Kapitel 14 - Eine Reise in die "ewige Stadt"
Stätig ratterten die Räder der Eisenbahn vor sich hin. Sie sangen ihr rhythmisches Lied immerwährend vor sich hin und raubten so manchem den erholsam gedachten Schlaf. Ein schwacher Geruch von Rauch gemischt mit der kalten Fahrtluft stieß durch das gekippte, obere Fenster des Zugabteils. Die Fenster an sich trugen ihre eigenen Geschichten mit sich: zahlreiche Handabdrücke und gezeichnete Fratzen kennzeichneten, dass vor kurzem wohl Kinder Passagiere der neuartigen Personenlokomotive waren. Wenn man genau lauschte, nahm man das Umblättern einer Zeitung wahr oder das halblaute Geschwafel von naheliegenden Mitfahrern drang in die Ohren.
Ein älterer Herr hustete, ein Vater schnitt für seine Kinder einen Apfel entzwei, während die Mutter eine kurze Ruhepause genießen durfte.
Seit wenigen Minuten flutete die goldene Sonne das gesamte Land, legte sich sanft über Bäume und Sträucher, über Berge und Häuser und es gestaltete die verschlafenen Morgenstunden kostbarer und paradiesischer denn je.
Lovino kauerte im Halbschlaf in der Ecke seines Sitzplatzes, den Kopf erschöpft an der Wand anlehnend, obwohl er die ständige Bewegung des Zuges umso stärker miterlebte. Zu seinen Füßen lehnte ein kleiner Koffer aus rotbraunem Leder, gefüllt mit dem Nötigsten.
Noch immer saßen sein Maulen und sein Ärgernis tief; wäre Enrico doch nur früher darauf gekommen, ihm Bescheid zu geben, dass sie in aller Früh den ersten Zug nach Rom nehmen würden...Doch wenn er seine Unzufriedenheit offen preisgab, entgegnete ihm der alte Italiener nur mit Worten wie "Ich habe dir eigentlich noch vor deinen freien Tagen einen Brief geschrieben, womöglich hat ihn die Post zu spät ausgetragen."
Obgleich er mit dieser Auskunft etwas anzufangen wusste oder nicht, Lovino hatte in Wirklichkeit keine Lust auf die Reise, vor allem, weil sie beinahe ausschließlich mit Lernen verbunden war. Enrico besuchte die Universität in der Innenstadt und Lovino sollte ihn begleiten, da Enrico anscheinend dezent fahrlässig mit seiner Arbeitseinteilung umging. Selbst Rezeptionisten sollten zumindest irgendwie eine fachgetreue Ausbildung haben, um Kunden das Mittel zu verkaufen, was sie benötigen. Da war Enrico mit seiner Naturapotheke keine Ausnahme, das stellte er nur leider etwas zu spät fest, weil er der Annahme war, er ginge noch unter einem Spezialfall durch. So oder so, meinte er, ein bisschen Zusatzwissen hatte noch keinem geschadet und zudem könnte Lovino in dieser einen Woche in der Metropole viele neue Erfahrungen machen, die ihm ansonsten verwehrt geblieben wären. Und Enricos schlechter werdenden Augen und tollpatschigen Hände könnten jede Hilfe in der Fortbildung gebrauchen, sollte es zu einer Obduktion kommen, die es in jedem Fall zu dokumentieren galt.
Lovino spürte die Kälte des Fahrtwindes auf seiner Haut und verzog knapp die Miene. Wenn er nur daran dachte, wie viel ihn allein die Fahrt kosten würde, zog es ihm schon den Magen zusammen. Zugfahrten waren teuer, insbesondere, wenn es ein weiter Weg von einer ländlichen Gegend zu einer riesigen Weltstadt war, immerhin gab es Eisenbahnstrecken erst seit weniger als einem Jahrhundert.
Warum konnte man sich nicht einfach in Windeseile an den Platz hinhexen, wo man gerade sein möchte? Das wäre weniger zeitaufwendig und es sparte Nerven.
Leider konnte dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen, in seiner Wohngegend gab es nicht einmal ein Haustelefon, gar eine Telefonbox von der die Großstädter, die wegen eines Verwandtenbesuchs in seine Kleinstadt kamen, allesamt tratschten.
Aber vielleicht wäre auch das kleine süditalienische Städtchen eines Tages an der Reihe zumindest teilweise mit Telefonanschluss versehen zu werden.
Doch nun wurde es Lovino genug und er setzte sich aufrecht auf seinen Sitzplatz, denn sein Kreuz schmerzte bereits vom schier ewigen Herumlungern und schlafen konnte er bei dem stätig katastrophaler werdenden Lärmpegel - die Kinder ein paar Reihen weiter hatten angefangen lauthals herumzuschreien, weil sie beide dasselbe Zuckerl haben wollten- ohnehin nicht mehr.
Der alte Mann, der ihm gegenübersaß, senkte die Zeitung und hob das Kinn sachte an. "Ausgeschlafen?"
"Hä?", Lovino verstand nur Bahnhof und schaute orientierungslos umher, den rötlichen Abdruck der Armlehne im Gesicht tragend. War er vorhin tatsächlich eingenickt? Er konnte sich lediglich daran erinnern, dass er sich einige Minuten nach dem Hinsetzen nur kurz mit dem Kopf darauf gestützt hatte. Danach fand er sich gegen die Wand gelehnt wieder. Wie ein Filmriss klaffte ein schwarzes Nichts in seinen Erinnerungen, fast so, als hätte es die Sekunden dazwischen nie gegeben.
