Kapitel 15.5 - Spanische Romanze
Helles Klingeln hallte durch die wohlriechende, gut besuchte Stube. Der weiße Dampf vieler servierter Kaffeetassen strömte bereits beim bloßen Zusehen ein wohliges, warmes Gefühl aus und zusammen mit der weinrötlich schimmernden Tapete, die sich über die erste Räumlichkeit erstreckte, fühlte man sich automatisch wie in eine warme Decke an einem eisigen Wintertag eingekuschelt. Natürlich gelassene Rundbögen umfassten die hohen Fenster mit den schwarzen Rahmen und der kuppelähnlichen Spitze, die durch das warm einfallende Sonnenlicht goldene Lichterspiele an den Parkettboden, die Tische und schlussendlich auch auf die Wände warfen, die einem fast das Gefühl gaben, in einem Palast auf dem Landgut zu stehen.
Zahlreiche Gemälde präsentierten sich in feinst-säuberlicher Anordnung an den hintersten Wänden, auch Textausschnitte aus Büchern, Urkunden, Zeitungen sowie Kompositionen sammelten sich an wiederum anderen Stellen des Cafés, die mit helleren Farben ausgearbeitet waren. Von weiter weg entdeckte Lovino sogar eine atemberaubend geschickt geschnitzte Statue aus Holz, die nahe dem rundlichen Durchgang auf einem Marmorsockel thronte und mit grinsendem Gesicht alle möglichen Gäste willkommen hieß.
Im ersten Moment dachte Lovino, er sei aus Versehen in ein Atelier eingetreten, doch das Geplapper, Getuschel, Gelächter und der Geruch von Süßspeisen und gerösteten Kaffeebohnen bestätigten, dass es sich hierbei eher um ein Kaffeehaus handelte, das weit außerhalb seiner Liga war.
Doch ein einfacher, schlichter Kaffee würde doch nicht die Welt kosten...oder? Gab es hier zufällig einen Kaffee zum Mitnehmen? Dann bräuchte er nicht die paar Extra-Lira für den gedeckten Tisch bezahlen...
"Caffè Greco", las er nuschelnd von den ausgehängten, vergrößerten Speisekarten ab und er sog augenblicklich die Luft scharf ein, "Oh Mann, dass ist dieses eine Kaffeehaus, wo die ganzen abgehobenen Künstler, Literaturheinis und deutschen Touristen abhängen..."
Isabella hob verwirrt eine Augenbraue. Beschwerte sich gerade derselbe Typ über Künstler, der ihr die meisterhafte Skizze von ihr geschenkt hatte? "Ich dachte, du magst Kunst?"
Lovino fühlte sich auf frischer Tat ertappt und lief augenblicklich rot an. "Ja, aber die sind hier alle so...abgehoben...", sich selbst in Grund und Boden fluchend, bemühte er sich dennoch um eine offene Mimik. "Egal, lassen wir das, welchen Kaffee willst du? Ich geh sonst schnell bestellen. Die hier haben zum Glück auch was zum Mitnehmen."
"Ein ganz normaler Caffè. Muss nichts allzu Spezielles sein." Isabella gab sich eher nüchtern preis; ihr Fokus oblag ganz den filigran gemalten Bildern, die den Eingangsbereich verschönerten, als ihr plötzlich etwas ins Auge stach. "Schau mal, Lovino, der hat den gleichen Nachnamen wie du."
"Hä?" Verwundert drehte sich der junge Italiener zu ihr und musterte die drei quadratischen Ölgemälde.
Dieser Malstil...den hatte er doch schon einmal wo gesehen...
Einen Moment mal!
Lovino fiel die Kinnlade knapp herunter. Die Verwunderung, aber auch der giftige Neid spiegelten sich in seiner Stimmlage wider. "Die sind...Die sind von Feli?!"
Ungläubig las er sich noch einmal die kleingedruckte Anschrift auf der kleinen Karte durch. Tatsächlich. Das waren einige Bilder seines Bruders...Aber warum wurden die hier ausgestellt? Er war weder fertig mit seinem Kunststudium noch hielt er sich in Rom auf!
Als ob dieses verdammte Wunderkind wieder alles in den Arsch geschoben bekam, weil er ja so perfekt war...
"Tief einatmen", sprach er sich besänftigend in Gedanken zu und brachte seinen inneren Schweinehund endlich zum Schweigen, "Sei kein Arschloch und freu dich einfach mal für deinen lieben, kleinen Bruder."
...der jetzt schon mehr erreicht hatte als er und bestimmt wieder von jedem gelobt und hochgepriesen wurde...
Konnte Lovino nicht auch ein einziges Mal für etwas in Erinnerung behalten werden? Ihm war sogar egal, weswegen man sich an ihn erinnern sollte. Hauptsache, er würde nie in Vergessenheit geraten.
Dennoch...seit dem letzten Mal als er Felicianos Bilder sah, hatte dieser sich stark verbessert. Das gewisse Etwas, das seine Gemälde ausmachte, hatte sich aber trotz der Steigerung seiner Fähigkeiten erhalten. Das musste Lovino wohl oder übel zugeben.
"Feli? Ist das nicht dein Bruder?", Isabella lächelte ihm mit fragendem Blick zu und ein paar ihrer schokoladenbraunen Locken fielen ihr ins Gesicht, "Wow, das Talent scheint bei euch wirklich in der Familie zu liegen. Ihr beide malt fantastisch."
Lovino schaute verlegen zur Seite.
Das taten sie vielleicht. Vielleicht steckte in beiden ein künstlerisches Talent.
