
Kapitel 10 - Der Tod vor ihren Füßen
Müdigkeit prägte seinen Gang, die Augen sehnten sich nach einem erholsamen, friedlichen Schlummer bis in den späten Nachmittag.
Das Bedürfnis nach Wärme, nach einem weichen, gemütlichen Bett, wuchs stetig heran und machte es für Lovino schwer, wachsam zu bleiben.
Eines wusste er: Kaum käme er zuhause an, fiele er in sein Bett und schliefe in der Sekunde genau ein.
Mitternacht gehörte der Vergangenheit an und der Schrecken der Straße war vergessen. Vielleicht lag es an der aufheiternden Stimmung der Bar, vielmehr allerdings am Alkohol.
Ins Koma gesoffen hatte sich der junge Erwachsene nicht, er käme ansonsten auf dumme Gedanken, die in Sach- und Selbstbeschädigung aufgrund unüberlegter Ideen endeten.
Abel, Emma und Michelle traten den gemeinsamen Heimweg an, Francis hatte sie der Sicherheit halber beraten, nicht einzeln nach Hause zu gehen, sondern in einer Gruppe zu bleiben.
Lovino stand in der Garderobe, unbewusst angespannt an den Fingernägeln kratzend, während Antonio sich seine schwarze Jacke über das weiße Hemd schmiss.
Der innere Stress hinterließ keine bemerkbaren Spuren in Lovinos Gedankenwelt, sondern kam in seinem Verhalten ans Tageslicht. Ruhelos geisterte seine Seele in ihm herum, wusste nicht so recht, wo sie Zuflucht und Hilfe finden konnte. Die Furcht vor dem Unbekannten, das in der Außenwelt lauerte, ließ sie verkümmern und hielt sie davon ab sich weiterzuentwickeln..., dass Lovino sich weiterentwickelte.
Er steckte fest. In einem Dilemma, das er sich selbst hinzugefügt hatte und wo er den Ausweg selbst erklimmen müsste. Sein Leben und sein Schicksal...beides lag in seiner Hand. Und zwar nur in seiner Hand und niemand könnte etwas daran ändern, außer er selbst.
"Bist du fertig, Lovino?" Antonio legte ihm die Hand auf die Schulter und Lovino riss es abrupt aus seiner Gedankenwelt. "Ja, ja. Schon lang, hoffen wir mal, dass der komische Typ weg ist und nicht mehr wieder kommt", brabbelte der Italiener vor sich hin und drückte mit bebendem Herzen in der Brust die kalte metallene Türklinke hinunter. Augenblicklich umschloss ihn ein erfrischender Windstoß, der ihm die Haarspitzen aufplusterte und seine Lunge förmlich von aller Schwere befreite. Lovino genoss die spontane Frische der Sommernacht, dennoch nagte das Wissen an ihm, dass sich noch vor kurzer Zeit jemand Suspektes in diesen Gassen aufhielt. In aller Einsamkeit seine Wohnung aufzusuchen war keine Option für ihn, umso erfreuter war er wiederum, sich sicher zu sein, dass Antonio ihn nicht seinem Schicksal überlassen würde. Zumindest hoffte er darauf, dass er ihn nicht allein ließ. Was, wenn Antonio ihn nur bis zu seiner eigenen Wohnung begleitete? Sie lag doch näher... Würde Lovino den restlichen Heimweg schaffen, ohne von den Horrorszenarien in seinem Kopf übermannt zu werden?
Ach, er führte sich auf wie ein kleines Kind, das nichts allein zustande brachte.
Lovino war doch schon über zwanzig Jahre alt, er sollte bereits fähig sein, auf sich selbst aufzupassen und selbstbewusst durchs Leben zu schreiten. Aber...warum funktionierte es nicht?! Bevor er wusste, dass hier jemand lauerte, war doch alles in Ordnung...
Hoffentlich... Hoffentlich blieb Antonio bei ihm, bis er sich sicher genug fühlte. Es fühlte sich an, als könnte hinter jeder Ecke jemand lauern, der ihm an den Kragen will...als ob ihn die ganze Welt bis aufs Blutigste hasst.
