Kapitel 1 - Smaragde und Bernstein
Mit ihrem warmen Licht erhellte die frühsommerliche Sonne die verborgene süditalienische Kleinstadt. Der noch frische Tau auf den Feldern glänzte, dampfte langsam vor sich hin, ehe auch er sich zum blauen Himmel erhob. Es war Windstille, nicht das kleinste Lüftchen traute sich vorbei zu schauen. Die ersten Bauern am Rande der Kleinstadt waren bereits hellwach, verrichteten fleißig ihre tägliche Arbeit, ohne sich um das wilde Geschehen in der Innenstadt zu sorgen. Sie jäteten die Weizen und Roggenfelder, fütterten ihre Tiere. Andere wiederum schliffen und verarbeiteten ihre Holzvorräte, in der Hoffnung, gute Ware oder Werkzeug herzustellen. Man hätte vermuten können, sie lebten in einer Idylle.
Vielleicht taten sie das auch, wenn man sie mit der Furcht und Belastung der Städter verglich...
Es musste der achtzehnte des sechsten Monats gewesen sein, als neben den üblichen Reisenden, die per Seeweg, zu Fuß, zu Pferd oder sogar per Kutsche ihren Weg fortsetzten, auch eine mager aussehende Heukutsche vorbeizog. Abgenutzt und schon nach Ersatz schreiend hätte bereits ein mieser Tritt in die Seite die gesamte Kutsche auseinander genommen; sie zum Zerbrechen gebracht wie das wertvolle Porzellangeschirr der lieben, aber strengen Nonna. Nur ein lächerliches Häuflein Stroh füllte den Wagen an, versteckte aber trotz der geringen Größe den kurz gewachsenen Passagier, der sich mit seinen Beuteln und Taschen sowie dem warmen Stroh in der Nacht einen Schlafplatz vorbereitet hatte und nach den vielen Stunden Fußmarsch endlich sichere Rast finden konnte. Das Rattern und Knacksen der eisernen Räder mit dünnem Holzbeschlag störten ihn keineswegs, genauso wenig hielt ihn der unebene Weg, der seinen Rastplatz in kurze, abgehackte Schwingungen versetzte, vom Schlafen ab.
Der junge Mann war völlig regungslos, befand sich in einem tiefen, festen Schlaf, träumte von den sonnengeküssten Bergen, den Böschungen und Küsten, deren steinerne Wände der tosenden See trotzen konnten. Der alte Kutscher dagegen fuhr bereits seit aller Frühe in die nächste Hauptstadt.
Erst als der hartnäckige Staub des Strohs und die stärker werdende Sonne den Schlafenden an der Nase kitzelten, verließ er allmählich das Land der Träume und öffnete verschlafen die Augen. Ächzend schirmte er mit dem Arm seine Augen ab, als er sich auf den Rücken drehte und das Licht spielerisch mit seinen Fingern einfing, um damit Schatten auf das Holz zu werfen. Die dunkelbraunen Strähnen lagen kreuz und quer, hatten sich im Stroh verheddert und auch in seinem dünnen Hemd versteckte sich das kratzige Zeug.
Es dauerte eine Weile, bis er sich ausgeruht genug gefühlt hatte und sich langsam, aber sicher, aufsaß und still die neue Umgebung beobachtete. Die Fremde, sie war so anders im Vergleich zu seiner Heimat; sie stimmte ihn trist, aber auch neugierig. Ob er wohl hier mehr Erfolg hätte als in seinem geliebten Zuhause?
Er wusste es nicht genau. Wenn er ehrlich war, wusste er gar nicht, was er tat. Früher hätte er sich nie zu träumen gewagt, seinen Großvater und seinen Bruder einfach so zurückzulassen. Leider erforderten ihre momentanen Lebenszustände genau das. Der Großvater meinte, er solle sein Glück im Süden versuchen. Vielleicht könnte er im Regno di Sicilia neue Hoffnung schöpfen und der Familie einen guten Nutzen erbringen.
