, einen dumpfen Schlag gegen seine Brust spürend. Nun tat es ihm durchaus leid, wie abwertend er die junge Dame in Gedanken beschrieben hatte.

"Was willst du?", sie strich ihre platinblonden Strähnen mit dem Zeigefinger aus ihrem Gesicht, würdigte Antonio allerdings keines Blickes, "Ich habe keine Zeit für Kaffeekränzchen mit Leuten wie dir..."

"Ah-" Schon hatte Antonio sich wieder besonnen und schob seinen kleinen Stoß an Zetteln der jungen Korrespondenz entgegen. "Das sind die Aufzeichnungen von heute. Nichts Bahnbrechendes allerdings."

"Das werde ich schon selbst bewerten können, ich brauche deine Kommentare nicht." Die junge Frau überflog seine Aufzeichnungen mit monotonem, gefühlskaltem Blick, zuckte nicht eine Miene und blätterte nach und nach die Blätter ihrer Vollständigkeit halber um.

"Mhm. " Plötzlich erhellte sich ihr finsteres Gesicht etwas und aus der rauen, tiefen Stimme wurde ein verwunderter, hellerer Ton geboren. Die Gesichtszüge der Blondine entspannten sich und nahmen eine weichere Form an. "Sehr detailreich, sehr gut." Natalya begann spontan in dem kleinen Stoß Zettel neben sich herumzukramen, ganz so, als suchte sie etwas Bestimmtes.

"Danke", überrumpelt von dem Lob, der Korrespondenz kratzte er sich verlegen am Hinterkopf, "Ich hab einfach das hingekritzelt, was ich gesehen habe."

Antonio erhielt keine Antwort auf seine Aussage; eine unangenehme Stille erfüllte den einsamen Raum zwischen Natalya und ihm, die lediglich durch das rasche Umblättern zahlreicher Seiten gestört wurde. Sollte er schon gehen? War seine Arbeit getan?

Nicht sicher, ob ihn die junge Dame bereits entlassen hatte oder nicht, tappte er nervös mit den Fingern über seinen anderen, warmen Handrücken. Wo blieb nur das übliche "Passt. Und jetzt verschwinde!"? Natalya schickte ihn in der Regel sofort weg, nachdem er seine Zettel abgegeben hatte. Und nun schien die junge Korrespondenz in einem dicken Haufen voller schneeweißer Blätter herumzugraben. Keine Sekunde nachdem sie ein erstauntes Lob geteilt hatte.

Was suchte sie denn dann?
Ein Wörterbuch, um zu verstehen, was Lob ist?
Antonio lag den Gedanken zur Seite und fokussierte sich eher darauf, weswegen Natalya ihn nicht sofort wegschickte.

"Ah, da ist es ja!" Einen kurzen Brief in den Händen haltend, überflog sie für wenige Augenblicke den Inhalt noch ein letztes Mal, bevor sie ihren Kopf erhob und den Mann vor sich anblickte. "Heute Morgen kam vom Abteilungsleiter eine Information, die an dich gerichtet wäre."

"Huh?", Antonio spitzte die Ohren und befürchtete bei dieser Aussage bereits das Schlimmste, "Feuert er mich etwa?! Oh, aber ich hab doch noch gar nicht meinen Gehalt diesen Monat bekommen...Ist der dann damit auch gestrichen? Oje, und wo arbeite ich dann? Ich kann doch nicht lange ohne eine Stelle vor mich hinvegetieren, ich muss eine Miete bezahlen? Und das Geld für meine-" Panisch verplapperte sich der Dreiundzwanzigjährige und stellte sich fortgehend die schlimmsten Szenarien vor, die ihm widerfahren könnten. Seine Schultern wanderten zurück, seine Gliedmaßen spannten sich an und in seinem Kopf raste es wie ein Windsturm umher.

"Sht!" Aufgebracht zischte Natalya Antonio an. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, die dunkelblauen Iriden funkelten ihn derartig verärgert an, dass man annahm, Pfeile bohrten sich zäh und zögerlich durch den eigenen Oberkörper. Diese Frau hatte immense Dominanz und Autorität, sodass es Antonio einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

"Hör auf dir Dreck einzureden, bevor du mir zuhörst...Zeig ein wenig Respekt..." Erneut würdigte sie ihn keines Blickes mehr; er hatte seine Chance verspielt, mit ihr auf guter Ebene zu bleiben.
Möge Gott ihm beistehen, dass er noch lebend hier raus käme...

"Ob du es glaubst oder nicht, du wirst befördert." Leise fügte Natalya noch ein kleines "Was mich bei deiner schusseligen Art extrem wundert, aber okay. Ist ja nicht mein Problem." hinzu und starrte weiterhin auf den weißen Zettel in ihren Händen. So musste sie Antonio zumindest nicht in die Augen sehen.
Allein sein Anblick steckte einen bereits mit Dummheit an - meinten zumindest die meisten. "Deine Bearbeitungen sind sehr detailreich und genau, dafür wirst du höher entlohnt werden. Allerdings ändern sich bei einer Annahme deinerseits auch die Arbeitszeiten und die Felder, die du belegst."

Er? Befördert? Hörte Antonio da richtig? Überrascht machte er die Augen weit auf und blinzelte die Blondine vor sich irritiert an. Dabei fetzte er doch im Regelfall seine Beobachtungen einfach hin, in der Hoffnung, dass es das Mindestmaß erreichte. Anscheinend waren seine halbherzigen Erkenntnisse durchaus hilfreich genug, um einen Rang in der Arbeitshierachie aufzusteigen. Antonio grinste leicht.
Er schien eine Glückssträhne zu haben!
Zuerst rief ihn Lovino spontan am gestrigen Abend an und beschenkte ihn mit dem Klang seiner Stimme sowie seine volle Aufmerksamkeit. Und nun, wenige Stunden später, wurde er befördert! Vielleicht hatte sein Bruder damals recht gehabt, als er meinte, Musik führe einen zum Glück. Seitdem er sich entschlossen hatte, sich mit der Musik zu versöhnen und selbst wieder zu spielen, geschahen ihm ausschließlich gute Dinge!

"Oh wow", pinke Farbe schoss ihm fast unsichtbar ins Gesicht und Antonio kratzte sich intuitiv angespannt am Hinterkopf, "Ich...Ich freu mich sehr darüber! Ich dachte schon, mit mir ist alles aus..."

Genervt stieß die vier Jahre jüngere Dame ein Raunen aus und massierte sich die Schläfen. "Ugh, genau wegen solchen Dingen sollte man vielleicht erst einmal zuhören, bevor man voreilige Schlüsse zieht..."
Schon wieder dieser Blick.
Antonio fröstelte es und er presste die Lippen zusammen, um nicht offensichtlich mit den Zähnen zu klappern.