"Na, ob du jetzt ausgeschlafen bist, Junge. Du hast beinahe die gesamte Fahrt mit Schlafen verbracht, wir sind in einer halben Stunde schon bei unserem Bahnhof." Enrico schmunzelte. Lovinos jugendliches Verpeilt-Sein erinnerte ihn ein bisschen an seine Tochter Chiara.
"Ach so...", verstand Lovino endlich und schüttelte den eingeschlafenen, linken Arm vor sich hin. Wie abertausende Ameisen, die sich unter seiner Haut tummelten, kitzelte es ihn, doch zur selben Zeit verlor er jede noch so kleine Empfindung in seinem Arm, "Ja, denk schon."
Lovino warf einen Blick aus dem verdreckten, verschmierten Fenster. Die hügelige Landschaft zerfloss wie ein frisches, feuchtes Aquarellbild, einige einzelne Bäume schossen kerzengerade aus dem Boden heraus, Landhäuser und die ersten wohlhabenderen Bauten mischten sich in die natürliche Idylle hinzu und gaben der noch sehr grünlichen - vor Trockenheit teilweise auch ockerfarbenen - Umgebung einen erdigen, wohlig-warmen Farbklecks dazu. Das eine oder andere uralte Aquädukt verband einige sanft herabfallende Hänge miteinander und rote Dächer lugten hinter den Bäumen hervor und sammelten sich förmlich, wie ein See im Tal zusammen, während die mächtigen sieben Hügel Roms sich vor der eigentlichen Hauptstadt majestätisch erhoben und das städtische Leben in ihren Grenzen einbetteten. Aventin, Caelius, Esquilin, Kapitol, Palatin, Quirinal und Viminal, jene Hügel bildeten den Anfang für diese weltbekannte, geschichtsträchtige Metropole, die bereits mehr als zweitausend lange Jahre auf dem Buckel hatte und dennoch in wunderbarem, beeindruckendem Glanz erschien. Schon bald würde Lovino zum ersten Mal in seinem Leben auf römischem Boden stehen, die Wege der uralten römischen Bevölkerung auf eigener Faust bewandern und ihre bewundernswerten Konstrukte und Ruinen mit eigenen Augen sehen. Auch wenn Lovino zunächst keinerlei Lust auf diese Reise hatte, im tiefsten Inneren seiner Seele sehnte er sich schon lange nach so einer Erfahrung. Er hatte schon vieles von dieser wundersamen Stadt gehört, Historisches sowie Klatsch und Tratsch. Sein Großvater meinte ständig, er habe in dieser Stadt nach langer und wechselhafter Herumsucherei und Herumprobieren seine letzte und wahrste, große Liebe kennengelernt - Lovinos Großmutter. Jedes Mal, wenn sein alter Opa in kitschigen Erinnerungen schwelgte, entgegnete Lovino augenblicklich mit überspitzter Übelkeit und geschauspielerten Kotzgeräuschen. Nicht, dass er etwas gegen Romanzen hatte, im Gegenteil. Nur brauchte er eindeutig nicht jedes unnötige Detail wissen und auf dieses schnulzige Turteltaubengeschwätz konnte er ebenfalls mit Freuden verzichten. Gerade da, wo er einen Mangel an Interesse zeigen konnte, schienen allerdings seine Brüder Feliciano und Romeo alle Aufmerksamkeit hinzulenken.
Feliciano war schon immer ein gefühlsduseliger Mensch, lebte in seiner eigenen kleinen Gedankenwelt und man konnte ihn als regelrechten Träumer bezeichnen. Romanzen und all das, was dazugehörte, waren schon immer eine Art Interesse für ihn gewesen. Als Bruder war er allerdings eine reine Herausforderung, da er bei jedem noch so kleinen Streit in Tränen ausbrach, als er noch klein war - und um ehrlich zu sein, täte er es auch noch bis zum heutigen Tag - und Lovinos faule, grobe Sprache provozierte doch viel zu gerne Konflikte und Heulkrämpfe, insbesondere mit sensiblen Persönlichkeiten, die auf den Namen Feliciano hörten. Allerdings wunderte es ihn wenig, dass Feliciano mehr Glück in der Frauenwelt hatte als er. Sein kleiner Bruder war so viel freundlicher, offener und obendrein noch niedlich dazu. Alles, was Lovino nicht sein konnte.
Auf Niedlichkeit konnte er nichtsdestotrotz mit Freuden verzichten.
Und Romeo...naja, er war das Nesthäkchen und ahmte seinen beiden älteren Brüder alles nach und wenn Feliciano gerne von der Zeit hörte, als sein Opa noch jung und frisch verliebt war, dann wollte er es natürlich auch hören. Romeo wurde ebenso verhätschelnd behandelt wie Feliciano, aber womöglich fiel die Arbeit zuhause nun auf ihn zu. Seitdem Lovino und Feliciano beide ausgezogen waren, um selbstständig zu werden, war Romeo als einziges noch in ihrem Elternhaus übrig. Wie er sich wohl schlägt? Bestimmt gab er sein bestes, Romeo war doch immer sehr zielstrebig und bemüht. In wenigen Jahren würde auch er erwachsen werden, wer wusste schon, was ihm die Zukunft brachte.