Wenn er nur wüsste wie...
Ein Blick in die Geldbörse hätte gereicht, um seinen derzeitigen Stand ausfindig zu machen.
"Lovino, mein Junge, bist du also auch mal aufgestanden!", der alte Kutscher war also auf seinen wachen Passagier aufmerksam geworden. Da wurde der Brünette hellhörig und schnellte seinen Kopf sofort in Fahrtrichtung. Lovino kannte den alten Jean, er war ein Kollege seines Opas.
"Wie man's nimmt...Ich könnte tatsächlich noch ein Nickerchen vertragen, wenn die Sonne mir nicht das Gesicht verbrennen würde." Lovino stöhnte genervt und ließ sich rücklings zurück ins Stroh fallen. Es war tatsächlich keine einzige Wolke mehr am Himmel, die ihn vom aggressiven Licht der Sonne schützen hätte können und somit war auch seine Chance auf ein erneutes Einschlafen vernichtet.
"Als ich in deinem Alter war, ging es mir nicht anders. Ich wäre am liebsten den ganzen Tag am Schlafen gewesen, aber Stall ausmisten erledigt sich nicht von allein." Jean lachte herzlich. "Aber dein Nonno hat mir erzählt, dass du hier in der Gegend dein Glück versuchen möchtest."
"Ja, er meinte, ich soll das hier zum Pfarrer bringen", er zeigte ihm ein kleines, braunes Paket und einen Brief, "und dann könnte er mir helfen, eine halbwegs gute Stellung zu finden. Wahrscheinlich 'n gutes Wort beim Stadtrat oder den Arbeitgebern einlegen oder so."
Lovinos Stimme klang lustlos, beinahe gänzlich monoton.
"Na dann kann es ja nur gut werden. Der Pfarrer hier ist grundsätzlich sehr nett, aber sprich ihn nicht auf seine ewiglangen Predigten an." Der Kutscher trieb die Pferde vor ihm weiter an; es wurde holprig durch die abgefallenen Steine auf der Fahrbahn. "So, in fünf Minuten sind wir da, du solltest das Stroh aus deinen Haaren geben. Kommt nicht gut an."
Murrend tat er, wie ihm gesagt und machte sich fertig, um einen guten ersten Eindruck hinterlassen zu können. Der Abstand zwischen den Häusern wurde immer geringer, die typisch ländlichen Eigenschaften nahmen ab und aus dem schmalen, erdigen Pfad wurde eine breitere mit Sorgfalt geschliffenen Steinen gepflasterte Straße. Man traf auch häufiger auf Passanten, je weiter sie in den Ballungsraum der Kleinstadt eindrangen. Für Lovino war der Unterschied zum Dorf seit dem ersten Blick hin klar. Allein wie sich die Städter kleideten, unterschied sich zu Lovinos bekannteren Umgebung am Land. Es gab viel mehr Menschen, die sich ausgewählte, schönere Kleider kaufen konnten, für die man am Land vielleicht sogar einige Jahre sparen musste, doch hier schien der Wohlstand der Dinge tatsächlich Gang und Gebe zu sein. Für Lovino, der seit Kindestagen sein Leben fast ausschließlich in einem kleinen Dorf verbracht hatte, war lediglich dieses winzige Merkmal von vielen so eindrucksvoll und ablenkend, dass er sogar für den Moment vergaß, was er vorgehabt hätte.
Die riesigen, wertvoll verzierten Bauten, der belebte Marktplatz, der Duft vom naheliegenden Meer...Es war eine ganz neue Erfahrung für den jungen Italiener. Man hätte meinen können, er sei in ein Wunderland gekommen, in dem es absolut alles gab, von dem er nur träumen konnte. Gerade diese unstillbare, unachtsame Neugier und das Staunen machte ihn blind dafür, was hinterrücks auf ihn lauerte.
Er war blind gegenüber den betroffenen Gesichtern der Städter.