"Ist auch egal...", Natalya wandte sich wieder zu ihrer Schreibmaschine und legte die Finger auf die einzelnen, schwarzen Tasten, "Komm am Montag in der Früh wieder her, dein neuer Abteilungsleiter wird dir schon sagen, was du zu tun hast. Jetzt verschwinde endlich und vergeude nicht meine Zeit...Ich muss eventuell auch mal fertig werden."

"Alles...alles klar!", bereits leicht unter den Achseln schwitzend, drehte sich der Spanier automatisch um, die dominante Frau nicht mehr ansehend, dennoch bemühte er sich um seinen Dauer-Optimismus, "Bis nächste Woche dann, Nat!"

Das hätte Antonio lieber nicht sagen sollen. Er spielte mit dem Feuer - obwohl...in Natalyas Fall doch eher mit der tödlichen Eiseskälte - und allein der Spitzname schien die Neunzehnjährige zur Weißglut zu treiben. So erzählte es zumindest ihr Todesblick, der sich geradewegs durch seinen armen Rücken bohrte. "Nenn mich nicht Nat, wenn dir dein Leben lieb ist!"

Antonio erschauderte, den Schneesturm, der von ihrer bloßen Existenz ausging, an seinen Armen spürend. Er stellte sich wie auf Knopfdruck gerade hin und schaute mit entschuldigendem Blick über seine Schulter. "A-Ah, lo siento! Mein Fehler, ich machs nie wieder!"

Wirklich viel schien das allerdings nicht bewirkt zu haben, denn Natalya blieb stark gereizt. "Ugh..." Fast dramatisch vergrub sie ihr Gesicht in der Hand und stützte sich mit dem Ellbogen am Schreibtisch. Antonio nahm diese Geste als sein Zeichen zu gehen auf und wandte sich erneut in Richtung Tür, als die junge Dame plötzlich wie vom Blitz getroffen aufschaute und ihre Aggression mit der leichten Sommerbrise aus dem geöffneten Fenster verflog. "Warte noch kurz!"

"Huh?"
Überrascht von der Ruhe in Natalyas Stimmlage, zusammen mit dem weicher gewordenen Blick in ihrer Visage, blinzelte Antonio das Mädchen verwirrt an. Wie aus heiterem Himmel zog sie sich aus ihrer vorlauten Abwehrhaltung zurück, legte ihre frostige, soziale Maske für wenige Augenblicke ab und offenbarte ihr dahintersteckendes Ich. Die Eiskönigin taute tatsächlich auf.

Geradezu vorsichtig spielte sie mit den Kanten der zwei unauffälligen Briefe in ihren Händen, als sie ihren Arbeitsplatz verließ und dem über einen Kopf größeren Mann entgegentrat, den Kopf beschämt zur Seite geneigt. "Kannst du...die zwei Briefe bitte gleich beim Postamt für mich abgeben?" Neben ihrer grantigen Mimik versteckte sich ein minimaler rötlicher Schleier auf ihre Wangen. Ihre Hände schwitzten und zitterten, als sie die zwei Kuverts Antonio anvertraute. Nervosität baute sich in ihr auf und es schien ihr offensichtlich peinlich zu sein, diese Bitte an ihn zu stellen.
Fragte sie nie jemanden um Hilfe?

"Ich kann heute nicht mehr rechtzeitig zur Post, bevor sie schließt, und ich möchte für Ivan und Katyusha noch etwas abschicken." Natalyas Stimme nahm andere Formen an, die der Dreiundzwanzigjährige bis jetzt noch nie kennengelernt hatte: Sie war schüchtern, gar leise.

Verwirrtes Blinzeln brachte er Natalya als erstes entgegen, lächelte aber dann. Schlussendlich war sie doch nur eine Cholerikerin, die hinter ihrer Fassade auch Positives und Verletzliches verbarg.
Genau wie Lovino.

"Achso...", lächelte Antonio Natalya freundlich zu, nahm die Briefe an und vergaß für den Augenblick die Angst, die er vor der kleinen Dame hatte, "Klar, kann ich das für dich tun. Ich helfe gern!"

Schüchtern starrte die Blondine auf ihre schwarzen Schuhe, drehte die Spitzen vor Angespanntheit zueinander und schämte sich umso mehr dafür, ihre starke Deckung fallen gelassen zu haben. Dennoch presste sie ein halb-aggressives - halb - ehrliches "Danke..." hervor, ehe sie sich zurück auf ihren Schreibtischplatz floh.

Doch Antonio störte das keineswegs. Manche Leute hatten eben Schwierigkeiten, ihre Gefühle auszudrücken oder nach Hilfe zu fragen. "Kein Problem, unter Kollegen unterstützt man sich doch gerne!"

Leider endete hiermit Natalyas Nettigkeit - wenn man es so bezeichnen konnte - und sie verfiel wieder voll und ganz ihren Gewohnheiten. Ihre starke Mauer baute sich in Sekundenschnelle auf und ließ keinerlei Vulnerabilität mehr zu. Ihre Stimme rutschte wieder in die gewohnte, passiv-aggressive Tiefe. "Nenn mich nicht deine Kollegin, ich arbeite kaum mit dir. Das kannst du zu Abel sagen, aber ich habe nichts mit dir zu tun, außer deine Schmierzettel entziffern zu müssen."

Beleidigt ging Antonio einen Schritt zurück und zog die Augenbrauen zusammen. "Hey...So schlimm schreib ich doch nicht..."

"Tust du, weswegen tippe ich sonst alles immer hier ab, damit es leserlich wird?", Natalya seufzte und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die schwarze Schreibmaschine vor sich, "So, aber jetzt verzieh dich, sonst zahlst du mir die Überstunden zusätzlich dazu." Ohne auf seine Antwort zu warten, tippte sie kraftvoll gegen die mechanischen Tasten und verfolgte, wie sich die kleinen metallenen Ärmchen mit den Buchstaben erhoben und ihre Zeichen gegen das Papier drückten. Dabei stellte sie sich womöglich vor, dass die Tasten die Knochen ihrer Feinde waren, die sie mit einem festen Schlag entzweibrach.
Antonio schluckte und spürte einmal mehr den Angstschweiß an seiner Stirn.

"Okay, okay! Ganz ruhig! Ich gehe ja schon!", um sich vor einem möglichen Angriff des 1,60 Meter großen Kampfbären zu schützen, drehte sich der Spanier augenblicklich um und machte eine lockere Handbewegung von sich, "Adiós, Nat!"