Aber selbst, wenn...Lovino war nicht der Beste. Er war lediglich die Nummer zwei. Sie beide waren gut, aber Feliciano war besser. Er war immer der Bessere...Gab es etwas, das Lovino - und zwar nur Lovino - gut konnte?
Etwas, wo er allein sein Talent hatte?
Ein Talent, das er mit niemandem in seiner Familie teilen musste?
Etwas...irgendetwas, das ihn einzigartig machte und nicht zu einer unfreundlichen Kopie seines Bruders?
Wenn ihm Lob zuteilwurde...dann stand es immer in Verbindung mit Feliciano und er musste es sich teilen.
Aber Lovino wollte eigenes Lob.
Lob, das allein ihm zustand!
~0~
"Boah, das ist voll gut, Lovino! Aber wirklich jetzt, du solltest Koch werden!"
~0~
Lovinos linkes Augenlid begann zu zucken, als ihm schließlich die Stimme und das Lob seines idiotischen Freundes in den Kopf schoss.
Dieser Bastard hatte keine Berechtigung dazu in einem Moment wie diesem in seinem Gehirn herumzuspuken, geschweige denn durfte er das überhaupt!
Kaum war Lovino einmal für einige Tage weiter weg, überfielen ihn Antonios Kommentare wie ein plötzlicher Tsunami in den unmöglichsten Augenblicken!
Um keine allzu lange peinliche Stille zwischen sich und Isabella aufrecht zu erhalten, warf er ein einfaches, spontanes "Danke" in die Runde und ging dann anschließend nach einer kurzen Mitteilung an Isabella Richtung Theke, um endlich den Kaffee zu holen.
Lovino hatte Glück. Es war lediglich ein Kunde vor ihm, allerdings schien dieser länger als jeder normale Mensch zu brauchen, was dem ungeduldigen Italiener sehr missfiel. Er hasste es, lange warten zu müssen!
Was tratschte dieser breit gebaute, blonde Typ vor ihm so lange? Eine Bestellung brauchte nie im Leben so lange!
"Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Ihnen die Bilder so gut gefallen und sie auch ausgestellt werden. Für Feli...Ich meine, für Herr Vargas, ist es wirklich eine große Ehre und er wird mit Freuden der Finissage morgen Abend beiwohnen."
Hatte der Typ gerade tatsächlich beinahe "Feliciano" gesagt?!
Kannte er ihn etwa?
Lovino wusste, dass Belauschen nicht gerade höflich war, aber das war ihm momentan mehr als egal...Was laberte dieser Bastard mit dem grauenvoll starken deutschen Akzent überhaupt? Sein Italienisch klang viel zu hart und unangenehm in den Ohren.
Der Arbeiter an der Theke machte allerdings auch keine Anstalten, sich um andere Kunden zu kümmern...Er ließ sich auf dieses dumme Gespräch ein...
"Das freut uns alle sehr, Herr Beilschmidt. Es ist uns eine Ehre, jungen Talenten ebenfalls eine Zeit lang die Chance zu geben, die Aufmerksamkeit der Masse zu erlangen. Herrn Vargas' Bilder sind für sein zartes Alter sehr beachtenswert", der Mitarbeiter warf einen kurzen Blick auf die anderen Bilder in diesem Künstlercafé, "Wie geht es Ihnen bei Ihrem Literaturstudium?"
Schon wieder ging es von vorne los...Sein Bruder heimste sogar in Rom den Ruhm ein und...
Oh Gott, der Typ war noch dazu so ein hochgestochener Literaturheini, der ihm wahrscheinlich stundenlang einen Vortrag über Antithesen, Klimax, Onomatopoesie, Präpositionen und dem ganzen Scheiß erzählen könnte.
Lovino atmete scharf ein.
"Nein", sagte er selbstbestimmt zu sich selbst, "Keine Vorurteile. Ich habe heute keine Vorurteile."
Dennoch beugte sich der sonst so antisoziale Italiener seiner ungebändigten Ungeduld und mischte sich unhöflich und ohne Skrupel in den Dialog der beiden Herren ein.
"Kann ich hier vielleicht auch mal was bestellen?"
***
Das Licht der Sonne schwand. Dunkelheit legte sich wie eine dicke Decke über diesen Teil der Welt; tauchte ihn in eine beruhigende Stille, eine Ruhe, nach der sich Mensch und Tier sehnte. Die Straßenlaternen warfen honiggelbes Licht auf die Straßen und setzten alles daran, um mit den Sternen am Himmel mitzuhalten. Mit dem Licht der Laternen begann auch die Zeit der nervigen Mücken und Motten, die sich wie wild um den hellen Schein sammelten und wahnsinnig herumschwirrten. Aber auch Positives begleitete die nun angebrochene Tageszeit.
Die brodelnd heißen Temperaturen des Tages waren endlich abgeklungen und man konnte endlich sorglos und ohne Gefahr, einem Hitzeschlag zu erliegen, außerhalb der eigenen vier Wände herumgeistern. Wie Lovino es sich erwartete, war Rom nachts genau so aktiv wie unter tags. Trotz der späten Uhrzeit befanden sich noch genügend Bürgerinnen und Bürger auf den ewigen Straßen, die meisten drehten noch vor Ladenschluss eine letzte Runde durch das Einkaufsviertel oder gingen mit ihrem Hund spazieren. Die kleinsten Kinder ruhten bereits huckepack auf dem Rücken des Vaters, schliefen friedlich und träumten von den Abenteuern, die der nächste Tag wohl bringen mochte.