"Hey", er schaffte es nicht mehr, sich auf das ungewisse 'Vielleicht' zu verlassen, "Wir gehen doch gemeinsam nach Hause, oder?"
Lovino warf einen flehenden Blick nach hinten und mit einem Satz stolperte er beinahe die Steintreppen hinunter auf die staubige Straße. Prompt hielt er sich am Treppengeländer fest und harrte den kraftvollen Puls aus, der wie ein Hammer gegen seine Rippen knallte und ihm die Luft zum Atmen raubte.
Antonio zuckte zusammen, Lovino hatte ihm einen Schrecken eingejagt, als er den Halt verlor. Besorgt suchte er um Blickkontakt zu seinem Freund. "Woah, alles gut?"
"Jaja, hab nur nicht aufgepasst." Seine Hände trennten sich vom Gelände und versteckten sich, ohne zu zögern in seiner Jackentasche.
Antonio atmete erleichtert durch.
"Gut, und ja, wir sollten gemeinsam gehen. Ist sicherer für heute."
Allein diese belanglosen, simplen Worte, die ersten Blickes keinerlei Bedeutung trügen, besänftigten Lovinos akuten Stress. Die schnürende Qual um Lovinos Brust löste sich wie die Kordel eines dicht anliegenden Korsetts auf, diese psychische Enge ließ von ihm ab und schenkte ihm den Freiraum, nach dem er sich sehnte. Die Dankbarkeit, die sich in seinem Herzen breitmachte, suchte sich einen Weg der Offenbarung, schaffte aber lediglich ein leise gezischtes "Danke" herauszupressen, ehe Lovino in seine In-sich-gekehrte-Rolle zurückfiel, die ihn Tag ein Tag aus wie ein taubesetztes Spinnennetz umspannte und ihm die Möglichkeit der Flucht in einen Neuanfang erschwerte.
"Ist doch logisch!", der meist optimistische Spanier klopfte ihm guter Gesinnung mit der flachen Hand auf den Rücken, "Als Freund und anständiger Mensch steht man anderen zur Seite. Außerdem bist du mir viel zu wichtig, dass ich dich bei so einer unmittelbaren Gefahr allein lassen würde."
Wichtig...
Lovinos Mund öffnete sich einen Spalt; Verwunderung rüttelte an seinen Herzsträngen, begleitet von unterschwelliger Glückseligkeit. Seine Augen blitzten im Licht der Straßenlaternen kurz auf.
Lovino war jemandem wichtig...
Geschwind wagte er einen Blick auf Antonio zu werfen, schnellte seine Sicht jedoch Sekunden später wieder in Richtung grauer Pflastersteine.
Niemand hatte jemals zugegeben, dass Lovino einen gewissen Wert in seinem Leben hatte. Nicht einmal der Großvater, den er über alles liebte, hatte es ihm in Worten übermitteln können.
Niemals ahnte Lovino, wie sehr ihn einfache, alltägliche Worte bewegen konnten...
Wie sehr er sie sich im tiefsten Inneren seiner Seele gewünscht hat...
Trotz der Flut an positiven Emotionen, die Lovino mit sich mitriss und ihn schützend umschloss wie eine warme Decke, trug seine Visage eine aussagelose Mimik, ein Poker-Face, von dem niemand ablesen konnte, was in ihm tatsächlich vorging.
Er hatte sich dieses immerhin seit frühester Kindheit antrainiert, wenn er gescholten wurde.
Aber dann...ein kleines Lächeln zeigte sich dann doch auf seinem Gesicht, welches er ganz heimlich und unauffällig Antonio schenkte. Womöglich hatte es dieser nicht einmal gemerkt.
Doch der Eindruck blieb und ein wohliges Gefühl wohnte in seiner Brust.