~°~

Aus der Dunkelheit wurde Licht.
Aus dem unendlichen, leeren Nichts kehrten in kleinen Schritten die tauben Empfindungen zurück, blieben allerdings noch schwammig und vage. Wie in Zeitlupe öffnete er seine Augen, bemerkte, wie sein bleischwerer Kopf seelenruhig an etwas Warmem angelehnt ruhte.
Zögerlich blickte er zum Himmel hinauf. Die Sonne hatte ihren Platz verlassen und versank nun hinter dem endlosen Horizont des dunkelblauen Meeres. Vorsichtig ließ Lovino die Beine an der Meeresklippe mit den teilweise abgetragenen Stellen im Gras, an der er saß, gedankenlos und frei baumeln. Aus dem ehemals strahlend blauen Himmel wurde ein tiefes, leidenschaftliches Orange - später durchzogen mit einem kräftigen Rot und die Abendluft kühlte ihn drastisch ab. Wenn er die Augen schloss, hörte er das Meer, die Wellen, die gegen Strände und Felswände preschten und Möwen, die ihren Streckenflug über seinen Kopf hinweg fortsetzten. Einen tiefen Atemzug wagend vernahm der junge Mann den altbekannten Geruch von Salzwasser, aber auch ein sachter Eigenduft mischte sich hinzu, den Lovino nicht zuteilen konnte...und doch kam ihm dieser beruhigende, angenehme Duft so familiär vor.
Woher kam diese innige Vertrautheit? Lovinos müden, trägen Augenlider blieben geschlossen und raubten ihm die Möglichkeit noch länger den beruhigenden, gar künstlerischen Anblick der untergehenden Sonne zu betrachten, deren Licht im Spiel der Wellen wie flüssiges Gold glänzte.

Im nächsten Moment legte sich ein sanfter Druck auf seine rechte Hand und warme Finger glitten sanft daran herab, bis ihre Finger locker ineinandergriffen und sich verbanden, ohne sich zu verschränken. Winzige Blitze schossen durch Lovinos Adern und lösten ein angenehmes Prickeln auf seiner Haut aus. Andächtige Flügelschläge von Schmetterlingen streiften seine Bauchdecke und ihre Zahl wuchs mit jeder Sekunde, bis sie schließlich bis in seine leicht gewordene und ohne Sorge befleckte Brust reichten und ihn beflügelten, als hätte man ihm den Himmel auf Erden zu Füßen gelegt...als hätte er allein durch die stille, vorsichtig geschlossene Nähe die ewige Glückseligkeit erreicht. Lovinos Herz klammerte sich daran, wollte dieses temporäre Glück nicht mit dem Anbruch des nächsten Morgens verlieren, sobald er aus der Traumwelt gerissen wurde, um die traurige Realität wie ein quälendes Kreuz mit sich zu schleppen.

Auf einmal bewegte sich die fremde Hand, strich ihm mit dem Daumen liebevoll über den Handrücken - über seine Knöchel, über seine Fingerspitzen - bis man seine Hand sachte an den Fingern vom warmen Boden anhob und sie nah zu sich führte. Lovino hielt die Luft an und sein Tastsinn verschärfte sich, konnte er doch nicht seine Augen wieder öffnen, um den Besitzer der warmen, liebevollen Hand zu erblicken. Die fremde Hand war nicht zierlich, war nicht mit längeren Fingernägeln bestückt und besaß auch keine allzu dünnen Finger, die man einer feinen Dame zuordnen könnte. Stattdessen war sie etwas robuster, aber auch nicht zu kräftig und auch nicht grob, denn man konnte dennoch die innere Zärtlichkeit des zugehörigen Menschen an ihrer Form erspüren. Sie ähnelte Lovinos eigener Hand ein bisschen. Ihm blieb allerdings keine Zeit, sich zu lange darauf einzulassen. Ein lieblicher Hauch - ein warmer Atemzug - streifte seine Haut, daraufhin folgten zarte Lippen, die sich so vorsichtig und behutsam annäherten, dass Lovino beinahe in den Glauben verfiel, es wäre nichts weiter als der süße, flüchtige Flügel eines kleinen Zitronenfalters gewesen. Von plötzlichen Gefühlen überrannt, ähnlich der Welle, die gegen die hohen Felswände ihrer Klippe stieß, öffnete sich Lovinos Mund einen winzigen Spalt und er atmete ungewöhnlich ruhig aus. Etwas Wunderbares blühte in seiner unbeschriebenen Seele auf. Wie eine von der Sonne geküsste Blume entfalteten sich Blüten und Blätter, strebten nach dem besonderen Licht, nach dem sie sich sehnten - nach Liebe.

Ihre geisterhaften, zerbrechlichen Blüten öffneten sich nur achtsam und voller Schüchternheit und sie bildeten mit ihrer weißen und silbrig glänzenden, von Unschuld geprägten, Farbe das schwache Mondlicht zur strahlend schönen Sonne - zu den Funken im Herzen des Unbekannten, der ihn so liebevoll wie kein anderer behandelte.

Doch dann...

Lovino hielt inne, wagte es kaum noch einen Atemzug zu machen und spannte sich an.
Ein leises, wisperndes Stimmchen flößte ihm eine vage Vermutung ein, wer sich neben ihm befand und wer ihn in einem Moment wie diesen wie einen himmlischen, gläsernen Schatz behandelte, als könnte er bei dem leichtesten Fehler in tausend Scherben zerbrechen.
Lovino wusste, wer bei ihm war...
Er wusste es, allein von der Berührung, die ihm zuteilwurde.
Und deshalb...deshalb...
Unsicherheit und Angst umhüllten sein zuvor zufrieden schlagendes Herz. Seine Seele riss sich hin und her, nicht wissend, wo der rechte Weg sein sollte.

Lovino hatte solche Angst.
Angst von dem, was mit ihm geschah...
Angst vor allem, was auf ihn zukam...
Angst vor den Verurteilungen von links und rechts...
Lovino verspürte aber auch Glück und Zufriedenheit.
Eine Zufriedenheit, die ihn nicht nur dem anderen galt, sondern auch sich selbst.
Zufriedenheit mit seiner eigenen Person.
Zufriedenheit mit seinem Gegenüber.
Zufriedenheit mit dem Leben, das sie sich scheinbar teilten.

Derartig in diesem Zwiespalt zwischen Kopf und Herz gefangen, begann seine Unruhe ihn aus dem friedlichen Traum reißen zu wollen. Mit plötzlich zurückgekehrter Kraft kämpfte er sich hoch, um selbst aufrecht zu sitzen und zwang seine schweren Augenlider mit aller Kraft dazu, ihm seine Sicht wiederzugeben.
Er musste...
Er musste sich versichern, dass er sich irrte!
Er musste sich irren...
Bitte...denn sonst...

Endlich öffneten sich seine Augen und ihn blendete das Licht der Sonne im selbigen Augenblick, sodass er für den Moment erblindete. Rasch wandte er allerdings den Kopf zur Seite, um sich den Fehler in seiner Vermutung zu bestätigen, aber...

Er konnte das Gesicht nicht sehen.
Es war verschwommen, blieb Lovino gegenüber völlig anonym und ein strahlendes Leuchten ging von der gesamten Gestalt aus. Ihre Haut bestand aus purem Licht und machte es unmöglich zu erfahren, wer sich unter dieser Lichthülle befand...So dachte es sich Lovino zumindest, doch die Körperhaltung und die Silhouette, deren wilden Locken ihr sanft ins erleuchtete, überbelichtete Gesicht fielen, sagten ihm genug aus...Egal wie Lovino es auch drehte und wendete, das Ergebnis war immer dasselbe.
Egal wie sehr sein Kopf dagegen ankämpfte, egal wie sehr er sich weigerte und es verdrängte...Sein Herz wusste die Wahrheit.
Sein Herz wusste genau, wer ihm im Traum gegenüberstand.