Lovino sah zum Himmel hinauf, das schwache Licht des Mondes lachte ihm ins Gesicht. Neben ihm spazierte Isabella, die sich ihr leichtes Jäckchen zuzog, um sich nicht zu verkühlen. Sie schien zufrieden zu sein; zumindest sähe man ihr keinerlei Missgunst oder Unzufriedenheit an. Lovino schien einen guten Eindruck gemacht zu haben.
Perfekt!
Lovinos Herz machte einen Satz vor Freude und Hoffnung beflügelte ihn auf jedem vollzogenen Schritt!
Vielleicht hatte Lovino sogar genug Glück und Geschick auf seiner Seite, um sich Isabella anzunähern...
Die hübsche Spanierin entsprach immerhin all seinen Ansprüchen, von denen er nur träumen konnte: Sie war lieb. Sie war optimistisch und geduldig noch dazu. Sie nahm ihm seine herausrutschenden Kraftausdrücke und seine Ungeduld nicht zu schwer. Ihr Lächeln war bezaubernd, ebenso wie ihre strahlend smaragdgrünen Augen und ihre sanften, schokoladenbraunen Locken. Sie war etwas größer als er, aber das störte ihn keineswegs.
Lovino war sich sicher...Er wollte eine ernsthafte Beziehung führen. Doch...obwohl er bisher sehr taktisch und gewissenhaft vorgehen konnte...Wie fragte man eine Person am besten, ob sie mit einem ausging? Lovino hatte das noch nie gemacht! Jemandem Komplimente an den Kopf zu schmeißen, sich großzügig und zuvorkommend zu zeigen war eine Sache, aber nach etwas derartig Wichtigem zu fragen...?
Da wurde es Lovino zugegebenermaßen angst und bange und sein Selbstbewusstsein sank automatisch drastisch herab.
"Ich brauche Hilfe...Von irgendwem, der schonmal Erfahrung damit hatte... Auch wenn das scheiße peinlich ist!", grübelte Lovino vor sich hin, während er nervös mit seinen Fingern herumspielte.
Aber wen sollte er fragen?
"Hast du heute Morgen die Zeitung gelesen? Da war wieder etwas von deiner Stadt dabei!"
Isabella zerbrach einmal mehr die gläserne Wand seiner Gedankenwelt mit einer spontanen, kontextlosen Frage.
"Huh?", Lovino schämte sich zutiefst, als er realisierte, dass er einmal mehr geistig abgedriftet war, anstatt aufmerksam zu bleiben, "Nein, bin nicht dazu gekommen..."
"Ach so", verwundert riss die junge Frau die Augen auf. Sie hätte wetten können, dass ihr kleiner Begleiter etwas mitbekommen hatte. "Der Typ, den sie letztens festgenommen haben, hat gestanden, dass er für jemand anderes arbeitet. Allerdings wüsste er selbst nicht, was das Ziel seiner Auftraggeber ist. Er wüsste lediglich, dass er durch das Stehlen und örtliche Verkaufen von Schmuck die Unkosten seiner Auftraggeber deckte und von dem erbeuteten Geld einen anständigen Anteil erbeutete."
Stehlen und anschließend örtliches Verkaufen, hm?
Lovino warf einen knappen Blick auf die kleine Brosche, die er wie eine Anstecknadel auf seinem Gilet trug.
Er wettete darum, dass genau dieses Szenario mit seiner Brosche geschehen war. Bestimmt war gerade dieser dreckige Dieb dafür zuständig gewesen, dass sein Familienschmuckstück auf einmal tagelang verschwand und dann auf dem Markt landete.
All dieser Mist für unbekannte Auftraggeber und deren Finanzen? Es konnte doch nicht möglich sein, dass jeder einzelne Kriminalfall der Kleinstadt auf eine einzelne, weit verzweigte Ursache zurückzuführen war. Es gab keinerlei Verbrechen außer dem dauerhaft ähnlich ablaufenden Mord und den Diebstahl.
Dafür müsste jemand die gesamte Stadt unter Kontrolle haben...jemand müsste wissen, wer sich wann und wo befand und wo es den idealen Platz für die Offensive gab.
Außer den Morden, dem Verschwinden und diesem einseitigen motivgeprägten häufigen Diebstahl gab es ja fast keine Verbrechen!
"Oh!", etwas Besseres wollte dem 21-Jährigen nicht über die Lippen kommen. "Aber diese Auftragsgeber...von so etwas habe ich bis jetzt noch nie gehört..."
"Macht aber Sinn! So viel wie ich recherchieren konnte, macht es tatsächlich Sinn, dass da mehrere Leute dahinterstecken. Es wirkt alles so organisiert, wäre es ausschließlich ein Täter, dann müsste er sich klonen können."
Lovino bejahte ihre Aussage. Es erklärte so einiges. Wie aus Reflex steckte er seine Hände lässig in die Seitentaschen und weitete seine Augen keine Sekunde später als seine Fingerkuppen leicht zerknittertes, warmes Papier berührten.
Der Brief!
Antonio!
Er hatte ihn doch darum gebeten, ihn einmal aus Rom anzurufen!
Der Zeitpunkt hätte nicht besser, aber auch nicht schlechter sein können. Einerseits kam ihm die Idee mit dem Anruf gerade gelegen. Er könnte Antonio um Rat fragen, wie er Isabella am besten nach einer Beziehung ausfragte. Erfahrungen in Beziehungen hatte dieser bereits, wenn auch mit einem Mann.
Aber was blieb ihm anderes übrig? Er besaß nur die Nummer von Antonios Haustelefon und hätte er die Möglichkeit Michelle oder Emma anzurufen, um Frauentipps zu erlangen, würden diese ihn doch eher damit aufziehen. Er konnte ihre übertriebenen Glückwünsche, endlosen Fragen und Verniedlichungen ihrerseits schon in seinem inneren Ohr vernehmen.