"Naja, so egal bist du mir auch nicht, auch wenn du nervst. Darum werde ich dich mit meiner bloßen Anwesenheit noch einige Zeit entschädigen. Sehe es wie du willst, als Strafe oder als Belohnung, mir egal." Lovino biss sich auf die Unterlippe und ein Schandegefühl jagte ihm über den Rücken. Er war eine Katastrophe. Selbst ein kleines Kind konnte sich und seine Gefühle besser ausdrücken als er. Antonio war so nett und zuvorkommend zu ihm, während er sich automatisch wie ein ungehobeltes Gör aufführte. Es war zum Haare Raufen! Antonio hätte ihn nie kennenlernen dürfen, Lovino war einfach nicht dazu gemacht, Freunde zu haben. Er behandelte sie so schlecht. Und er-
"Aw, danke", warum lachte Antonio darüber? Lovino zog die Augenbrauen zusammen und war sichtlich verwirrt. "Ich hab mir schon gedacht, dass du mich nicht so sehr hasst. Ich freu' mich, wenn du mich nicht gleich davon schickst."
"Hä?", rutschte es ihm heraus, welches er augenblicklich mit Reue begegnete. Doch Antonio grinste nur und nahm die schroffe Art Lovinos mit Humor, als wüsste er von Anfang an Bescheid, was Lovino mit seiner unbeholfenen Wortwahl versuchte zu sagen.
Wenig wusste Lovino, dass gerade dieses freundschaftlich-anstachelnde Verhalten jemandem ähnelte, den Antonio einst fest in seinem Herzen verankert wertschätzte und liebgewann.
Jemand, den er einst durch die Musik seines Herzens und einem bedeutungsvollen Blumensträußchen am Hemd kennenlernte.
Es dauerte nicht mehr lange, dachte Antonio, dann wären sie endlich außerhalb des Stadtzentrums mit seinen zahlreichen verwinkelten Gassen angekommen und Lovino wäre in Sicherheit. Sie bräuchten lediglich rund zehn Minuten und von unheilvollen Gestalten gab es keine Spur mehr. Zum Glück, ein zweites Mal wollte man so etwas nicht erleben.
Ihre rastlosen, hastigen Schritte klackten.
Wachsamen Auges sputeten sie sich durch die Nebenstraßen, bogen einmal nach links und einmal nach rechts ein und schauten nie zurück oder riskierten eine Sekunde Pause.
Dennoch schien die Luft rein zu sein, die Stadt im Mondschein, unter einem dunklen Himmelstuch versteckt, wirkte gar zu malerisch friedlich. Ein Gemälde der stillen Nacht einer gestressten Stadt, wie sehr meldete sich Lovinos innerer Künstler zu Wort, diese Idee eines Tages umzusetzen. Nur wenige Wohnungen waren beleuchtet und warfen, neben den Laternen, Licht auf die Straßen. Lovino atmete tief ein. Die Luft war angenehm kühl. Ein krasser Kontrast verglichen zum stickig-heißen Tag. Klitzekleine Mücken schwirrten wie Motten um die strahlenden Glühbirnen, sogen das betörende Licht gedankenlos in sich auf. In gewisser Weise ähnelten sie den Menschen. Auch sie schwirrten wie verrückt durch die Welt, suchten nach ihrer Bestimmung im Leben, ihrem Licht, und wenn sie dieses endlich ergreifen könnten, wenn sie es nach jahrelanger Suche und Zweifel endlich vor ihren Füßen vorfanden, dann ließen sie sich keineswegs so leicht abschütteln. Für manche war jenes Licht - jener Schatz - die Liebe, für andere war es eine Leidenschaft zur liebsten Tätigkeit und wieder andere fanden ihr Licht in der Stille bei sich selbst. Und doch klagten die Menschen; manche verstümmelten seelisch auf der Suche ihres persönlichen Lebensschatzes. Aber das Klagen brachte sie nur schwer weiter. Es war schwierig, Schritte zu machen, wenn man sich an die Vergangenheit und Misere des Lebens gefesselt wiederfand, dennoch wollten die allzeit Klagenden ihren Schatz erreichen. Sie bräuchten einen Schubs in die richtige Richtung, einen Schubs zur Selbstentfaltung. Vielleicht kämen sie dann an ihr Ziel, wenn sie nicht wie Motten und Mücken staunend vor ihrem Wunsch herumflogen, sondern danach griffen.
Lovino gähnte. Bestimmt war schon der nächste Tag angebrochen und seinem ermüdeten Körper war immer noch keine Rast vergönnt. Wie spät war es genau? Die Temperatur war so niedrig, womöglich reichte ihr Wachsein in die frühen Morgenstunden.