Aber Lovino wollte nicht.
Seine Finger zitterten vor Anspannung.
Aber Lovino wollte es doch.
Sein Herz schlug schneller.
Aber Lovino...war hilflos.

Und im nächsten Moment, in derselben Sekunde als sie eine leichte Meeresbrise erreichte und ihre Haare aufplusterte, verblasste die Person vor seinen Augen und wurde nach und nach transparenter.
Nein.
Er sollte noch warten!
Aus Reflex streckte Lovino seine Hand nach ihm aus, auch der vermeintlich Unbekannte schien die Geste zu spiegeln. Auf einmal bildete sich Lovino ein, das dumme, aber liebenswürdige Lächeln auf dem unerkennbaren Gesicht des Mannes entdeckt zu haben.
Automatisch zog sich etwas in seiner Brust zusammen. Dieses Lächeln...es bewies doch alles...

Lovino suchte nach der Hand des Verschwindenden, doch er griff ins Nichts...Seine Hand fiel hindurch, als wäre vor ihm nichts weiter als ein Geist. Unter ihm bebte der Boden, einzelne Brocken Erde zerbrachen auseinander und schwebten von nun an in der aufgekommenen, Finsternis, die das Meer und den einst wunderschönen Sonnenuntergang in seiner Schwärze verschluckte. Lovino verlor den Halt, der Platz, auf dem er saß, löste sich in tausend kleine Stückchen auf, riss in herab in einen ewigen Abgrund, ohne jemals ein Ende zu erreichen.
Und die Lichtgestalt?

Obwohl sie einander die Hand entgegenstreckten, entfernten sie sich in dem Fall des besiegelten Verlustes. Und kaum blinzelte Lovino erneut mit den Augen, die Verzweiflung und Angst in sich trugen, war die Person bereits, wie Sandstaub vom Winde verweht worden und ließ ihn in seinem hoffnungslosen Untergang zurück.

~0~

Zwitschern.
Eine unkontrollierte, naturgegebene Melodie begrüßte den, glücklicherweise noch angenehm kühlen, Morgen.
Ein kleiner Zug Frischluft pfiff durch den leicht geöffneten Spalt des Hotelfensters und gab dem stickigen Zimmer wieder genug Atemluft.
Die Morgensonne wagte sich mit ihrem sanften Schein in das kleine Zimmerlein zu schleichen, malte dabei dem Mieter mit dem Licht ein warmes Muster auf das halbe Gesicht und seine Arme. Wieder zwitscherte ein Vogel und vom Gang außerhalb dieser einfachen vier Wände, ertönten laute Kinderstimmen, die jeden Leichtschläfer augenblicklich aus der Traumwelt rissen.

Lovino selbst lag bereits mit schwach geöffneten Augen im Bett, den Kopf noch vom Schlaf benebelt zur weiß verputzten Decke gerichtet. Etwas war eigenartig seit dem Zeitpunkt an dem Lovino seine Augen öffnete, ein leichtes Flügelflattern ließ seine Seele freier umherschweifen und beschenkte ihn mit grundlosen Glücksgefühlen, von denen Lovino nicht einmal wusste, ob er sie besaß.
Etwas war anders...
Weswegen fühlte er sich so leicht?
Weshalb kribbelte es in seiner Brust - in seinem gesamten Körper - als hätte er sich in eiskaltes, ihn rundum umarmendes Wasser gestürzt, das ihn äußerlich sowie innerlich erfasste und erfüllte?
Wieso schwelgte seine gebrochene Seele wie aus heiterem Himmel in Glückseligkeit?

Freude...
Seit wann war Lovino fähig diese Emotion so echt und wahr zu spüren? Und zwar nicht nur in seinem Kopf, sondern tatsächlich auch in seiner Seele und im tiefsten Kämmerlein seines jahrelangen, gefühlstauben Herzens?

Langsam zu Bewusstsein kommend sank sein linker Arm auf seine warme Stirn. Sofort spürte er die Sonnenstrahlen auf seiner halb geöffneten Handfläche und aus dem Augenwinkel betrachtete er den Abflug einiger schneeweißer Tauben. Seine Gedanken hafteten dennoch an der unbekannten, mysteriösen Empfindung, die in seinem Herzen leise herumtollte und wie eine winzige Kerze zu flackern begann.
Dieses Gefühl war noch so klein...aber es existierte, trug eine Bedeutung mit sich, die Lovino noch zu finden hatte.

Seine bernsteinfarbenen Iriden musterten einmal mehr gedankenverloren die Decke.

Von was hatte er nur geträumt?

Oder von wem...?

Langsam drehte er den Kopf in Richtung seiner, am Nachtkästchen liegenden Taschenuhr, schnappte sie sich mit einer Hand und öffnete sie. Es war gerade einmal halb acht, ihm blieben also noch knappe dreißig Minuten, bis er dazu verdonnert wurde, wieder nach unten zu gehen, um den vorletzten Kurstag über sich ergehen zu lassen.
Erleichtert schnaufte der Einundzwanzigjährige und legte die Uhr wieder zurück an ihren Platz. Er hielte es keinen Tag länger mit diesem stundenlangen Lernen und Zuhören aus, von Enricos dauerhafter Anwesenheit ganz zu schweigen. Auch, wenn es sich nur um eine Woche handelte, war diese penetrante Anwesenheit seines Arbeitgebers dezent anstrengend geworden. Sie mochten zwar neben der beruflichen Distanz auch zwischenmenschlich gut miteinander klarkommen, aber im Alltag wurde es einem nur zu sehr bewusst, dass beide aus unterschiedlichen, weit auseinanderliegenden Generationen stammten. Viel lieber wäre Lovino mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen unterwegs, allerdings blieb Isabella hierbei die einzige Option in ganz Rom, die er bereits besser kannte.

Isabella...
Lovinos Lippen formten sich zu einem schiefen Lächeln, als er daran zurückdachte.
Das kleine Rendezvous vom Vortag verlief anfangs doch so gut und dennoch endete es ganz anders als er es sich vorgestellt hatte. Seitdem er mit Antonio telefoniert hatte, schien es immer mehr so zu wirken, als sei die schöne Spanierin zwar interessiert an ihm, aber nicht auf die Art und Weise, wie Lovino es sich erhofft hatte.
Sie war charmant gewesen, zeigte sich sehr offen, lieb und freundlich, aber...

Leicht verletzt drehte sich Lovino auf die Seite und zog die Decke über seinen Kopf. Seine Augenbrauen zogen sich frustriert zusammen und aus dem unzufriedenen Lächeln wurde wieder sein standardmäßiger monotoner und abweisender Gesichtsausdruck.