Lovinos bernsteinfarbene Augen musterten die sich langsam verändernde Landschaft. Aus den einst grünen, natürlichen Hügeln und Siedlungen wurde ein gerader, gepflasterter Weg, der nur so vor Menschen sprudelte. Antike Bögen sowohl auch Neubauten konnte Lovino im Vorbeifahren entdecken. Sie mussten bereits die aurelianische Mauer passiert haben, in wenigen Minuten erreichten sie die servianische Mauer nahe dem Hauptbahnhof. Sie waren nun endlich an ihrem Ziel angekommen.
Aus dem Augenwinkel sah Lovino, wie Enrico sein Gepäck ordentlich zusammenstellte und Lovino tat es ihm kurz darauf gleich. Er schnappte sich also seine unordentlich gepackten Taschen, warf sie über die Schulter und trottete seinem Boss bis zum Ende des Waggons nach. Auf einmal ertönte ein deutliches Tuten, das Lovino in Mark und Bein erschütterte. Die Hupe des Zuges dröhnte kräftiger in sein Ohr als er es erwartet hatte und ein kleines Zucken erübrigte sich, um seinen Schreck auszuleben. Weißer Rauch stieg wolkenförmig aus den Rauchfängen der Lokomotive, zog sich der Fahrtrichtung entlang länglich, aber doch bauschig nach hinten. Lovino hielt sich am Geländer fest und er beobachtete die kleinen rot und orange flimmernden Funken vor seinen Füßen. Der Zug bremste nach und nach ab, er ratterte und puckerte die letzten paar Meter vor sich hin. Zu Lovinos linker Seite ragten noch viele weitere, herrenlose Schienen, die nur darauf warteten von Personenlokomotiven oder Transportzügen befahren zu werden und als Lovino einen Blick nach rechts warf sah er bereits den Bahnsteig vor sich, auf dem sich die unterschiedlichsten Gruppierungen von Menschen befanden. Wie davon flatternde Vogelschwärme zischte das erste Viertel des Bahnsteigs an ihm vorbei - tatsächlich ruhten einige Tauben auf den hohen Laternenmästen - ehe die Lokomotive endlich zum Stillstand fand und von allen Waggons Menschenmengen herausquollen.
Rom, das war die Endstation.
Rom, man sagte, alle Wege führten hierhin.
Rom, die ewige Stadt.
Lovino war allein von der Größe und des detaillierten, künstlerisch ausgelebten Baustiles des Bahnhofes begeistert. Wie würde er dann wohl reagieren, wenn er tatsächlich die hochgeschätzten und wahnsinnigen Bauten und Brunnen mit eigenen Augen sehen kann? Lovinos Künstlerherz schlug auf Hochtouren und die Energie, die doch eine Seltenheit für ihn darstellte, jagte sich durch seine Adern und Venen wie ein hungriger Wolf, der sich binnen Sekunden ein unschuldiges Schäfchen reißen wollte.
Lovino hopste als erstes die Stiegen herab, verlor vor lauter Herumspielerei und spontaner Heiterkeit beinahe das Gleichgewicht und fiel dabei noch dazu fast jämmerlich auf die Fresse. Glücklicherweise erübrigte sich sein Gepäck als Stütze, sodass er sich nicht gleich in den ersten fünf Minuten vor allen Leuten blamieren musste. Enrico bemerkte die Tollpatschigkeit seines Schützlings nicht einmal, viel eher starrten seine braunen Iriden gebannt auf die Stadtkarte, die er sich aus einer Broschüre stibitzt hatte. Da schaute er auf einmal auf und lächelte freundlich. "Vargas."
Lovino lauschte auf und wandte sich mit dem Kopf zu seinem Vorgesetzten. Was wollte er denn jetzt von ihm. Eigentlich wollte er sich gerade den Kopf darüber zerbrechen, wie viel ihm wohl der 'Spaß' hier kosten wird, jetzt, wo er mit seinem Chef verreist war und es kein billigeres Zurück mehr gab.
Oh, die Miete zu zahlen wird knapp werden.
Schon malte sich der Italiener aus, wie er die nächsten Wochen um die Runden kam. Er würde hungern müssen, insofern Giorgia ihn nicht aus Gutherzigkeit neben der Arbeit ungefragt versorgte, weil er unter keinen Umständen seine Wohnung verlieren wollte. Eigentlich konnte er ja von seinem Gehalt gut leben, wenn er sparte, aber diese spontane, eigentlich widerwillige Reise stürzte sein gesamtes Sparkonzept in ein Chaos. "Ja?"
"Ich zahle dir die An- und Abreise, du brauchst mir nichts zurückzahlen."
"Aber-"
"Junge, es steht dir ins Gesicht geschrieben, dass du dir wieder einmal über etwas den Kopf zerbrichst." Der alte Herr lachte auf. "Du denkst oft zu viel, komm etwas runter. Sich den ganzen Tag Gedanken zu machen und dabei aufs Wesentliche vergessen ist nicht gesund."
Lovino schnaufte. Ihm blieb keine andere Möglichkeit als sich geschlagen zu geben. Im Endeffekt hatte Enrico recht. Lovino dachte zu viel, das machte ihn langsam und zögerlich, wenn er nicht gerade am Explodieren war.
Ach, seine gesamte Person war ein extremes Zusammenspiel von zwei unterschiedlichen Richtungen: Stille und Ruhe und absolute Aufregung und Impulsivität.