Dunn.
Die Kirchenglocke läutete, sendete ihre anmutigen, schweren Schallwellen durch die gesamte Stadt und weckte im schlechtesten Fall das Vieh oder einen Säugling aus der nächtlichen Rast heraus.
Lovino sah schräg nach oben, über die Dächer der Häuser hinüber, und erkannte von Weitem die beleuchtete Uhr des Kirchenturmes. Viertel nach eins. So spät waren die beiden dann doch nicht dran, wie vorerst vermutet. Ein lautloser Gähner entwischte ihn, als sie endlich an der letzten Kreuzung passierten, ehe Fuß auf das vor ihnen liegende Viertel setzten, in dem sich Geringverdiener wie Lovino tummelten. Auch Antonio war froh, aus dem unübersichtlichen Gassenhaufen der Altstadt geflohen zu sein, die Gegend hier wirkte bereits viel heimischer und ruhiger. Guten Gewissens und erleichterten Herzens atmete er tief ein. Sie waren noch einmal davongekommen, ohne die komische Gestalt wiederzusehen.
Was für ein Glück.
Doch...
Was war das?
Etwas Übles lag in der Luft.
Sacht und leise legte sich ein muffiger Gestank in den Wind.
Er wurde immer stärker, immer mieser, je weiter sie voranschritten.
Sein Herz erstarrte, riss sich angespannt hin und her, die elendige Furcht in seiner Brust hausend, und doch blieb Antonio möglichst ruhig. Seine Sicht verschwamm sekundenweise, kehrte wenige Augenblicke wieder zurück und driftete anschließend wieder kurz ab. Sein Bewusstsein verfiel in einen Schlaf, der einer Ewigkeit währte, dennoch nur mit einem Wimpernzucken in der Realität vergleichbar wäre. Antonio driftete stetig ab, tausende Vermutungen überfluteten seinen Kopf und bereits erahnend, was der Urheber jenes grausigen Gestankes war, näherte er sich Lovino an und hielt Augen und Ohren, sofern es ihm in seinem verfallenen Zustand möglich war, offen.
Seine Beine spannten sich an; sie wollten gar nicht mehr weitergehen.
Seine Augen wollten die Dunkelheit; sie wollten nichts sehen.
Sein Kopf suchte die Leere; er wollte nicht jenes Gräuel in sich geprägt haben.
Lovinos Wörter wurden von einer unsichtbaren Wand verschluckt, erreichten nie Antonios Ohren, obwohl er direkt neben ihm stand und zu seiner Rechten die Hauswände vor Gefahren schützten.
Antonio wandte seinen Kopf der Nase nach, schaute über Lovinos Kopf hinaus auf die andere Straßenseite, des engeren Güterwegs, auf dem sie sich befanden. Man sah perfekt auf die kleinen Gänge zwischen den einzelnen Häusern, selbst die Anzahl an Lagerfässern war leicht zu erkennen und mittendrin...
Antonios Augen weiteten sich.
...mittendrin...
Sein Mund öffnete sich leicht.
...mittendrin...floss ein kleines Bächlein tiefroter Farbe...
Reflexartig packte er Lovinos Oberarm...
"Hey! Was soll das?!"
...und er riss ihn mit sich...so schnell wie möglich um die nächste Ecke des Hauses mit dem herabblätternden, beigen Putz.
"Sag mal, spinnst du?!"
Lovino wehrte sich. Er verstand Antonios willkürliches Handeln nicht.
Antonio drückte den jungen Mann an sich, machte sicher, dass er keines Weges nach rechts blickte.
Er durfte nicht sehen...
Er durfte DAS nicht sehen.
Er durfte nicht sehen, wie...am anderen Straßenweglein erneut jemand sein Leben loslassen musste.
Antonio warf panisch einen Blick zur Seite, Lovino aus seinen Armen nicht entwischen lassend. Tatsächlich.
Die Nacht hatte erneut nach einem Opfer gerufen und sie hatte es vollbracht...
Die Person rührte sich nicht mehr, keine Bewegung schaffte es, sich durchzukämpfen. Der Tod musste ihn blitzschnell übermannt haben. Jede Hilfe war zu spät und der Mörder könnte hinter jeder Ecke lauern.