...aber Isabella ging nie so richtig auf seine unterschwelligen Annäherungsversuche ein. Sie...war dann wohl doch nur freundschaftlich an ihm interessiert gewesen. Lovino merkte das erst im Laufe des späteren Abends und zog sich mehr zurück. Er wollte sich Isabella keinesfalls aufdrängen und respektierte sie mitsamt ihrer unausgesprochenen Abweisung.

Lovino presste die Lippen zusammen und unterdrückte jegliches aufkommende negative Gefühl, um einen Schwall an Tränen zu vermeiden.

Sein wievielter Korb war das bereits schon? Der sechste? Oder war es bereits der zehnte von - was wusste er schon - zehn Versuchen zu Lebzeiten? Bei der Anzahl hätte er bereits einen Rekord in seinem Heimatdorf aufgestellt und wären es echte, dingliche Körbe, hätte er bereits eine kleine Geldsumme als Trostpreis erhalten können.
Vielleicht...
Vielleicht war Lovino einfach nicht dazu gemacht, in einer Beziehung zu leben.
Vielleicht meinte sein Schicksal, er sei besser dran, alleine zu bleiben.
Vielleicht wollte Gott einfach, dass andere Menschen von seiner anstrengenden, jämmerlichen Existenz verschont blieben...

Allzu lange hielt man ihn ohnehin nicht aus. Es war womöglich besser so.

Einen leisen Schluchzer ausstoßend, riss er sich die Decke vom Leib und saß sich im Schneidersitz auf; den Blick auf das weiße Bettlaken gerichtet, das nach und nach durch stille, kreisförmige Flecken eine dunklere Farbe annahm.
Ach verdammt, jetzt heulte er wieder.
Er machte seinem Titel als "Heulsuse" alle Ehre...

Schnell wischte er sich über das Gesicht, ließ seine Tränen verschwinden und schniefte, ehe er halbherzig die beige Weste auf dem Boden beäugte, die es einfach nicht geschafft hatte, ordentlich in einer Ecke zu liegen. Stattdessen lag sie inmitten seines kleinen Kämmerchens und offenbarte einem sofort den Blick auf den zerknitterten Brief, den Lovino den gesamten Tag in der Tasche mit sich geschleppt hatte.
Stimmt ja, seine Freunde hatten ihm Briefe geschickt.

Um sich abzulenken, angelte er das unschöne Stück Papier vom Boden. Auch, wenn der Inhalt derselbe war wie am Vortag, las sich Lovino die kurzen Paragraphen seiner Freunde ein weiteres Mal durch und die schwere Last fiel endlich schrittweise von seinen müden Schultern, je mehr positive Worte ihn von seinem Leid kurzfristig erlösen konnten.

Emma, Michelle, Abel und Antonio...Was sie wohl in seiner Abwesenheit so trieben?

Lovino las weiter, beendete den Brief von Abel und Co. mit Zufriedenheit und seine Mundwinkel zuckten minimalst nach oben, als er Antonios Brief zum zweiten Mal überflog und direkt wieder mit der übertriebenen Dramatik in seinen Worten getroffen wurde. Antonio war so ein Idiot. Die Hälfte des Briefes bestand doch nur aus Fragen, wie es ihm ging und ob bei ihm alles in Ordnung war.
"Meine Fresse, der Bastard ist entweder einer von den Übervorsichtigen oder ein Dramatiker oder beides. "

Ohne es selbst zu bemerken, schlich sich ein winziges Lächeln auf sein Gesicht, als er Antonios Namen in der Schlussformel erblickte.

Doch da traf es Lovino plötzlich wie ein Blitz.
Ruckartig erhob er seinen Kopf, die Augen leicht geweitet.
Sein Herz weigerte sich zu schlagen, hielt für den Augenblick inne und schlug daraufhin mit leichtem Nachdruck gegen seinen Brustkorb.

Weswegen...
Weswegen kam ihm ein verschwommener, scherbenartiger Rückblick in den Sinn, der ihm gerade jetzt an den allmählich in Vergessenheit geratenen Traum denken ließ?
Was...hatte er geträumt?
Lovinos Erinnerungen lagen ihm wie ein Haufen durcheinandergeratener Scherben zu Füßen. Er kannte die Zusammenhänge nicht mehr, wusste nicht, was zuvor geschah oder was danach passierte. Dennoch...dennoch zeigten diese spiegelnden Scherben kleine Szenen auf. Und die Essenz aller surrealistischen Bilder, die ihn und seine Seele umgarnten, sie enthielt nicht mehr als eine einzige Antwort, die Lovino einfach nicht annehmen konnte, egal ob er ihr bewusst oder unbewusst begegnete.
Diese Antwort - dieser Hinweis - prallte an seinen selbst erbauten Mauern ab und wartete wie ein gefallenes Blatt im Herbst.

Aber weswegen löste das Lesen von Antonios Namen augenblicklich diese Erinnerung aus?
Ein Kribbeln überraschte ihn an seinen Schultern und wanderte über seine Seiten; auch seine Hände blieben nicht verschont. - Er spürte einmal mehr die Zärtlichkeit, die ihm im Traum widerfahren war und ihn auch im Nachspiel des Traumes mit Leichtigkeit beglückt hatte.

Hatte er denn eventuell von Antonio geträumt?
Wieder kam ihm das Lächeln der anonym gebliebenen Traumgestalt unter, kurz darauf folgte eine lebendige Erinnerung an Antonio und dem bescheuerten Grinsen, das er der ganzen Welt zeigte.
Lovino schüttelte sofort den Kopf, zog die Augenbrauen ärgerlich zusammen, faltete beide Briefe seiner Freunde und schmiss sie mit lockerer Handbewegung und Schwung zur Seite.
Oh Mann, in welche Art von Scheiße hatte Lovino sich nur reingeritten?
Das war doch einfach nur peinlich!
Sicher hatte er sich das nur eingebildet und die Traumgestalt war nichts weiter als eine kräftigere junge Frau.
"Ich meine...das...das wäre doch total krank, wenn ich über einen Deppen wie ihn träumen würde. Er ist ja nicht mal mein Typ. Angefangen damit, dass er ein Mann ist...", redete sich der junge Italiener ein, stritt seine unangenehmen Gedanken sofort ab, bevor sie überhaupt die Chance hatten, sich mitzuteilen.

Bestimmt passierte das anderen Männern genauso. Jeder träumte hin und wieder irgendetwas Unrealistisches, gar Dummes. Er hatte rein gar nichts zu befürchten.

Aber warum zerbrach er sich dann so sehr den Kopf darüber?

Lovino könnte sich im Moment selbst in der Luft zerreißen! Er musste aufhören, sich für Nichts und wieder Nichts in etwas hineinzusteigern. Das war doch einfach nur bescheuert. Ein dumpfer Schlag mit der Faust auf seinen eigenen Kopf genügte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen und er schaute - sich zur Ablenkung zwingend - erneut auf die Taschenuhr.