Abel bräuchte erst recht nicht fragen. Der hatte keinerlei Interesse an irgendeinem Menschen, egal ob es sich um Frauen, Männer oder andere Personen dazwischen handelte.
Im Endeffekt hatte er keine andere Wahl, er war auf Antonios Rat angewiesen.
Andererseits könnte die Idee mit dem Anruf an keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Er war noch mit Isabella unterwegs und könnte sich nicht einfach erlauben, schnell eine Karte für die Telefonzelle zu kaufen. Bestimmt wäre das unhöflich...
"Oh díos mio!", plötzlich schlug sich Isabella mit der flachen Hand gegen die Stirn, "Meine Schwester! Ich hab vergessen, ihr zu sagen, dass ich gut in Rom angekommen bin!"
"Was-" Lovino blinzelte sie perplex an. Woher kam das jetzt auf einmal?
"Entschuldige, Lovino, das kommt jetzt bestimmt total bescheuert, aber macht es dir was aus, wenn ich kurz eine Sprechkarte für die Telefonzelle kaufe? Ist wirklich wichtig...Tut mir leid." Einen entschuldigenden, teils verlegenen Blick im Gesicht tragend, sah sie auf den etwas kleineren Lovino herab. Die Peinlichkeit konnte man ihr sofort ansehen. Auch ihr war es unangenehm, das gemeinsame Treffen mit so etwas kurz unterbrechen zu müssen.
Wenig wusste sie, dass diese Bitte Lovino gerade recht kam. Somit müsste er sich selbst nicht schlecht fühlen, wenn er die Zeit, in der Isabella telefonierte, ebenfalls am Telefon verbrachte. Er musste es lediglich geschickt anstellen. "Ist okay, Isabella, ich muss auch mit jemandem telefonieren. Ich hab das auch total verschwitzt, von dem her haben wir gerade dasselbe Problem." Ein Grinser schlich sich auf seine Lippen und auch Isabella entfloh ein leises Lachen. Da hatten sie zur selben Zeit denselben Einfall, fast so, als teilten sie sich eine gemeinsame, letzte Hirnzelle miteinander.
"Hehe, dann ist ja gut. Ich denke die Börse am Ende der Straße gibt die Sprechkarten aus." Ein rascher Blick in das Portemonnaie genügte, um zu sehen, dass sie glücklicherweise genug Geld eingesteckt hatte. Man musste nur hoffen, dass das sogenannte "Fräulein vom Amt" nicht allzu lange brauchte, um die Verbindung herzustellen oder dass diese für ein dringendes Gespräch mehr Gebühren verlangte. Es wäre nicht das erste Mal, dass man sie um ein paar Lire betrog. "Gehen wir?"
Lovino nickte und schlenderte neben seiner abendlichen Begleitung her. Nervenkitzel breitete sich in seiner Brust aus und es kribbelte in seinen Armen. Wehe er stellte sich katastrophal im Umgang mit diesem neumodischen Kram an. Er hatte keinen Bock, vor den Augen Isabellas um Hilfe Fragen zu müssen. Das würde seinen guten Ruf komplett zerstören!
Seufzend musterte er die schier endlose, im Licht der Laternen schimmernde Straße; ein komisches Gefühl im Herzen tragend.
Hoffentlich war Antonio überhaupt zuhause...Wie es ihm wohl ging?
***
Mit schwitzigen Fingern umfasste er den schwarzen Ledergriff des Hörers, presste diesen angespannt gegen seine Ohrmuschel und wartete ungeduldig auf ein akustisches Zeichen. In seiner Brust pulsierte es wie wild, seine Finger tippten unruhig gegen seinen Oberschenkel und ein schwacher Duft von Orange lag in der Luft.
Lovino kaute nervös auf seiner Unterlippe herum.
Verdammt, hoffentlich hatte er keinen Fehler gemacht, als er um die Verbindung zu Antonios Haustelefon bat.
Waren alle Ziffern richtig gelesen worden?
Wann hob er ab?
Er hatte ab dem Zeitpunkt des Gesprächsbeginns maximal fünf Minuten Zeit...
Lovinos Herz sank herab, schlug langsamer gegen seine Brust. Kaum hörbar zischte er ein "Geh ran. Geh ran. Geh ran." vor sich hin.
Er wagte einen Blick zur Seite. Isabella war immer noch beim Wandapparat und tratschte frohen Mutes mit ihrer Schwester. Lovino sah auf seine Füße, während er wartete. Anstatt eine Telefonzelle zu benutzen, stand er nun im Telefonabteil der Börse und wartete sehnsüchtig darauf, dass Antonio endlich abhob. Er wollte das Gespräch möglichst bald hinter sich haben, bevor Isabella ihn wieder aufgabelte und vielleicht mithörte.
Plötzlich, ein Knacksen.
Augenblicklich stellte sich Lovino aufrecht hin und machte sich bereit, Antonios Stimme durch den Hörer zu vernehmen.
Wie er sich wohl durch dieses Ding anhörte?
"Wer spricht?"
Lovino atmete tief ein. Das war nicht Antonio. Das war wohl der eigentliche Besitzer des Telefons. Durch den Hörer mischte sich ein leichtes Rauschen zu seiner Stimme hinzu, wodurch sich Lovino genau konzentrieren musste, was gesagt wurde. Trotz des uneingeplanten Fremden am anderen Ende der Verbindung hielt sich der junge Mann gefasst.