Scheiße. Verdammte Scheiße.
"Antonio, verdammt, was ist in dich gefahren?!" Lovino protestierte laut, drückte sich schon weg, versagte aber, "Wehe, es gibt keinen guten Grund dafür!"
Aber eine Antwort fand Antonio nicht.
Bemühen um eine Erklärung konnte er sich ewig, und doch kam nichts weiter als ein abgebrochener, zittrig klingender Schluchzer, der sich selbst von der konzentriertesten Selbstbeherrschung nicht abhalten ließ.
Da verstummte Lovino.
Noch nie hatte er seinen Freund schluchzend erlebt.
"Tut mir leid." Beschämt murmelte Antonio vor sich hin, wohlwissend, dass Lovino jedes Wort verstand. "Ich bitte dich, vertrau mir. Sieh nicht nach rechts."
Rechts? Was sollte denn dort sein?
"Was redest du für einen Stuss zusamm-", plötzlich stieg auch ihm der üble Geruch in die Nase...und Lovino wurde vorsichtig, während sein Puls innerhalb eines Augenblicks in die Höhe schoss. Und auf einmal wurde ihm entsetzlich heiß. "Antonio...", Lovinos Stimme zitterte, er brachte seine Wörter nur mehr zögerlich heraus, "Was...ist rechts?"
Keine Antwort.
"Antonio...ist etwas...passiert, während wir weg waren?"
Antonio verkrampfte sich, je mehr Fragen auf ihn herabfielen, Lovino spürte dies an seinem Arm, der an seinem Rücken klammerte. Wenn er sich falsch ausdrückte...was passierte dann mit Lovino?
"An...tonio." Er ahnte bereits, seine Atmung wurde unregelmäßiger und rasant. Weswegen würde Antonio sonst plötzlich so...anders reagieren, wenn nicht etwas...absolut Grauenvolles geschehen war. Lovino fühlte sich schlecht. Seine Augen zuckten rastlos hin und her. Übelkeit überkam ihn, sein Bauch zog sich abrupt zusammen und er hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen.
Hier. Hier ganz nahe. Hier gleich rechts starb jemand. Durch die Hand eines anderen.
Alles drehte sich. Farben, die er einst Menschen und Gegenständen zuordnen konnte, verschwammen ineinander und drohten, in ein schwarzes Nichts zu fallen. Seine Beine gaben nach und verloren jegliches Gefühl. Wo war Lovino überhaupt? Was geschah um ihn herum?
Antonio agierte hektisch und stützte den Kräfte und Bewusstsein verlierenden Lovino so gut es ging. "Lovino!" Er durfte nicht ohnmächtig werden. Keinesfalls hier an diesem Ort. "Lovino, schau mich an!" Antonio umfasste sein Gesicht zärtlich, fuhr mit den Fingerspitzen durch seine braunen Haare. Er durfte sich nicht zu sehr auf seine Ängste einlassen. "Konzentriere dich auf meine Augen. Ich bin hier..." Doch Lovino tat sich schwer, schaute unsicher hin und her und schaffte es nicht, sich auf einen Punkt zu fixieren.
Er hatte Angst.
Was sollte er tun?
Er wollte nur weg!
"Lovi, bitte, schau mir nur in die Augen und konzentriere dich auf mich. Denk an irgendwas von mir. Vielleicht, dass meine Haare schrecklich aussehen oder dass meine Augenringe mich uralt aussehen lassen. Irgendwas."
Stille.
Luft.
Kälte.
Ruhe...
Sein Herzschlag verlangsamte sich; er wurde ruhig.
Seine Atmung...sie endete mit einem tiefen Einatmen wieder in ihr normales Schema.
Seine Übelkeit und die Hitze, die ihn umgab, sie verblassten.
Lovino sah seinem Gegenüber wortlos in die smaragdgrünen Iriden, erfasste jeden Lichteinfall, der sich durch die dämmrige Straßenlaterne ergab. Und Lovino wurde ruhig. Empfindungen hatten ihn verlassen, aber er war ruhig. Er konnte atmen. Last und mentale Fesseln fielen von ihm ab und er sammelte Stärke, um zumindest wieder stehen zu können.