"Merda! Verfluchte Scheiße!" Lovino hatte übersehen, dass ihm gerade einmal fünf Minuten zur Verfügung standen, sich fertig zu machen, um nicht wie der größte Penner mit monatelangem Schlafentzug herumzulatschen. Vom Stress gepeinigt sprang er also aus dem Bett heraus, zog sich in einer Geschwindigkeit, die ihm selbst noch unbekannt war, um, beließ seine Morgenroutine bei einer raschen Katzenwäsche und stürmte kurz darauf aus dem Zimmer heraus und anschließend die Treppe hinunter zum Rezeptionsbereich, wo neben Enrico noch einige andere Mieter herumlungerten.

Und wie Lovino unschwer erkennen konnte, hatte Enrico einmal mehr einen Brief in der Hand, den er, trotz des eigentlichen Stresses, den er haben müsste, geduldig mit der Lesebrille, deren Gläser so dick waren, dass sogar der Boden einer Pizza ein dünneres Ausmaß hätte, Wort für Wort analysierte. Aber als er seinen Jungspund von Mitarbeiter aus dem Augenwinkel bemerkte, senkte er das Papier einige Zentimeter und sah stattdessen zu Lovino.

"Du scheinst wohl sehr gut geschlafen zu haben, Junge, du kommst sehr knapp." Ein herzhaftes Lachen kam aus dem Mund des optimistischen Mannes, der die Spontanität und tendierende Unpünktlichkeit seines Auszubildenden wohl nicht allzu schlimm sah.

Lovinos Augenbrauen zuckten für einen Moment zusammen, ein eher aufgezwungenes, falsches Lächeln zeigte sich auf seiner Visage. "Ja. Gestern war auch ein langer Tag."
Das Schicksal meinte es echt nicht gut mit ihm.
Natürlich musste der Alte genau an diesem Tag und genau in diesem Moment diese Aussage machen. Gerade als Lovino dabei war, zu vergessen.

"Ach ja, stimmt. Na, dann hoffe ich doch, dass dein Rendezvous mit dem Mädel ein Erfolg war." Mit einem verschmitzten Lächeln musterte er den jungen Erwachsenen vor sich und schien selbst vergessen zu haben, dass er sich eventuell mit ihm auf den Weg machen müsste, um rechtzeitig bei der Universität anzukommen. Aber für nette Gespräche hätte er immer Zeit. Vielleicht zeigte gerade dieses verlorene Zeitgefühl wieder, dass es bald Zeit für seine Pension war.

"Hätte ich ehrlich gesagt auch gehofft", gab Lovino dem Alten trocken zurück, stemmte den rechten Arm in die Hüfte und legte den Kopf schief, den Blick wieder durch die Rezeption schweifend. Dass ihn der indirekte Korb Isabellas gekränkt hatte, sollte keiner erfahren.

"Also ist sie nicht wirklich-", Enrico richtete seine Brille und rümpfte die Nase, "Oh, na dann. Es gibt noch viele andere Fische im Meer. Du wirst schon die Richtige finden. Das sag ich meiner Chiara auch immer. Aber sie meint ja, sie braucht keinen Mann, um glücklich zu sein."

Man erkannte den Frust in seiner Tonmelodie und sein Fokus schweifte von Lovino ab hin zu dem Zettel in seiner Hand. Lovino interessierte sich nicht wirklich dafür, aber da ihm auf dem Kuvert auf dem niedrigen Couchtisch der Name Chiara entgegenblickte, war es unschwer herauszufinden, dass der alte Mann wohl Post von seiner Tochter bekommen hatte. Anscheinend gab es aus der Sicht Enricos eher unerfreuliche Nachrichten. Lovino verfluchte sich bereits für seine Neugier für Lästereien und Tratsch, als er anfing genauer hinzuhören.

"Aber was weiß ich. Die Jugend von heute ist einfach starrköpfig geworden und es gibt nichts als Beschwerden", der Alte stützte mit der Handfläche seine Stirn, "Vielleicht bin ich aber auch einfach anders aufgewachsen und verstehe es deshalb nicht."

Lovino verstand Bahnhof. Über was führte sein Chef wieder Selbstgespräche? Wie peinlich...
Doch warte. Jetzt sah er zu Lovino! Er musste sich zusammenreißen, nicht dauerhaft so zu wirken, als sei ihm absolut alles scheißegal, wenn sein Boss mit ihm redete. Ansonsten bekam er sicher nie eine Gehaltserhöhung!

"Sag mal, Junge, bin ich altmodisch?" Der ältere Herr stand von der Couch auf, faltete das Briefpapier viermal zusammen und steckte es zurück in das beiliegende Kuvert.

Währenddessen war Lovino einzig und allein in Verwirrung und Perplexität gefangen. Von was laberte der alte Sack denn schon wieder? "Hä? Ich check die Frage gerade nicht."

Enrico schien zu bemerken, dass diese eigenartige Frage seinen jungen Mitarbeiter irritierte. Mit dem Alter wurde er einfach schon viel zu unprofessionell und vergaß auf die Distanz, die er beibehalten sollte. "Ach...schon gut. Das war ein kleiner, lauter Gedankensturz."

Aber Lovino grübelte eine Weile und schlussfolgerte simpel anhand des Briefes in der Hand seines Vorgesetzten. "Hat Ihre Tochter das etwa geschrieben?"

Ein Seufzen entgegnete ihm, als sich die beiden langsam in Bewegung setzten und sich allmählich auf den - glücklicherweise - nicht ganz so langen Weg zur Universität machten. Gerade klackte es hinter ihnen und die Holztür fiel zurück in ihr kaltes Schloss. Dann antwortete Enrico endlich. "Das auch", ein forciertes Lachen kam anstelle seines typischen herzhaften Gelächters, "Ich habe als Vater versagt."

Der jüngere Mann schwieg für den Moment, als sie die Straße überquerten und den Gehsteig erreichten, nichtsdestotrotz hafteten einige Gedanken in seinem Kopf, die er lieber unausgesprochen ließ. Denn ganz ehrlich: Was brachte ihm diese Information? Genau. Nichts. Lovino hatte rein gar nichts mit dem Privatleben des alten Sacks zu tun, genau so wenig ging es ihn an, was Lovino so trieb. Was war aus dem Arbeitsverhältnis geworden? Waren sie nun ihre gegenseitigen Therapeuten? Was war das wieder für ein Scheiß? Leider musste sich Lovino zum Wohle seines guten Rufs geschlagen geben.
"Wieso das denn?"

"Naja, Chiara und ich erwischen uns oft am falschen Fuß. Jetzt hat sie mir während meiner Abwesenheit einen Beschwerdebrief zukommen lassen, weil sie es mir anscheinend nicht selbst ins Gesicht sagen konnte..." Man merkte den seelischen Schmerz des Vaters an, sobald man seine Mimik zu Gesicht bekam. Was hatte die Tochter nur geschrieben, was sie in Person nicht übers Herz gebracht hatte und stattdessen einen Brief verfassen musste? Enrico wirkte geradezu so, als befände er sich in einem Zwiespalt. Es musste womöglich etwas sehr Persönliches sein. "Mir bleibt wohl nichts Anderes übrig, als die Realität zu akzeptieren. Dann ist es eben so, dass sie etwas anders liebt."