Enrico griff mit der rechten Hand nach seinem ledernen Koffer mit den metallenen Beschlägen. "Das wäre geklärt, nun lass uns endlich mal diese Koffer loswerden und unser Hotel suchen und dann suchen wir gemeinsam nach der Universität."
"Na Gott sei Dank...", raunte Lovino unter Atem, während er dem ergrauten Mann mit einem "Jawohl" antwortete und wie ein verlorener Packesel hinter ihm her trottete, ohne auch nur einen Blick auf Enricos Karte erhaschen zu können.
***
"Bah!" Das aggressive Sonnenlicht traf Lovino wie eine dichte, gleißende Feuerwand ins Gesicht, sodass er für den Moment elendig erblindete. Am liebsten wäre er sofort wieder untergetaucht und sich unter dem schattigen Dach des Bahnhofes versteckt. Der glühende Feuerball am Himmel machte seinem Namen alle Ehre: Lovino brannte, die Luft war nichts anderes als ein überdimensionaler Backofen und schon stellte er sich vor, am Ende des Tages als gebrutzeltes Hühnchen irgendwo in der Ecke zu vergammeln. Vielleicht übertrieb er mit diesen emotionsgeladenen Gedanken, allerdings beschrieb es genau das, was Lovino in seinem allerersten Augenblick empfand.
Es war einfach sauheiß.
Zwar war es in seiner neuen Heimatstadt mindestens genau so heiß, aber zumindest war die Hitze nicht so trocken und stickig wie hier, er hatte in der Regel auch das Meer näher bei sich als hier. Und es wirrten keine übermäßig schwitzenden Säcke herum, die er eindeutig als Touristen abstempeln konnte. - Obwohl, er war rein theoretisch in Rom auch ein Tourist, daher brauchte er sich erst recht nicht über Touristen aufregen. Und selbst wenn, zumindest ließen sie dem Land ein bisschen Geld zukommen, um es vor der Armut zu bewahren.
Lovino nahm zwei Stiegen gleichzeitig und hopste Enrico hinterher. Sie hatten endlich das durch die Bauweise aufgehübschte Chaos eines Bahnhofes, in dem sie drei Versuche benötigten, um endlich den Ausgang zu finden, hinter sich gelassen und befanden sich nun inmitten der Straßen der uralten, ewigen Stadt.
Der Boden war mit abgewälzten, glattgetretenen grauen Pflastersteinen ausgelegt, die schön brav, ohne auch nur einen Spalt zu viel Abstand zu haben, angereiht waren. Die Häuser der Innenstadt besaßen allesamt einen erdigen Gelbstich und so manches hatte sogar eine Weinranke auf ihrem Putz wachsen, die sich märchenhaft über das Gebäude erstreckte und sich um die kleinen Balkone mit dem schwarzen Geländer schwang. Mitsamt den hölzernen Fensterläden wirkte es unglaublich romantisch und gar unwirklich. Manchmal zeigte sich eine glattpolierte Steintafel aus Marmor mit Lateinischen Schriftzügen und Zahlen auf den Wänden, manchmal prangerte sogar ein riesiges Kirchenbild an der Mauer, neben einer Kreuzung. Weiße, schwungvoll ausgearbeitete Tücher aus Stein umrahmten das Gemälde mit den Himmelswesen - den Engeln, Seraphen und der heiligen Gottesmutter - bauschige Wolken und das goldene, dreieckige Zeichen der Dreifaltigkeit durften nicht fehlen. Lovino vermutete, dass es sich hierbei um eine Darstellung der Aufnahme Mariens in den Himmel handelte.
Dann schaute er weg. Es gab viel zu viele Einzelheiten und Details, die Lovino wahrzunehmen versuchte, doch egal wie sehr er den Kopf hin und her riss, er konnte diese ganzen visuellen Eindrücke nicht vollständig wie ein Schwamm aufsaugen. Immer würde es etwas geben, das er übersähe.
Überfordert mit dem offenen Staunen, das er sich seit Kindestagen behalten hatte, zwang sich Lovino regelrecht zur Besinnung, doch erst Enricos Stimme konnten ihn tatsächlich aus dieser immensen Welle an Informationen und Wundern reißen.
"Na, sieh dir das an..."
Lovino warf einen Blick hinter sich, nur um den alten Mann bei einem Zeitungsstand zu entdecken. Prüfendend hatte dieser die Schlagzeilen überflogen und blätterte ungeduldig durch die gelblichen Seiten. Womöglich hatte er ein bestimmtes Leseziel vor Augen.
Oh Gott, Lovino stöhnte nervenzerfressen auf, bis der fertiggelesen hatte, wäre Lovino in der Zwischenzeit zu einem Hummer mutiert. So rot wäre dann sein Sonnenbrand.
Desinteressiert an Enricos Leseeifer suchte Lovino stattdessen die Gegend nach Schatten ab oder zumindest einen Brunnen mit kaltem, frischem Trinkwasser, um sich das verschwitzte Gesicht zu waschen. Glücklicherweise konnte er am Rande einer alten Steinmauer eine kleine Wasserquelle entdecken, die er augenblicklich für sich ausnutzte. Flott stellte er seine Sachen neben Enrico ab, schlenderte bis zum anderen Ende der Straße, schlängelte sich bei ein paar Mädchen und jungen Damen vorbei, die gerade hitzig miteinander diskutierten und schon hielt er seine Hände unter das kalte Quellwasser. Zuerst trank er einen Schluck, danach wusch er sich mit einer großzügigen Portion Wasser das Gesicht und ließ die feinen Wasserperlen von der Sonne dahintrocknen. Ein paar Menschen schlenderten an ihm vorbei; hier und da verstand er einzelne Wörter und Phrasen wie "unglaublich", "Ganz ehrlich, mittlerweile kennt man dieses Kaff von einer Stadt nur wegen den Mordserien." und "Also ich würde gar nicht mehr in den Süden fahren...". Eigentlich interessierte sich Lovino keineswegs für die Gespräche anderer...als aber dann auf einmal der Name seiner Stadt mehrmals in Gesprächen fiel, wurde er hellhörig. Woher zum Teufel kannten sie nur sein dreckiges Kaff?