"Lo...Lovino Vargas...", sprach er vorsichtig in das integrierte Mikrofon, "...ist Antonio da?"
Oje, das fing schonmal gut an...
"Ich hole ihn schnell. Warten Sie eine Minute."
Ohne auf eine Antwort seinerseits zu warten, hörte man nur ein Klacken am anderen Ende, als wäre der Hörer gegen eine Tischplatte gelegt worden. Daraufhin folgte ein gedämpfter, hallender Ruf, das laute Zufallen einer Tür und das rasche, fast tölpelhafte Stolpern über ein paar Stiegen. Lovino ahnte es schon. Antonio war wahrscheinlich auf den Weg zum Hörapparat fast auf die Fresse geflogen.
Lovinos Mundwinkel zuckten kurz nach oben.
Und dann...endlich.
"¡Hola! Antonio hier?"
Ohne es zu merken hatte Lovino den Kopf leicht gehoben und die Augen geweitet.
Er konnte ihn hören, obwohl er kilometerweit von ihm entfernt war! Seine Stimme war aufgeweckt und heiter wie immer...
"Ciao, Bastard! Rate mal, wer gerade anruf-"
Und schon unterbrach man ihn.
"Oh! Lovino! Lovino, bist das du?"
"I-"
"Woah, ich hätte nicht geglaubt, dass du mich so schnell anrufst! Aber ich freue mich riesig! Was ist los? Geht es dir gut? Isst du genug?", die Wörter sprudelten nur so aus Antonios Mund heraus. Als wäre er auf Zuckerschock ratterte er eine Frage, nach der anderen ab und wartete nicht einmal darauf, dass Lovino ihm etwas entgegnen konnte. Obwohl genau das kontraproduktiv war.
"Ant-"
"Mann, deine Stimme hört sich ja voll anders an mit dem ganzen Rauschen nebenbei. Das macht die ganze Zeit so Zsch-Zsch-Zsch, wenn du redest!" Obwohl Lovino es nicht sehen konnte, machte er Handbewegungen zu dem überspitzt nachgemachten Geräusch.
Nun wurde es Lovino endgültig genug. Antonios Lautstärke schien förmlich wie eine Schallwelle gegen sein Gesicht zu preschen. Konnte er nicht etwas langsamer und leiser machen? Er war doch nicht taub! "Antonio! Lass mich mal ausreden, du Bastard!", Lovino wurde für den Moment lauter, klang aber anschließend wieder in eine ruhigere Stimmlage ab, "Ich hätte da eine Frage...Die ist mir allerdings ein bisschen peinlich..."
"Ja? Ich mache alles, was du willst. Ich helfe gern!"
Lovino wurde still...Bestimmt lächelte er gerade...
Er wusste genau wie sich sein Freund anhörte, wenn er mit der Sonne um die Wette grinste.
"Ugh, so, hör zu, du Idiot. Ich weiß, das kommt jetzt übelst blöd und alles, aber gerade bist du der Einzige, auf den ich so wirklich zählen kann."
Antonio strahlte. "Oh! Ich bin ganz Ohr!" Sein typisches, breites Lächeln thronte einmal mehr auf seiner Visage und sein Herz hämmerte aufgeregt gegen seinen Brustkorb.
Lovino zählte auf ihn!
Er würde sich bemühen, ihn bestmöglich zu unterstützen!
Aber dann...
Lovinos Verhalten nahm Formen an, die er noch kaum kennengelernt hatte.
Er war nicht impulsiv.
Er war nicht aufgebracht.
Er war eher scheu und nervös.
Ein schweres, kühles Drücken öffnete sein Herz, machte es frei für jegliches Gefühl. Für jegliche Emotion. Ein leichtes Kribbeln trippelte wie die Beine eines Schmetterlings in seiner Brust und in seinen Oberarmen herum und erfüllte ihn mit einer wohligen Wärme...Ganz so, als küssten ihn die morgendlichen, warmen Sonnenstrahlen aus seinem langen, süßen Schlaf...Was war das?
"Also...eh...", druckste Lovino angespannt herum und presste die Lippen zusammen. Wie sollte er es am besten formulieren? Verdammt, ihm blieben nur noch knapp 3 Minuten. "Ich...Ich hab ein Mädchen kennengelernt. Und sie ist echt klasse. Und wir haben uns heute Abend getroffen..."
"Oh." Antonios Augen weiteten sich und er blinzelte mehrmals. Das kam jetzt überraschend für den Spanier, dennoch wollte er seinen Freund guten Gewissens unterstützen. "Herzlichen Glückwunsch, Lovi! Ich freu mich sehr für dich."
Freute er sich wirklich für ihn oder sagte er das einfach so der freundschaftlichen Pflicht wegen heraus? Antonio verwarf den Gedanken so schnell, wie er auch gekommen war und legte seinen Fokus allein auf das, was Lovino bedrückte.
"Und deshalb wollte ich fragen...", er atmete tief ein und spürte die Schwere seiner Brust, ehe ihm binnen Millisekunden alle Wörter heraussprudelten und das Unwohlsein in seiner Brust weniger wurde, "Wie fragt man jemanden um eine Beziehung?"
"Eh?" Sein Dauergrinsen fror augenblicklich ein, als wäre ein plötzlicher arktischer Schneesturm über ihm eingebrochen und hätte ihm alles Lebendige, alles Menschliche, mit einem winzigen Atemzug geraubt.
Auf der anderen Seite der Leitung wartete Lovino dringend auf eine Antwort; die Finger hatte er aus Unruhe schon mit dem schwarzen Kabel verwickelt und drehte damit herum. Warum antwortete ihm der Bastard nicht? Sonst überflutete er ihn immer mit Tipps und Ratschlägen? Nichts.