Lovino hörte sofort auf und spitzte seine Ohren, als wäre ihm geradewegs ein Schlagwort gegen den Kopf geschmissen worden.

Enrico führte sein Selbstgespräch weiter fort und beachtete Lovinos Präsenz gar nicht mehr. Er ließ seine Gedanken frei herumschweifen. "Ich könnte sie ja nie verstoßen deswegen. Was wäre ich dann für ein Vater?" Der Brillenträger lächelte schmerzlich, als sie das beigefarbene Tor zur Universität endlich durchquerten. Lovino freute sich insgeheim über den Schatten, den die Bäume im Hof spendeten. "Allerdings mache ich mir Sorgen, was aus ihr wird. Es ist nicht sicher, dass ein jeder sie akzeptieren wird. Ich bete dafür, dass ihr niemand etwas antun wird, deswegen. Man hört das Lästern doch überall."

Lovinos Herz sank ein wenig herab und verwandelte sich in träges Blei. Enrico hatte recht. Lästern würde man überall. Das Gerücht über Chiaras und Acelyas Beziehung hatte sich herumgesprochen und die Bilder, die er noch von dem einen Abend in der Bar im Kopf hatte, bezeugten seine Vermutung, dass Enrico gerade versuchte darüber zu reden, dass seine Tochter etwas mit einer Frau am Laufen hatte. Ob er ihm davon erzählen sollte?
Lovino beäugte den besorgten Vater für einen Moment, ehe er den Hof nach dem richtigen Eingang zum Vortragssaal musterte.
Nein. Das würde nur unnötig Ängste schüren, wenn er davon erzählte.

Doch dann stoppte der Alte plötzlich in seinem Redefluss, schloss prompt die Augen und schüttelte beschwichtigend den Kopf. Er hatte wohl bemerkt, dass er sich in seinen Gedanken verloren hatte und laute Selbstgespräche führte. "Entschuldige diesen Ausbruch von mir, Junge. Ich habe gar nicht bemerkt, wie lange ich schon vor mich hin plaudere. Bremse mich das nächste Mal bitte, ich habe den Hang, wie ein Wasserfall zu reden."

"Uh..." Nicht wissend, was man auf eine Antwort dergleichen entgegnen sollte, brachte Lovino nichts weiter als ein verwirrtes "Okay" heraus, als er sich endlich im Hörsaal auf seinen Platz fallen ließ und seinen, an den Ecken etwas eingeknickten, Block aus seiner Tasche fischte.

Doch auch als der Professor einige Sitzreihen vor ihnen den letzten Kurstag mit einer Begrüßung eröffnete, war die Konzentration bei Lovino nicht mehr vorhanden. Sein Kopf rotierte einzig und allein um die Worte, die Enrico von sich gegeben hatte.
Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie real eine Beziehung zwischen Menschen des gleichen Geschlechts war. Ihm war zwar schon im Vorhinein klar, dass sie existierte, aber es spielte sich für ihn sein Leben lang nur im Hinterkopf ab, als eine Tatsache, die eben existierte. Sogar als er den Verdacht hatte, dass Emma und Michelle etwas miteinander hatten, boxte sich dieser eine Aspekt der menschlichen Existenz nicht in sein volles Bewusstsein.
Aber jetzt...Jetzt öffnete eine unbekannte, innere Kraft seine Augen und zeigte ihm, dass die Realität tatsächlich mehr als nur eine Option zu bieten hatte.

Doch halt.

Warum zerbrach er sich den Kopf über so etwas Banales, das ihn doch nicht einmal selbst betraf?

Lovino musste verrückt geworden sein...Außer...

Sein Grübeln war offensichtlich von seiner Mimik abzulesen, als er den Blick leer zur Decke hinauf richtete.

Ach, wahrscheinlich kamen diese Einfälle, weil er sich um Michelle, Emma und Antonio sorgte. Sie waren doch seine Freunde, natürlich würde er bei Enricos Sorge um seine Tochter parallel dazu über seine potentiell betroffenen Freunde nachdenken. Es war eine natürliche Reaktion als Freund.

Dennoch stellte sich ihm die Frage, weswegen ihn tausende Gedanken hin und her rissen und ihm die Zeit stahlen, sich tatsächlich mit einem Aspekt auseinanderzusetzen, ehe sich ein neuer dazwischen schmuggelte. Alles preschte wie ein Sturm auf ihn ein und sein gesamtes Weltbild stand mit einem Mal auf dem Kopf und endete in einem einzigen Chaos.

Enrico akzeptierte es also, dass seine Tochter nicht hetero war.

Lovino schaute verloren im Saal herum und suchte sich einen Punkt, um sich darauf zu fokussieren. Was stresste ihn nur so?

Das Mädchen hatte Glück. Wäre sein Nonno an Enricos Stelle, könnte er sich nur schwer vorstellen, dass er...sie! Dass sie so viel Glück und Akzeptanz in der Familie bekommen hätte.

Lovino tappte unruhig mit dem Stiftende gegen seinen Block.

Was war nochmal mit seinem Traum diese Nacht?

Oje, was dachte er schon wieder?

Aber wirklich.
Was hatte er nochmal geträumt?
Irgendetwas war da...
Aber er kann sich nicht mehr daran erinnern.

Lovino! Reiß dich zusammen!
Du bist mitten in einem Kurs!
Schimpfte er sich selbst zu.

Was würde Nonno eigentlich von seinen Freunden halten?
Fast jeder von ihnen war nicht besonders...hetero.

Lovino! Schau nach vorne!
Wieder schimpfte er in Gedanken mit sich selbst,
aber sein Zwiespalt machte keinen Halt mehr.

Was war nur mit ihm los?!
Was stresste und quälte ihn nur so?!

Lovino knallte mit der Stirn nach vorne auf sein Pult, hielt sich die Ohren zu und bewegte seine Lippen, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben.
"Scheißdreck, ich will grad einfach nur sterben."