Er hatte es geschafft.
Er hatte es durchgestanden.
Erleichterung durchflutete Antonios Seele, Zeit für Erholung blieb ihnen jedoch nicht. Sie mussten weiter. Sie mussten sich schnellstmöglich in ihren Wohnungen verkriechen, die Türen absperren und auf das Beste hoffen. Den Fall melden sollten sie dennoch. Antonio würde dies allerdings allein tun, er wollte möglichst wenig darüber sprechen, solange Lovino bei ihm war.
"Geht's wieder?" Der Ältere schenkte Lovino wieder Freiraum. Lovino nickte still, sah aber unzufrieden zu Boden. Antonio ließ die Schultern hängen und sah ein letztes Mal zwiegespalten auf das blutig endende Gräuel der kalten Augustnacht.
"Ich melde das später. Wir sollten nach Hause gehen."
***
Mit lautem Wumms fiel die schwere Holztür hinter ihnen in das rostige Schloss und rastete sich aus eigener Kraft ein. Die Holzdielen unter ihnen knarzten, der umgedrehte Schlüssel erzeugte ein klares Klacken. Lovinos angehaltener Atem entlastete ihn nun, ein leises Zischen entfloh Lovinos Mund, als der sachte Luftstoß an seinen Zähnen vorbeizog.
Endlich zuhause.
All die Last, die sich auf dem Heimweg angesammelt hatte, fiel von seinen Schultern.
Hier würde ihnen nichts passieren, oder?
Ein flüchtiger Blick zu Antonio: Er war bei ihm, schien jedoch für den Moment geistig abwesend zu sein. Mit einer raschen Handbewegung wedelte Lovino mit der Hand vor seinem Gesicht herum und riss ihn augenblicklich wieder in die Realität. Er musste wohl kurz abgedriftet sein, er sprach seit einigen Minuten kein Wort mehr.
"Erde an Antonio, bis du noch da?"
Es dauerte eine Weile, bis er völlig begriff, was der knapp Jüngere sagte.
"Ja, schon da!" Unbeholfen kratzte er sich am Hinterkopf. Mann, war das peinlich...Doch da schoss ihm auf einmal wieder der Zwischenfall von der Straße in den Sinn und ein unangenehmes Zerren kämpfte sich durch seinen Magen.
Beschämt folgte er Lovino in sein kleines Kämmerlein, das er Wohnung nannte und eigentlich nur aus einem Bett und einem Schreibtisch gegenüber bestand. Er besaß tatsächlich wenig Raum. Dagegen war seine eigene Wohnung schon reinster Luxus, obwohl gute zwei Drittel davon Möbel und Krimskrams aus seinem Elternhaus waren. "Nochmal Entschuldigung wegen vorhin. Ich wollte wirklich nicht grob sein. Ich -"
Lovino verdrehte bloß die Augen, raunte in sich hinein und schmiss sich rücklings in sein Bett hinein, das schon weichere Tage gesehen hatte. Das Gefühl endlich mal nicht auf den Beinen stehen zu müssen erfüllte ihn mit Freude. "Ach, Scheiß drauf. Du hast mir dafür den Anblick von abartigen Leichen erspart." Ein gequältes, müdes Grinsen zwang sich auf sein Gesicht. "Eigentlich sollte ich 'Danke' sagen für vorhin, aber das würde meinen Ruf als ungezogenes Balg zerstören."
Wohlwissend, dass Lovino alles, was ihn und Nettigkeit betraf, nicht durch die Blume sagen konnte und sich in seiner pessimistischen Art und Weise suhlte, lächelte Antonio tölpelhaft. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als das als Danke anzunehmen. Man konnte sagen, dass es zumindest als sehr individuell dargebotenes Danke zählte.