Er hatte angenommen, dass kein Schwein hier in Rom auch nur über die Existenz Bescheid wusste, immerhin war sie nur eine Kleinstadt, die nicht einmal annähernd wichtig für die Wirtschaftszweige in Rom war. Das Einzige, was seine Stadt zu bieten hatte, war der nahe Zugang zum Meer und ein paar Wirtshäuser, in dem regelmäßig inländische Touristen residieren konnten.
Der Neugierde zuliebe, lauschte Lovino weiterhin den Gerüchten, die sich wie Lauffeuer verbreiteten. Dabei vernahm er auch einige Wortfetzen der hübschen Mädchenschar einige Meter weiter weg von ihm.
"..., wenn ich es dir doch sage, in dieser Stadt ist es total gefährlich, wer weiß wie lange es noch dauert, bis dieser Terror auch bei uns beginnt!", beschwerte sich die Blonde unter ihnen, die ihre Haare in einem lockeren Dutt trug. Zudem bedeckte eine dünne violette Weste ihre Schultern.
"Marianne, es ist überall gefährlich im Leben. Du könntest auch im Hier und Jetzt vom Blitz getroffen werden und daran verrecken...", das Mädchen neben ihr mit den auffällig weißblonden Haaren schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften, "...außerdem wer weiß, ob du überhaupt ihr Opfer werden würdest, immerhin bist du nicht so gutaussehend und eine Berühmtheit wie ich-"
"Sag mal, Julia, weißt du denn, was ein Spiegel ist? Deiner Aussage zufolge schätze ich eher nicht." Die dritte der vier Mädchen, die ihre langen braunen Haare offen trug und sich im Gegensatz zum Rest in Pastellfarben gehüllt hatte, verschränkte kess, die Arme vor der Brust.
"Ha ha, die kleine Miss Sophia ist ja mal wieder sehr lustig unterwegs...", grummelte die Angesprochene zurück, ehe sie von der lesenden jungen Frau neben ihr unterbrochen wurde.
"Haha, oh dios mío, stellt euch vor", die Brünette zeigte ihren Freundinnen ein Bild in der Zeitung her, "Da hat eine hat einfach einen gesuchten Schmuckdieb mit einer Bratpfanne ausgeknockt, wie geil!"
Dios mío, dachte Lovino, das war doch Spanisch, oder nicht? Antonio sagte das auch immer...
Der Italiener nahm noch einen großzügigen Schluck Wasser, er war wirklich am Verdursten.
"Zeig mal her, Isabella", Marianne schaute genauer hin und las die Bildunterschrift für ihre Freundinnen vor, "Blah, blah...Emma Janssen und Michelle Hoareau wurden am Samstagabend in ihrer Wohnung von einem Schmuckdieb bedroht, doch die 22-Jährige Michelle konnte mithilfe einer Bratpfanne weiteres Unglück verhindern, indem sie dem Verbrecher einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste."
Einen Moment...Emma und Michelle. Das waren doch...Michelle hatte was getan?
Plötzlich spuckte Lovino das Wasser in hohem Bogen aus und hustete daraufhin so grässlich, dass sogar die Mädchen darauf aufmerksam wurden und kaum entdeckten sie Lovinos schreckgebleichtes Gesicht, warfen sie sich Blicke zu.
"Hey, du, ist alles in Ordnung?" Isabella legte den Kopf schief und ging auf Lovino zu, dabei fiel ihm auf, dass die junge Frau tatsächlich größer war als er, sodass er sogar den Kopf leicht anheben musste, um sie anzusehen. Zugegeben, Lovino fand größere Frauen durchaus attraktiv und diese Isabella war auch nicht gerade ein uninteressantes Mauerblümchen, tatsächlich bewunderte er im ersten Moment ihre vor Energie funkelnden grünen Iriden und ihre sanften braunen Locken, die ihr spitzes Gesicht locker, aber durchaus elegant einrahmten. Auch der leichte spanische Akzent, der ihr in der Aussprache des Italienischen erhalten blieb, ließ ihn aufmerksam werden.
"Hä?" Da realisierte Lovino erst, wie ihn die Truppe anstarrte und blitzschnell änderte er seine Position, lehnte sich mit dem Ellbogen an den Trinkwasserbrunnen und stützte sein Kinn mit dem angewinkelten Handgelenk, um möglichst cool und gefasst auszusehen. Hoffentlich war sein Image nicht schon katastrophal genug herabgesunken. Vielleicht konnte er die Situation noch ein bisschen umreißen, um in der Gunst der Mädchen zu stehen. Eigentlich waren sie doch alle umwerfend...und ehrlich gesagt strahlten sie eine Aura aus, vor der er wahnsinnig großen Respekt hatte. "Nein, nein, alles bestens, signora, alles gut."