Alles war still und einzig und allein das unterschwellige Rauschen eines Atems schallte durch das Telefon.
"He, Antonio? Bist du noch dran?", erkundigte sich Lovino vorsichtig und umfasste den Hörer mit beiden Händen.
Das war...eigenartig, gar atypisch...
Sofort besann sich Antonio wieder und riss sich aus seiner plötzlichen Trance, kaum hatte er Lovinos Stimme ein weiteres Mal vernommen. "Lovino, ich..." Warum fehlten ihm auf einmal die Worte? Wieso mischte sich ein sachtes Krächzen seiner Stimmlage hinzu? "Ich würde dir gerne helfen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich da die richtige Wahl bin." Auch er presste kurz die Lippen zusammen, fühlte sich auf einmal hilflos und wirr; gefangen in einem Sturm...in einer sich aufbauenden, eisigen Flut auf hoher See. Er selbst war wie ein winziger Seemann, inmitten der natürlichen Gefahr; geradezu dem Tod und den tödlichen Wellen ausgeliefert.
"Du weißt doch, ich-" Antonio schnellte seinen Kopf hin und her, um sicherzugehen, dass niemand lauschte. "...ich hab nicht so die Erfahrung mit Frauen...", fügte er abgehackt hinzu.
Was war nur mit ihm los? So unbeholfen war er bisher noch nie gewesen?
Jedoch ließ sich Lovino nicht davon abhalten, weiter nachzubohren. Nicht wissend, was er in diesem Moment dem anderen Mann damit antat. "Ist egal. Sag mir einfach, was ich tun soll! Bitte..."
Antonio überlegte, jagte einer Idee nach der anderen gedanklich nach, bis ihm die wohl offensichtlichste und vermeintlich nutzloseste Antwort der Welt einfiel. "Sei einfach du selbst. Sei ehrlich, Lovino, und bleib ruhig und überstürze nichts. Wenn sie dich ebenfalls liebt, wird sie dir schon keinen Korb geben."
Ein Schnaufen war zu hören und Lovino verdeckte sein Gesicht mit einer Hand, nur um diese dann genervt hinunterzustreifen, sodass er damit schon eine Grimasse schnitt. "Oh wow. Danke, Antonio. Das ist jetzt wirklich eine bahnbrechende Neuigkeit. Woah. Ich glaub's ja nicht. Darauf wäre ich selbst nicht gekommen..." Sein Sarkasmus ließ grüßen und war nicht zu überhören.
Gott, Antonio war ein Idiot. Auf diesen Ratschlag hätte er verzichten können. Den hätte er sich selbst erteilen können.
"Lo siento, es klingt so typisch und offensichtlich, aber ich schwöre dir, so funktioniert es immer!", verteidigte sich Antonio und sprach etwas zu emotional in das Telefon, sodass Lovino den Kopf erschrocken etwas nach hinten legte.
"Okay! Okay! Ich hab's ja kapiert, Mann!", die Augen verdrehend lagerte er sein Gewicht auf den anderen Fuß, "Lassen wir das, was Besseres wird dir wahrscheinlich eh nicht einfallen...Wie geht es dir eigentlich?"
Antonios Puls stieg schussartig in die Höhe. Sein Herz bebte leidenschaftlich kräftig und voller Freude, entfachte von einem kleinen Funken zu einem lodernden Feuer in seiner Brust. Aus dem einst aufgewühlten Chaos, das er als sich selbst bezeichnen konnte, kam endlich wieder ein ehrliches, dümmliches Lächeln hervor.
Lovino sorgte sich also auch um ihn.
"Mir geht es gut! Und stell dir vor, ich hab sogar was-"
Mehr verstand Lovino nicht mehr, da man ausschließlich lauten Krach durch den Hörer verstand, der den Rest des Gesagten wie eine dichte Wand verschluckte. "Ey, was ist das für ein Krach bei dir?!"
"Das ist kein Krach, das ist meine Gitarre!" Aufgebracht und gespielt beleidigt murrte Antonio ins Telefon und zog dabei die Augenbrauen verärgert zusammen.
Lovino stockte und schwieg für den Moment, eher er seinem Freund eine ebenso eine hitzköpfige Antwort an den Kopf schmiss. "Warum zum Teufel hast du deine beschissene Gitarre zum Telefonieren mitgenommen, du Volltrottel?!"
Herzhaftes Lachen schallte in sein rechtes Ohr und Lovino kniff automatisch ein Auge zu und verzog das Gesicht. Antonio war nichts weiter als ein dummer Idiot. Er konnte nicht einmal ernst bleiben, wenn Lovino zu ihm sprach und ihn freundschaftlich-neckend ausschimpfte.
Dieser Bastard...Er war immer nur am Grinsen und Lachen wie ein kleines Kind, dem man Schokoladeneis kaufte. Selbst dann, wenn er keinerlei Grund dafür hätte. Seine lockere und fröhliche Einstellung...Lovino wünschte sich, er könnte auch einmal so sein, anstatt sich ewig im Selbstmitleid, Pessimismus und Hass suhlen zu müssen.
"Na, damit ich dir was vorspielen kann! Ich hab endlich wieder angefangen zu spielen und es macht mir sogar Spaß!" Überladen mit Freude und Energie fuhr der Spanier fort; sein Herz schlug quicklebendig und im schnellen Tempo gegen seine Brustdecke und erfüllte ihn mit einer Flamme aus Glückseligkeit, die er seit langem nicht mehr verspürt hatte.
Wie glücklich er nur gerade war...