Antonio warf einen Blick auf das Fenster neben Lovinos Bett, zögerte aber nicht lange und zog die Vorhänge zu. Obwohl die Öllampen nicht strahlend hell leuchteten wie die Straßenlaternen, wäre es trotzdem unangenehm, wenn Herumirrende von draußen sähen, dass sich noch zwei Verrückte gegenseitig wachhielten. Sorgenvoll musterte Antonio seinen Freund und stellte fest, wie erschöpft der Einundzwanzigjährige aussah. Kein Wunder, in dieser Nacht wurde er immerhin quasi von A nach B gejagt. Er verdiente seine Ruhe und am besten verarbeitete er den Wahnsinn im Schlaf.
"Ich bin so bescheuert..." Lovino drehte sich mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Seite und krallte sich mit den Fingern in seine Decke hinein.
Er war wütend.
Und der Zorn richtete sich ausschließlich auf sich selbst. "Ich kann mich echt nie zusammenreißen. Verdammt, ich bin einfach nur jämmerlich!"
Antonio sah verwundert auf und war im ersten Moment von Antonios negativem Selbstbild überrumpelt. "Lovino?"
"Es kann doch nicht sein, dass ich echt nichts allein hinkriege. Ich bin erwachsen, verdammt nochmal und trotzdem versage ich nur. Nicht einmal schaffe ich es, in so einer Situation ruhig zu bleiben. Ich hasse es, warum kann ich diesen ganzen Mist nicht einfach beiseiteschieben."
Lovino setzte sich allmählich wieder auf und fasste sich mit den Händen ins Gesicht.
"Warum kann ich mich nicht zusammenreißen? Warum kann ich nicht einfach sein wie du?"
Aus der aggressiven Stimme wurde ein zerbrechliches, verstummendes Schluchzen. Dass er vor nicht allzu langer Zeit einer Panikattacke trotzen konnte, als er das Paket für eine Kundin auslieferte, geriet völlig in Vergessenheit. Es fühlte sich an, als hätte er nach all dem erhofften Fortschritt nichts weitergebracht.
Wie ein scharfer Schuss traf es Antonio in der Brust. Er war doch genau so hoffnungslos verloren gewesen. Er hatte doch auch Angst gehabt.
"Antonio, sag mir, bin ich wirklich so eine wandelnde Katastrophe, wie es alle immer behaupteten? Ich bin nichts weiter als ein zu groß geratenes Kind..."
Und wieder. Ein scharfer Schuss mitten ins Herz. Es zerriss ihn, Lovino so verloren zu sehen.
"Alles ist gut, Lovino." Nicht wissend, was er tun sollte, setzte er sich neben Lovino auf das Bett und legte ihm die Hand auf die linke Schulter. "Eine wandelnde Katastrophe bist du niemals. Da müsstest du noch abertausende Male schlimmer sein und das geht gar nicht. Irgendwann wird das schon funktionieren. Irgendwann wirst du auch mehr Kontrolle über dich haben, immerhin bist du nicht sofort ohnmächtig geworden. Du konntest dich konzentrieren und hast dich beruhigt. Das ist doch auch ein Erfolg, oder nicht?" Schnell plapperte der Spanier alles herunter, was ihm einfiel, ob es Sinn machte, war ihm selbst ein Rätsel. Er dachte nicht nach. "Also ich persönlich bin stolz auf dich und das mit dem groß geratenen Kind...pfft...wir sind noch jung, bei uns hat die Pubertät noch gar nicht ihr Ende erreicht, die Reife und Selbstständigkeit kommt mit der Zeit von allein. Das hat meine Abuelita immer gesagt."
Lovino sah ihn schweigend an, wandte seinen Blick wieder ab, raufte sich die Haare und schnaufte. Er hatte mal wieder die Fassung verloren und Antonio durfte seine Stimmungsschwankungen ausbaden. Na super, Lovino war ja wirklich ein toller Freund.
"Scusa. Entschuldigung, ich wollte nicht so ausbrechen."
"Schon gut." Schief grinsend verwuschelte er Lovinos dunkles Haar und wurde augenblicklich mit Protest begrüßt.
"Hey!" Lovino schmollte, zog die Augenbrauen zusammen und schmiss ihm sein Kissen mit dem hässlichen Karomuster in die Fresse, das kurz darauf lasch und mit dumpfem Aufprall auf seinen Schoß plumpste. Was fiel ihm nur ein, seine Haare anzufassen?!