"Ganz sicher? Du bist noch bleicher als meine liebe Cousine hier. Du siehst irgendwie fertig aus."
"Halts Maul, Sophia! Deine unnötigen Kommentare kannst du dir sparen!"
Lovino presste die Lippen zusammen. Das konfliktträchtige Verhältnis zwischen Sophia und Julia erinnerte ihn viel zu sehr an ihn und seinen jüngeren Bruder Feliciano...viel zu sehr hatten sie sich gegenseitig beleidigt und bloßgestellt...viel zu oft.
"Nein, keine Sorge, ich hab mich nur erschrocken." Rasch überlegte er sich, ob er damit angeben sollte, dass er Michelle sowie Emma kannte und mit ihnen befreundet war. "Entschuldigung für die Frage, aber dürfte ich mir kurz die Zeitung näher ansehen?"
Isabella nickte, zeigte sich aber sichtlich verwirrt über die komische Neugierde des jungen Italieners. Nichtsdestotrotz ignorierte sie ihre Perplexität und streckte Lovino die zerknitterte Zeitung entgegen. Und tatsächlich, auf dem schwarz-weiß gedruckten Bild waren tatsächlich Emma und Michelle zu sehen, sowie einige weitere Fotografien einer geöffneten Bodenplatte und die einer zerrissenen Tapete, hinter welcher sich eine Tür befand. Zackig überflog Lovino den kurz gefassten Artikel und traute seinen eigenen Augen nicht, als er herauslas, was nur wenige Minuten nachdem er seinen Brief abgegeben hatte, passiert war.
Er war der Gefahr so knapp entkommen...
Was wäre nur geschehen, wenn er lediglich ein paar Minuten, wenn nicht sogar Sekunden später angekommen wäre...?
Anscheinend nahm man an, der Verbrecher sei durch das Fenster geklettert, um in das Innere der Wohnung zu gelangen...allerdings fand man nach Untersuchung des Tatortes feine Rissspuren an der zuvor sauber verarbeiteten Tapete, dahinter befand sich eine kleine Kammer in der Wand, die durch eine Falltür mit den weiteren Apartments verbunden zu sein schien...ein gesamtes Netzwerk...das allein in diesem Wohnblock. Der Täter befände sich in Untersuchungshaft und man hoffte, Informationen aus ihm herauszuquetschen. Es handle sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine weit verstreute Kette von Kriminellen, so besagte es das Beweismittel in Form eines winzigen, gestohlenen Notizbuches. Es war nicht auszuschließen, dass jener Schmuckdieb mit den berüchtigten Entführungen der Stadt in Verbindung stand.
"Oh, Dio, non e' vero. Das ist nicht wahr."
Lovino erinnerte sich zurück als er das Bild mit der eingerissenen Tapete sah...hatte er nicht ein ähnliches Bild im Vorbeilaufen erspäht, als er für die schwangere Frau eine Lieferung dabeihatte?
"Was?", die Mädchen rissen ihn erneut aus den Gedanken.
"Nichts", rettete sich Lovino augenblicklich aus seiner Situation und schluckte jegliches Unbehagen hinunter, „es ist nur so, ich wohne in der Stadt; ich kenn die zwei."
Da riss Isabella die Augen erstaunt auf. "Du kennst die zwei?"
"Ja, das sind gute Freundinnen von mir." Zugegeben fühlte es sich komisch an zu sagen, man hätte Freunde. Lovino spürte ein wirres Gefühl im Magen...War das seine Unsicherheit, ob er Antonios Freunde auch als seine Freunde bezeichnen durfte?
"Boah, krass." Julia schmuggelte sich an ihrer Freundin vorbei und Marianne musterte Lovino genauestens. "Und da pisst du dir nicht ins Hemd, wenn du da wohnst? Da murkst jemand fast alle zwei Wochen wegen solchen Wahnsinnigen ab."
Oh und wie sich Lovino eigentlich vor seiner Stadt und den Kriminellen dort fürchtet...Aber das konnte er vor den hübschen Mädchen natürlich nicht preisgeben.
"Natürlich nicht! Ich habe vor absolut gar nichts Angst und wenn ich mal einen von denen tatsächlich vor mir habe, dann werde ich die Person ausschalten, damit sie nie wieder Scheiße fabrizieren kann."
Das war eine dreiste Lüge, jeder der ihn kannte, wusste, dass er sich vor Angst in die Hose machen würde und sich weinend am Boden zusammenkauern würde.
Lovino schluckte, er war doch glaubwürdig genug, nicht wahr?
Marianne schien dem Anschein nach zufolge eher skeptisch zu bleiben, auch Sophia schien eher weniger Glauben für seine Geschichte übrig zu haben.
Verdammt, zwei von ihnen zeigten sich schon einmal weniger begeistert.
"Dann scheinst du ja recht viel Mumm in den Knochen zu haben. Deine Stadt kann sich froh schätzen, jemanden wie dich zu haben." Isabella lächelte ihn breit an. Ihr Lächeln war bezaubernd, sodass Lovino sich zusammenreißen musste, nicht zu einer wandelnden Tomate zu werden.
Aber eigentlich...eigentlich lachte sie identisch wie Antonio, nur waren Isabellas Gesichtszüge offensichtlich weicher.