Doch sein impulsiver Freund verfing sich in seinem, für ihn typischen Verhaltensmuster und regte sich künstlich auf. "Wieso willst du mir was vorspielen, Bastard, ich bin doch nicht dein Ehemann! Spar dir das!"
Stille.
Plötzlich sprach niemand mehr ein Wort; spielte gar einen Ton.
Lovino hörte nur das Klacken von Stöckelschuhen gegen den kalten Fliesenboden und das Gemurmel anderer Kunden, die in ihren Gesprächen verwickelt nicht das kleinste Wörtchen seinerseits wahrgenommen hatten.
Antonio vernahm seinen eigenen Herzschlag; wie er ihn leise, aber kräftig am Leben hielt. Er spürte ihn in seinen Ohren. Der leichte Druck ließ ihn still werden.
"Eigentlich wollte ich dir nur was vorspielen, weil ich durch dich wieder angefangen habe, zu spielen. Damit du siehst, wie gut ich nach dem Üben geworden bin." Ruhe prägte seine Antwort. Die Atmosphäre zwischen ihnen wandelte sich. Ihre Impulsivität schwand wie ein davongetragener, sich auflösender Nebelschwaden an einem kühlen Herbstmorgen; Achtsamkeit und Friede kehrte ein.
Niemand schrie.
Niemand riss das Gespräch an sich.
Niemand verfiel in einen Monolog, durch den sich der andere durchzukämpfen hatte.
Sie hörten einander zu.
Sie beruhigten sich, ließen den jeweils anderen aussprechen.
Sie gaben sich einander Zeit.
"Du hast wegen mir angefangen? Wieso das denn? Ich hab dich nie drum gebeten?" Auch der sonst so aufbrausende Lovino hatte Antonio nun seine ausgeglichene, sanfte Seite gezeigt, die den Spanier mit den smaragdgrünen Iriden jedes Mal aufs Neue überraschte.
"Lange Geschichte...Erzähle ich dir, wenn du zuhause bist!" Lovino konnte nicht sehen, wie sich Antonios Lippen zu einem sanften, milden Lächeln formten.
"Wie du meinst..."
"Darf ich dir jetzt was vorspielen?" Vorsichtig tastete sich Antonio erneut heran, in seiner Stimme einen Hauch von Flehen tragend.
Er wollte ihm unbedingt etwas vorspielen, bevor die Gesprächszeit vorbei war.
"Meinetwegen...", seufzte Lovino und wandte den Kopf zu den langsam voranschreitenden Zeigern der silbern umrandeten Wanduhr, "mach aber schnell, du hast nur mehr knapp eineinhalb Minuten."
Das Gesicht des Spaniers leuchtete auf, einen vorfreudigen Funken in den Augen tragend. "Das ist mehr als genug! Dann spiele ich dir nur deine Strophe vor..."
Lovino hielt die Luft an, schüttelte verwirrt den Kopf und verstand mittlerweile nichts mehr. Wieso schrieb der Bastard ihm eine Strophe?
War irgendetwas während seiner Abwesenheit vorgefallen?
War er krank?
"Meine Strophe?!"
"Ja, deine Strophe!", entgegnete Antonio ihm sogleich fröhlich und glitt dabei mit den Fingern über die filigranen Saiten des Instruments und entlockte diesem somit einen wohlklingenden Ton, "Ich habe für alle meine Freunde ein Lied geschrieben und jeder hat eine Strophe bekommen. Emma, Abel, Michelle, Francis und auch du!"
Da staunte Lovino nicht schlecht; man könnte behaupten, er wäre sogar von Antonios Bemühungen beeindruckt. Neugierde ging in ihm auf, nagte an seinem Gewissen und bettelte förmlich darum, zu wissen, was jemand wie Antonio wohl über ihn verfasste. Aber von dieser inneren, offenen Neugier brachte man nur einen spärlichen Teil ans Tageslicht. Lovino wusste sich nicht besser auszudrücken, als mit herausfordernden Worten zu sprechen. "Na, da bin ich jetzt mal gespannt, was du so nach gefühlten zwei Stunden Spielen wieder so draufhast. Du spuckst ganz schön große Töne."
"Tu ich gar nicht!", raunte Antonio genervt durch das Telefon, vergaß seinen Ärger allerdings schon im nächsten Atemzug, "Egal, hör gut zu! Ich mach auch ganz schnell!"
"Mach." Lovino entgegnete ihm tief und grob, obwohl es keineswegs seine Intention war. Tatsächlich war er neugierig geworden und betete, dass die Verbindung nicht vorher abkratzte und die beiden von ihrem Dialog abrupt trennte.
"Okay..."
Tief einatmend sammelte Antonio seine Gedanken, legte die Finger auf die feinen Saiten seiner Gitarre und spürte, wie seine Fingerspitzen diese sachte streiften. Es begann mit säuselnden, süßen Klängen, ehe er selbstbewusster anspielte und mit seiner linken Hand von einem Akkord zum nächsten Wechselte, als wäre es für ihn das Natürlichste der Welt. Das Telefon klemmte zwischen Kopf und Schulter fest, sodass Lovino der Melodie hoffentlich gut genug lauschen konnte und kein undeutliches Rauschen entstand. Egal wie lange er auch spielte, der Nervenkitzel blieb ihm in jeder Sekunde erhalten, trieb ihn an und leitete ihn.
Das bebende Herz in seiner Brust, egal ob dies nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein sollte, erfüllte ihn mit Elan und brachte ihn unbewusst dazu, mit äußerster Vorsicht, Mühe und Zuversicht vorzugehen...