Er war blind gegenüber das, was sich in den hintersten Ecken dieser Kleinstadt trieb.
Er war blind gegenüber der Gefahr, die ihn früher oder später selbst einholen würde...
"Bongiorno, Mariá!"
Ein dumpfer, aber klarer Ruf riss Lovino wieder aus seiner Trance, verleitete ihn dazu, den Kopf zurück zum Fahrer zu wenden, als er ihn auf einmal mit einer älteren Frau sprechen sah.
Die silbrigen Haare hatte sie zu einem lockeren Haarkranz geflochten; ein weinrotes Band stach auffällig hervor. Ihr langes Kleid wirkte mit seinen vielen Mustern und Accessoires bereits altmodisch, dennoch sehr fein und kostbar. Ebenfalls blitzten silbrige Ohrringe sowie eine Kette mit weinroten Edelsteinen im Sonnenlicht auf. Lovino vermutete, dass sie wohl reich sein musste.
Die beiden älteren Gesellschaften ließen sich immer mehr auf ein Gespräch ein, unterhielten sich ununterbrochen, sodass Lovino nicht das geringste hätte sagen können. Es langweilte ihn tierisch, einfach nur zuzuhören, ohne zügig an sein Ziel zu kommen.
"Verdammte Tratschtanten. Ich bin nicht hierhergekommen, um euer Gespräch zu belauschen", zischte er unter Atem, sodass niemand, außer er es zu hören vermochte. Seufzend stützte er sich mit dem Arm an der Heukutsche ab, schmollte unauffällig und bemühte sich, auch nur irgendetwas zu finden, das ihn von der lautstarken Unterhaltung nebenan ablenken könnte.
Ironisch war jedoch, dass es gerade das Gespräch einiger Passanten war, das sein Interesse geweckt hatte. Ihre Gesichter waren vom Schrecken gepeinigt, hatten etwas Düsteres an sich, das Lovino erst in diesem Moment auch bei allen anderen Städtern erkannte.
Es war die Sorge.
Es war die Furcht.
Es war die Verzweiflung.
All das mündete in ihrer aufgebrachten Art und Weise wie sie an diesem Tag ihren Mitmenschen begegneten. Nun fühlte sich auch Lovino aufgrund der negativen äußeren Spannung immer weniger wohl. Was hatten die Menschen nur?
So unersättlich sein Wissensdurst auch war, spitzte der Brünette die Ohren, lauschte den Worten der anderen Bürger mit Neugier und Geduld.
Jemand sei verschwunden, meinte eine junge Dame.
Man habe Blut auf der Straße entdeckt, meinte ein anderer.
Es geschähe viel zu häufig, viel zu viele Menschen verließen diese Welt, ohne eine Spur zu hinterlassen.
"Eigenartig...", dachte sich Lovino, als er plötzlich bemerkte, dass der Alte wieder weiter gefahren war. Endlich. Man hätte sich schon fast darüber freuen können, denn selbst die Kirche war nicht mehr als einen Katzensprung entfernt. Nichtsdestotrotz ließen diese neuartigen Informationen Lovino kaum los. Immer wieder rief er sie Wort für Wort zurück in seine Erinnerungen; stellte sich Bilder darunter vor...
"So, da wären wir, Junge. Wenn du wieder einmal meine Hilfe brauchst, dann sag es dem alten Francesco, der wohnt hier gleich um die Ecke." Der alte Jean lächelte den Jungspund freundlich an. Er hatte auf einmal Ähnlichkeiten mit Lovinos geliebten Großvater. "Vielen Dank!", entgegnete ihm Lovino, während er mit seinem Gepäck vom Wagen hopste und beinahe vom überraschend hohen Gewicht nach hinten stolperte, ihm wäre beinahe wieder ein Schimpfwort herausgerutscht, "Wie viel wollen Sie für die Fahrt?" Lovino war bereits dabei, sein Portmonee aus seiner Jacke zu fischen, jedoch schüttelte der Alte nur lächelnd den Kopf. "Passt schon, du brauchst mir nichts zahlen. Da hat dein Großvater mir schon genug bei Trinkabenden ausgegeben."