Lovino hätte sich liebend gerne noch ausgiebiger mit Isabella und den anderen unterhalten, doch gerade jetzt musste sich sein Boss einmischen und ihn zu sich rufen.
Konnte der alte Sack nicht noch ein paar Minuten länger lesen? Lovino war offensichtlich beschäftigt...
Er seufzte genervt auf und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. "Tja, die Arbeit ruft mal wieder...leider!"
"Na dann viel Spaß, eh..", die Spanierin stockte. Lovino hatte sich ihr gar nicht vorgestellt, genau so wenig hatte sie dem kleineren Italiener ihren Namen verraten. Dabei hegte sie bereits erste Sympathie für ihn. Es machte ihr Spaß, sich mit anderen zu unterhalten und neue Leute kennenzulernen.
"Lovino. Lovino Vargas", stellte er sich ihr endlich vor und lächelte, "und wie nennt sich das hübsche Fräulein vor mir?"
Isabella spiegelte sein sanftes Grinsen. Um ehrlich zu sein, war Lovino in ihren Augen eher niedlich als attraktiv, selbst wenn er versuchte, sich bei ihr einzuschleimen. "Isabella Antonia Hernandez, nenn mich einfach Isabella oder Isa."
"Ein hübscher Name, passt zu dir!" Lovino zeigte sich extra von seiner besten Seite, zumindest hatte eine von ihnen anscheinend angebissen. In seinem Kopf tanzte er bereits ein Siegestänzchen. Vielleicht waren die ewiglangen Ratschläge seines Opas doch nicht so unnütz.
Wieder rief Enrico nach Lovino, dieses Mal energischer. Er hatte es wohl eilig.
Tja, das war offensichtlich seine Schuld, da er der erste war, der sich ablenken hat lassen. Lovino hatte lediglich die Zeit sinnvoll verstrichen.
"Ich glaub, du solltest dich beeilen, der alte Knacker scheint langsam grantig zu werden." Marianne deutete mit dem Kinn auf Enrico.
"Meh, der wird nicht so schnell wütend. Naja, dann ciao und einen wunderschönen Tag noch" Lovino zuckte mit den Schultern und musste wohl oder übel den Mädchen den Rücken kehren, als Isabella ihm doch noch eine Sekunde seines kostbaren Lebens stahl.
"Hey, wenn du magst oder Zeit hast, könnten wir uns trotzdem nochmal wo treffen. Ich kann dir ein paar gute Cafés und Gelaterias zeigen."
"Deal, du hattest mich spätestens bei Gelateria." Und so hatte schließlich die junge Frau den Spieß umgedreht und tatsächlich die Initiative ergriffen, sich nochmal mit dem niedlichen Italiener zu treffen. In Lovinos Hirn ratterten bereits die ersten Räder, erst im Bruchteil einer Sekunde, nachdem er zugestimmt hatte, bemerkte er erst, dass Isabella ihn gerade indirekt auf ein Date eingeladen hatte.
Eigentlich war es nur ein stinknormales Treffen. Aber Lovino interpretierte es bereits als mehr und er spürte eine rasche Hitzewelle in seinem Gesicht.
"Gut, hast du zufällig morgen Abend Zeit? So um...", die Brünette mit den rubinroten Lippen warf einen Blick auf die Kirchenuhr, "um circa 19:00 Uhr? Hier in der Nähe vom Bahnhof?"
Lovino nickte heftig und hoffte mit ganzem Herzen, dass er nicht rot geworden war. "Ich glaub, da dürfte es sicher schon gehen. Ich freu mich drauf." Lovino durchlebte offensichtlich eine komplette Wesensveränderung. Er kannte sich selbst nicht so fröhlich. Leider hielt diese Freude nicht lange, denn es war höchste Zeit, endlich zu seinem Chef zurückzukehren, bevor er sich das mit dem Fahrtweg-Zahlen anders überlegte. Schnell verabschiedete er sich von den vier jungen Damen und sprintete mit einem komischen, verschmitzten Grinsen im Gesicht zu Enrico zurück.
"Ouuu, Isabella! Schon wieder auf der Suche nach einem Neuen?" Marianne und Julia wackelten belustigt mit den Augenbrauen, als wollte sie schon etwas andeuten.
"Nein! Seid ruhig!"
***
Lovino bremste scharf ab, die glattgelaufenen Steine unter seinen Füßen brachten ihn dabei beinahe wieder zum Schwanken, als er sich endlich wieder bei Enrico wiederfand. Strahlend und mit einem lebendigen Rotstich im Gesicht war er auf einmal wie ausgewechselt.
"Was ist denn mit dir passiert?", Enrico hob verwundert die linke Augenbraue und grinste verschmitzt, als er Lovinos Grund für seine plötzliche Heiterkeit entdeckte, "Oh, ich seh' schon."
"Hä, was?", der Italiener fasste sich selbst ins Gesicht.
"Ich war auch mal jung, Junge, ich seh sowas doch. Herzlichen Glückwunsch", der alte Mann faltete seine gekaufte Zeitung zusammen und stopfte das dicke Paket in die kleine Tasche seines wolfgrauen Gilets, "aber vergiss nicht, wir sind nicht nur zum Vergnügen hier, wir fahren nächste Woche wieder ab."
Lovino verdrehte seine bernsteinfarbenen Augen. "Ich weiß."
Natürlich wusste er es, er war nicht blöd. Ihm war bewusst, dass er nicht die Zeit dazu hatte, sich andauernd mit Mädchen zu treffen und dass ihn diese Uni-Fortbildung stundenlang beschäftigen wird.