"Es dauert vielleicht eine Zeit,
Bis du mir dein wahres Lächeln zeigst,
In deinen Augen seh' ich Furcht, dass du etwas vergeigst.
Aber egal was auch geschieht, ich bleib an deiner Seit'."
Lovinos Mund öffnete sich einen Spalt. Jedes Wort, das ihm jemals über die Lippen gekommen war, verschwand mit einem Mal aus seinem Leben. Er wurde stumm, geradezu sprachlos. Rhythmisch klopfende Herztöne teilten die unbekannte, neu geschaffene Atmosphäre mit der sachten, gar zärtlichen Wärme, die sich wie ein Schleier über seine Wangen, seine Nase und seine Ohrspitzen legte. Lovino fand sich in einer neuen, zweiten Realität wieder, fernab von der Welt, die er bisher kannte. Diese Welt war kein Ort - kein Platz, den man besuchte. Diese Welt existierte in ihrem eigenen Raum, mit ihrer eigenen, individuellen Zeit.
Es gab keine Menschen, es gab weder Licht noch Finsternis. Einzig und allein das Gefühl lebte in jener zweiten Realität.
Diese Welt...obwohl sie doch aus Lovinos Kopf entsprang, fühlte er sich nicht alleine in diesem ewigen, schier endlosen Nichts...Weit...Weit entfernt wartete etwas auf ihn. Leise säuselnd schenkte es süße Wärme, spendete Licht, spendete Leben.
Lovino sah es nur von weitem. Er könnte die Hand danach ausstrecken, doch würde es nie erreichen.
Dieses kleine, rosa Licht...
Kilometerweit von ihm entfernt und doch existierte es.
Es wartete auf ihn...
Sogleich öffnete sich etwas in ihm, als breitete ein kleiner Vogel die Flügel aus, die er zuvor fest umschlungen um sein Herz gelegt hatte.
Freiheit...
Sein Herz umschloss die Freiheit; zersprengte die Ketten, die sich seit Jahren darum rankten und es in die Tiefen des Tartarus gezwungen hatte.
Was war geschehen?
Weswegen sank er den Hörer benommen von seinem Ohr herab?
Weswegen fühlte er sich ganz plötzlich so...beflügelt?
"Gracias a ti vi la luz otra vez.Gracias a ti, puedo entenderme mejor a mí mismo.Gracias a ti no me divorcié del mundo. Y como una vez demandante, finalmente encontré mi paz."
Unterdessen setzte Antonio ungehindert fort, nicht wissend, welches Chaos er in jener Stunde verursacht hatte.
Nicht wissend, welche Konsequenzen seine gut gemeinte Tat trug.
Er selbst verspürte nichts anderes als Freude, als Glück, als Zufriedenheit, die niemals erlöschen sollte. Hin und her gerissen von seinem Tun, vergaß er, seine Worte in Lovinos Sprache zu übersetzen und wechselte ohne Intention ins Spanische.
Doch ausgerechnet dieser kleine Fehler kostete Lovino das Herz.
Seine Stimme klang so anders, wenn er Spanisch sprach...Natürlicher...Wahrer zu seiner innersten, wirklichen Person. Nein, das war nicht nur seine Stimme, das war Antonio selbst. Hier sprach Antonio mit all seinen Facetten. Mit all dem, was ihn ausmachte...
Er war...
Er klang...
Lovinos Gesicht glühte auf und sein Puls schlug spontan in die Höhe.
Was geschah mit ihm?
Und das Lied verstummte...
Und bevor Lovino auch nur irgendetwas kommentieren konnte, brach die Verbindung plötzlich ab.
Ein Rauschen ertönte, daraufhin ein Piepen, das in jenem Moment einem gewaltsamen Schlag gegen seinen Schädel ähnelte. Es verbannte Lovino zurück in die echte Welt, weit weg von der lebendigen Fantasie, die zu seiner Realität wurde.
Seine Zeit war um.
Die fünf Minuten waren vorbei.
Er war nicht mehr mit Antonio verbunden.
Leicht benebelt setzte er den Telefonhörer wieder auf seinen Platz zurück und nahm sich einen Moment Zeit, sich zu besinnen.
Was war gerade passiert?
Den Kopf schüttelnd und einen tiefen Atemzug nehmend, drehte er sich um, nur um dann bereits Isabella zu sehen, die nur darauf wartete, dass er fertig wurde.
Wie lange stand sie bereits hier?
Die junge Frau lächelte plötzlich amüsiert, als Lovino ihr entgegenkam. "Na, na, was ist denn mit dir passiert? Du bist rot wie eine Tomate!"
Lovino riss augenblicklich erschrocken die Augen auf, fasste sich selbst an seine tatsächlich warm gewordenen Wangen und sah angespannt hin und her. Aufgeregtes Kitzeln schoss wie Adrenalin durch seine Adern.
"Ich bin was?"
Belustigt stieß die Spanierin ein Kichern aus, als sie beide zu zweit die Börse mit ihrer Telefonzentrale verließen und von der kühlen Abendluft begrüßt wurden. "Du bist ganz rot im Gesicht, Lovino. Ist irgendetwas passiert?"
Lovino schluckte kurz und suchte augenblicklich nach einer geeigneten Ausrede. Die Röte auf seinem Gesicht konnte er unmöglich weiter verbergen. Er selbst spürte, wie warm ihm geworden war, kaum hatte einen kühlen Windzug um seine Nase gespürt. "Uh, ach das...", druckste er herum und blickte verlegen zur Seite, „Nein...ein Freund von mir hat nur einen bescheuerten und peinlichen Witz gemacht."
Zumindest wollte Lovino das selbst glauben.
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