Da musste Lovino augenblicklich die Augen rollen. Natürlich kannte sein Opa ihn vom Trinken, dennoch war Lovino sehr dankbar für die Güte des alten Mannes.
"Danke sehr!"
"Na dann, pass gut auf dich auf, Kleiner." Kaum hatte der Alte dies gesagt, pfiff er auch schon wieder und sein Pferd setzte sich brav in Bewegung, bis auch seine alte Kutsche hinter der nächsten Ecke Richtung Markt verschwand. Das murrend herausgedrückte "Das-werde-ich-schon" hörte man schon gar nicht mehr.
Lovino streckte sich kurz, löste die Verspannungen, die sich in ihm gefunden haben, ehe er sich wortlos dem breiten Kirchentor näherte und die handgeschnitzten Fratzen darin den Augenblick lang bewunderte. Einige waren bereits abgenutzt oder zeigten Bruchspuren auf, während der Türgriff mit dunklem Rost überzogen war, dass man schon meinen könnte, er wäre schon einmal in Flammen gestanden. Das Gebäude selbst bestand aus hellerem Sandstein, die gotischen Züge der spitzen und detailreichen Verzierungen stachen schon von Weitem heraus und bewirkten eine gewisse Ehrfurcht vor der Spiritualität, die hier ihr Zuhause hatte.
Mit dem Paket und dem Brief in der Hand öffnete der Neuankömmling die Tür, tunkte die Finger in das kühle Weihwasser, machte geschwind ein Kreuzzeichen und hielt sofort Ausschau nach dem gesuchten Pfarrer. Für den Moment lang schien es so, als befände sich hier nicht eine Menschenseele. Jede Bank blieb leer und unbenutzt, die Gotteslob-Bücher steckten schön brav in ihrem schmalen Fach und der Opferstock zeigte nur das Licht zweierlei Kerzen, die ebenfalls der Auslöschung drohten und langsam erstickten. Doch wo war nur der Pfarrer? Lovinos Geduldsfaden war nicht sonderlich widerstandsfähig und könnte bei dem kleinsten Ärgernis mit lautem Krach zerreißen.
Der Italiener ging andächtig durch die vielen Reihen, konnte bei all der Ruhe seine eigenen Schritte am aufpolierten Stein hören. Verglichen zum heißer werdenden Sonnenschein war es hinter den dicken Steinmauern der Kirche zudem angenehm kühl. Auf einmal klackte es an der Tür zur Sakristei; womöglich drehte jemand den Schlüssel um und öffnete gelassen die Tür. Lovino hörte auf und sah zum Ursprung des Geräusches.
Es war der Pfarrer gewesen. Erleichtert seufzte Lovino auf, schluckte seine allmählich aufgebrodelte Ungeduld und Wut hinunter und ging auf die gesuchte Person zu.
Entgegen seiner Erwartungen war der Geistliche nicht einmal so unglaublich alt. Er hatte zwar bereits die ein oder andere Lachfalte, aber sein Haar besaß immer noch einen halbwegs satten Schwarzton. Typisch war wiederum seine lange weiße Robe, die beinahe bis zum Boden reichte.
"Entschuldigung? Hätten Sie eine Minute Zeit? Herr...Pfarrer?", begegnete der Brünette dem Fremden höflich. Der Kleriker wurde daraufhin auf ihn aufmerksam und zeigte sich überaus freundlich.
"Oh, ein neues Gesicht! Nenne mich ruhig Herr Berlusconi oder einfach Marco. Wie kann ich dir weiterhelfen, Junge?"
Lovino blinzelte angestrengt. Er mochte es überhaupt nicht, dass er mit seinen 21 Jahren noch von gefühlt jedem als "Junge" oder "mein Sohn" angesprochen wurde. Er war zwar kurz gewachsen, verglichen mit seinen jüngeren Geschwistern, aber bei seinem Alter waren die nett gemeinten Spitznamen echt zu viel des Guten. "Ich habe hier ein Paket und einen Brief von meinem Nonno, Herr Vargas. Er meinte, ich solle zu Ihnen kommen."