~0~

"Ich fass es immer noch nicht, wie sie es geschafft hat, in einem Wald zu landen. Sie hätte einfach nur gerade aus gehen müssen. Es gab sogar einen Gehsteig, aber Sophia hat echt 'n Talent darin, das Unmögliche möglich zu machen", erzählte Isabella emotionsgeladen vor sich hin. Der Duft von dampfendem, heißen Kaffee stieg ihr in die Nase und der süchtig machende Geschmack von Schokolade haftete an ihrer Zunge, auch Minuten nachdem sie ihr Tortenstück verdrückt hatte. Zu ihrer Rechten saß Lovino, der verglichen zum Vortag alles andere als gesprächig wirkte. Isabella las sein Gemüt von seiner Visage ab: Seine Augen strahlten den Kummer offensichtlicher aus als je zuvor und dunkle Schatten lagen unter ihnen. Gedankenlos und zugleich von einer Welle von inneren Einwänden überflutet, rührte er schon seit einigen Minuten verloren in seinem Kaffee herum, dabei müsste sich der Zucker schon lange aufgelöst haben. Zunächst vermutete die nette Spanierin, dass Lovino vom gestrigen Abend etwas Negatives mit in die Gegenwart geschleppt hatte, doch wenn dem so wäre, hätte er sich sicherlich nicht dazu entschlossen, sich einmal mehr mit ihr auf freundschaftlicher Basis zu treffen, um noch ein bisschen zu plaudern, bevor er zurück in seine kleine Heimatstadt fuhr. Nein, es musste ihn etwas Anderes beschäftigen. Dabei war sich Isabella sicher denn je. Wüsste sie nur, was genau...
Wenn sie ehrlich mit sich war, machte sie sich tatsächlich ein wenig Sorgen, um den einst impulsiven Italiener.

Doch gerade als sie ihn darauf ansprechen wollte, kam er wieder zur Besinnung, blinzelte einige Male verwirrt und ein sanfter roter Schleier legte sich vor Scham auf seine Wangen, als er bemerkte, dass er Isabella nicht zugehört hatte. "Oh scheiße", er ließ endlich vom silbrig schimmernden Löffel ab und richtete seinen Blick auf die junge Dame neben ihm, "entschuldige, Isa, das war nicht mit Absicht. Ich war mit den Gedanken ganz wo anders...Kannst du das nochmal erzählen?"

"Schon gut, war nicht so wichtig." Bitter lächelnd sah sie die braune, wohlriechende, dampfende Brühe in ihrer Porzellantasse an, schwenkte sie ein wenig herum, bis sie endlich einen großzügigen Schluck davon nahm. "Aber eine Frage habe ich an dich, Lovino."

"Und die wäre?" Lovino schämte sich weiterhin für sein Verhalten. Es wunderte ihn mittlerweile nicht mehr, weswegen er dauerhaft Körbe wie ein Weltmeister einheimste. Dennoch bemühte er sich Isabella gegenüber freundlich zu bleiben - er war nicht einmal böse auf sie, dass sie auf die freundschaftliche Distanz zu ihm beharrte. Ihm war es ebenso recht, mit ihr befreundet zu sein, auch wenn ein kleiner Teil von seiner Seele wieder von Verlustgefühlen geplagt werden würde, bis er endlich über seine Abweisung hinwegkäme.

"Über was denkst du so angestrengt nach? Du bist ganz anders als in den letzten Tagen...", erkundigte sich die hübsche Spanierin zunächst vorsichtig, einen Funken Sorge in ihren Augen tragend. Lovino erkannte ihre Bedenken, fühlte sich direkt katastrophal, sie damit belastet zu haben und wich daher automatisch ihren Blicken aus, um nicht in einer neuen Heulsession zu enden. Vor allem weigerte er sich, vor ihr zu weinen oder generell am helllichten Tage in der Öffentlichkeit bei einer Außenterrasse eines niedlichen Cafés. Angespannt und seine Wörter sammelnd, schaute der Einundzwanzigjährige zu der Handvoll Amaryllis, die in der Ecke der kleinen, bogenförmig eingezäunten Terrasse mit den herabhängenden, sattgrünen Hängepflanzen in einer schwarz und terrafarbenen Tonvase vom Sonnenlicht erleuchtet wurde.

"Nichts Wichtiges", murmelte er zurück, wohl wissend, dass er ihr damit mitten ins Gesicht log.

"Wenn es nichts Wichtiges ist, warum rührst du schon seit Minuten in deinem Kaffee herum und schaust in die Leere?" Schon wieder erntete Lovino besorgte Blicke. Er würde gerne ehrlich sein, aber er wusste selbst nicht, was gerade in ihm vorging.
In seiner Seele existierte nichts als Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Leere. Wenn er sich selbst vor sich stehen hätte, würden ihm bereits die Worte fehlen. Es gab einfach keine Möglichkeit zu beschreiben, was ihn am heutigen Tage zu so einem atypischen Verhalten führte. Sein Kopf war wie mit Watte gestopft, so leicht und vernebelt wie der Morgen eines Novembertages. Egal was er auch wahrnahm, er vergaß seine Eindrücke keine zwei Sekunden später und von seiner fehlenden Konzentration brauchte man nicht reden. Nichts schien allzu lange in seinem Kopf haften zu wollen.
All das geschah seit dem Zeitpunkt, in dem...

"Egal, was dich auch bedrückt, Lovino, ich bin mir sicher, dass es gut ausgehen wird", Isabella setzte einfach fort und hoffte, dass ihre lieb gemeinten Worte Lovino erreichten, "und du wirst glücklich werden, auch wenn der Weg vielleicht schwierig erscheint."

Der Angesprochene sah verblüfft zu Isabella auf und er flehte gar in seiner Seele, dass das schöne Mädchen einfach recht behielt. Glücklichsein war ohnehin ein Fremdwort für Lovino.
"Danke, glaub ich...", Lovino raufte sich besiegt die Haare, "...ach, ich steigere mich wie immer in nichts und wieder nichts in etwas hinein. Tut mir leid, wenn ich die Stimmung wieder zerstört habe. So wie gestern."

"Ist schon in Ordnung. Wie gesagt, ich helfe und höre dir gerne zu." Da setzte Isabella wieder ihr typisches Grinsen auf, worauf Lovino ein kleines bisschen angesteckt wurde. - Ein klitzekleines Lächeln malte sich auf sein erschöpftes Gesicht, das Isabella sofort glücklich stimmte. Zumindest hätte ihr guter Zuspruch wenigstens ein bisschen Trost spenden können.
Doch nun zeigte sich ihre Neugier als nur noch nervtötender...Wie gern hätte sie gewusst, was in Lovino vorging.

Wenig wusste sie, dass sich Lovino insgeheim selbst hinterfragte.
Dass ihn die Sache mit dem Traum und dem Gespräch mit Enrico immens prägte.
Dass ihm abertausende Fragen durch den Kopf zischten und dabei sofort wieder in Vergessenheit gerieten.
Dass ihm jede noch so kleine Emotion fremd, mechanisch und unbekannt vorkam, selbst die, die er alltäglich verspürte.
Dass er sich von sich selbst getrennt verspürte. - Er konnte sich mit seinem gesamten Dasein von außen betrachten, als wäre er sich selbst ein Fremder.
Lovino fiel.
Er fiel und fiel und fiel immer weiter.
Und egal wie sehr er sich auch wehrte, er erreichte nie die rettende Klippe - die rettende, warme Hand - die ihn aus dem selbstgeschaffenen, finsteren Schlund der Verzweiflung und Wirrheit zog.
Verlor er sich selbst?
Gab es überhaupt noch Hoffnung?
Lovino wusste sich nicht zu helfen.
Das Einzige, was er sich wünschte, war ein sofortiges, schmerzloses Ende dieser sich anbahnenden Pein.

~0~

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