Still hob er die Taschen vor vorhin wieder auf und ging neben Enrico her. Je mehr Schritte er setzte, desto mieser schnürten ihn die Griffe an seiner Handinnenfläche zusammen. Nach wenigen Minuten qualvollen Fußmarsches durch die Mittagssonne standen sie nun endlich vor dem etwas fernab von der Hauptstraße liegenden Hotel San Lorenzo, ein schwarzer, spitz zulaufender Gitterzaun versperrte den Zugang zu einem Hof nebenan. Zu Lovinos rechter Seite konnte er einige Bögen der inneren Stadtmauer entdecken, sie hatten ebenfalls einen warmen Ton, der perfekt zu den umliegenden Häusern passte.
Na endlich, dachte sich Lovino kurze Zeit darauf und stöhnte auf, als er das Gepäck in seinem Zimmer abstellen konnte. Er hatte echt keinen Bock mehr auch nur irgendwas einen Meter weiterzutragen und wenn es nach ihm ginge, hätte er sich direkt in das frisch gemachte Bett geschmissen und ein mehrstündiges Nickerchen gehalten. "Oh Gott, ich will jetzt schon nicht mehr...", jammerte er sich selbst zu, als er die hölzerne Zimmertür hinter sich schloss und den Schlüssel umdrehte. Jegliche Energie von vorhin war endgültig dahingeschieden. Warum war es nur so schwer, sich für die Arbeit zu motivieren?
Während er so die Stiegen hinab ins Erdgeschoss wanderte, hingen seine Gedanken stetig an Antonio, Emma, Michelle und Abel. Was sie wohl in seiner Abwesenheit so trieben?
Ob Antonio auch ganz sicher seinen Brief gefunden und auch gelesen hatte?
Um ehrlich zu sein, hatte Lovino ein widerlich mieses Gefühl bei der Sache. Während er sich sicher war, dass Michelle bei Emma und Abel war, als er seine Briefe einwarf und sie über seine Abwesenheit Bescheid wusste, gab es bei dem Spanier eine gewisse Sache...
Er war aufmerksam, das stimmte zwar.
Aber der Typ war auch so schusselig und blind von Zeit zu Zeit, dass ihm schon ein bisschen weniger guttun würde.
Als Lovino nun schließlich unten angekommen war, dauerte es keine drei Minuten mehr, bis auch Enrico auftauchte und sie gemeinsam den Weg zur Universität La Sapienza suchten. Der Landkarte zufolge müsste die Uni ganz in der Nähe sein, es war also ein Katzensprung. Die eigentliche Schwierigkeit bestand wohl eher darin, dass sie vor Ort einmal das richtige Gebäude des Universitätsviertels finden mussten, geschweige denn vom richtigen Vorlesungssaal. Auf ihrem Weg dorthin entdeckte Lovino allerdings zahlreiche, komisch geformte Boxen in der Gegend herumstehen. Ob das wohl diese neuartige Telefonzelle darstellen sollte?
Wenn ja, der Erfinder der Box drumherum hatte eindeutig keinen Sinn für Ästhetik, denn es sah aus wie ein überdimensionaler Mistkübel.
Dennoch...Lovino hegte ein reges Interesse daran, eines Tages mit jemandem zu telefonieren und deren Stimme durch den Hörer zu hören.
Würde es ein Rauschen geben oder gäbe es einen angemessenen, klaren Ton?
Für Lovino blieb diese gesamte Funktionsweise ein Rätsel, aber sie hatte ihren Reiz.
Und so trug es sich zu, dass Enrico und sein hitzköpfiger Assistent gerade noch rechtzeitig in den Hörsaal platzten und sich in eine der freien mittleren Reihen setzten. Lovino, der wie ein kleines Kind, neugierig über die Welt staunte, konnte sich leider gar nicht wirklich konzentrieren. Sein Interesse galt lediglich der immensen Größe und prächtigen Ausstattung dieser Bildungsstätte, angefangen von den marmorfarbenen, barocken Verzierungen an den Rändern der Wände im Innen- und Außenbereich bis hin zu den vielen verschiedenen Räumlichkeiten, die mehr Platz boten als so manches Haus.
Verträumt kritzelte er auf seinen Papierbögen herum und anstatt wertvollen Informationen zu notieren, landeten eher detailliert skizzierte Zeichnungen darauf. So mochte er das Zeichnen viel lieber..., wenn er frei das Abzeichnen oder kreieren konnte, was im Wichtig war und nicht, was ihm jemand vorsetzte oder ansagte.
Das war wohl das erste Mal seit Monaten, dass Lovino wieder gerne den Stift in die Hand genommen hatte, ohne Druck zur Perfektion oder zu Zwang zu verspüren.
Neben den Skizzen von den wunderbaren baulichen Details landeten auch Bilder von Landschaften und Plätzen, die er auf seiner Reise entdeckt hatte, auf das Papier, das nun auf seiner ursprünglich weißen Oberfläche zahlreiche graue Striche im Zaum halten musste, bis schlussendlich ein vielfältiges Gekritzel entstand.
Und schließlich fanden auch Emma, Abel, Michelle, Isabella, die Rückenansicht eines unbekannten Kursteilnehmers und auch Antonio ihren Platz auf dem Zettel, während der Vortragende weiterhin über die neuesten medizinischen Errungenschaften und Studien laberte.
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