Anders als erwartet entgegnete ihm sein Gegenüber mit Lachen. Lovino blinzelte ihn perplex an, steckte sich allerdings recht bald an Antonios erfreuter Laune an und verkniff sich seinen Grinser nur vergebens. Was machte Antonio nur mit ihm? Seine griesgrämige Art brach ansonsten kaum einer auf, geschweige denn brachte ihn jemand dazu, zu lachen.
"Da entschuldigst du dich erst und keine drei Sekunden später bewirfst du mich schon mit Sachen", Antonio schupfte den Polster wieder zurück an seinen Platz hinter Lovino, "also recht leicht machst du dir es selbst nicht. Aber egal, das macht zumindest jede Sekunde zur Überraschung." Willkürliches, dickköpfiges, unberechenbares und spontanes Verhalten schien Antonio echt zugetan zu haben. Kein normaler Sterblicher würde es freiwillig mit Lovino so lange aushalten, außer er war lebensmüde. So schätzte es Lovino zumindest selbst ein. Dass Antonio ihn als Person tatsächlich gut leiden konnte und sogar mochte, schloss er aus, auch wenn ihm bewusst war, dass es durchaus Menschen gab, die in ihm mehr als nur Zeitverschwendung und Aggressivität sahen.
Plötzlich krachte der Lärm von mehreren aktiven Standuhren, die sich jenseits der dünnen Wände der Wohnung befanden, in ihren Moment der Zweisamkeit und sie gingen Lovino derartig auf den Geist, sodass er am liebsten etwas aus dem Fenster geschmissen hätte. Eine strenge Miene auf dem Gesicht tragend las er die Uhrzeit von seiner Taschenuhr ab und staunte nicht schlecht. Es war bereits...
"Drei Uhr", Antonio lugte ihm über die Schulter, um die Zeiger der Uhr selbst zu sehen, "So, ich denke, es wird Zeit, dass ich langsam nach Hause gehe...Es ist schon spät und du schaust auch schon so fertig aus. Leg dich am besten gleich hin und ruh dich aus."
"Bist du meine Mutter, oder was?", motzte der Einundzwanzigjährige frech und verschränkte die Arme vor der Brust. Aber als Antonio ohne ein Wort zu sagen, aufstand und sich schon gen Tür richtete, erreichte Lovino plötzlich die Unsicherheit, die sich wie Lauffeuer in seiner Brust ausbreitete und ihn wie ein Häufchen Erde aufwühlte.
Er wollte nicht, dass Antonio schon ging.
Er wusste nicht, welche Streiche ihm seine Psyche spielen würde, sobald er der Dunkelheit einsam und allein ausgesetzt war. Bestimmt würde er jede einzelne Sekunde mehrfach überdenken und seine Ängste weiterschüren, bis zu dem Punkt an dem er wie ein Spiegel in tausende Scherben zerbrach.
Lovino dachte nicht zu Ende, fasste sich ein Herz und fing den jungen Spanier gerade noch rechtzeitig an der Türe ab; und er legte seinen antrainierten rotzfrechen Widerstand ab, der sich tagtäglich im Widerspruch mit seinem vulnerablen Naturell befand. Seine seelische Zerrissenheit, sie warf ihn zwischen zwei Seiten hin und her, machte ihn zu einem ständig launen-wechselnden Katastrophenfeld, das viel Geduld und Verständnis verlangte. Einmal war er selbstsicher, gar angeberisch und ein ungehobeltes Gör, keine fünf Minuten später bräche er schon zusammen und zeigte sein bedrücktes, gar depressives Seelenwesen, das sich selbst in einen Lügenteppich von "Es geht mir gut", "Was soll denn schon sein?", "Anderen geht es schlechter" und "Ich überdramatisiere nur" im Verborgenen hielt.
Vielleicht war das der Grund, weshalb seine Freundschaften andauernd zu Bruch gingen...weswegen er auf dieser großen, weiten und grauenhaften Welt auf sich allein gestellt zurückblieb. Wie ein zerfleddertes Buch, das niemand anzuschauen wagte.
"Warte!" Lovino glaubte sich selbst nicht, was er in diesem Moment tat. "Würde...Würde es dir etwas ausmachen, noch da zu bleiben?"
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