Da erhellte sich das Gesicht des Fremden und er nahm das Paket und den Brief dankend an. "Ah, dann bist du Romulus Vargas' Enkel? Man hat mir gesagt, dass du kommen wirst, du siehst deinem Nonno wirklich sehr ähnlich aus. Bist du der Jüngere oder der Ältere von euch Kindern?"
'Kinder' war gut gesagt. Eigentlich hatten sie alle schon längst das achtzehnte Lebensjahr erreicht. "Der Ältere", meinte Lovino trocken, während Marco bereits das Briefpapier öffnete und die Nachricht darin geduldig las. "Ach so ist das...", murmelte er vor sich hin, "Du suchst Arbeit, habe ich recht?" Still ,und ohne seine Visage zu ändern, nickte er.
"Dein Nonno schrieb, dass du sehr gut zeichnen könntest. Ich denke, ich kenne schon jemanden der deine Hilfe sehr zu schätzen weiß. Ich habe glücklicherweise gute Verbindungen mit den Einrichtungen der Stadt." Der Pfarrer faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in das Kuvert. "Ich werde mich heute noch mit ihm unterhalten, komm am besten morgen Vormittag vorbei, dann wissen wir mehr." Lovino nickte. "Danke sehr."
"Guten Tag, Herr Berlusconi!", eine laute Stimme kam hinter seinem Rücken auf und jagte Lovino für einen Moment einen Schauer über den Rücken. Aus Reflex zuckte er zurück und hätte beinahe dem Neuankömmling mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen, wäre dieser nicht auf Sicherheitsabstand geblieben. Lovinos Herz raste und hämmerte weiterhin schmerzhaft gegen seine Brust, auch nachdem der plötzliche Schrecken endlich verflogen war. Warum musste ausgerechnet jetzt jemand so ungeladen hineinplatzen?
"Ah, der gute Toni. Buongiorno, mein Freund!" Marco sah an Lovino vorbei, um den Neuankömmling in Empfang zu nehmen, jedoch wandte er kurz darauf seinen Blick ab, um das Päckchen von Lovino zu öffnen. Neugierig wie der Brünette war, beobachtete er ihn, da auch er wissen wollte, was er da die ganze Zeit mit sich schleppte, als der Pfarrer auf einmal eine dunkle Glasflasche herauszog.
Wein.
War doch klar...es war immerhin das Paket seines Großvaters...Lovino brummte kurz und verdrehte die Augen genervt. Wieso war das typisch?
Jedenfalls bedankte sich der Pfarrer noch flüchtig für den frischen Wein, ehe er Lovino hinter sich ließ, um die Bitte dieses Tonis zu erhören.
Beiseite geschoben, mal wieder...
Nicht wissend, ob es in ihm aus Rage oder Verletzlichkeit brodelte, warf er nur kurze Blicke auf die zwei diskutierenden Männer. Er hasste es, wenn man ihn für etwas Anderes spontan zur Seite schob, als wäre er ein dummes Buch, das jederzeit von Neuem gelesen werden könnte. Aber Lovino war kein ewig dableibendes Buch. Ein Buch blieb, egal in welcher Situation es sich befand, inhaltlich dasselbe. Ein Mensch konnte das nicht, er würde sich konstant ändern, je nach Gefühlslage, Energie, unbewusster sowie bewusster Beeinflussung und je nach Situation.
Der Unbekannte hatte echt Nerven, ein durchgehendes Lächeln auf den Lippen zu tragen. Seine smaragdgrünen Augen wirkten fast schwarz in der gedimmten Umgebung und seine dunkelbraunen Locken schienen die Erfindung eines Kamms nicht zu kennen. Auf die schlichte Kleidung achtete er gar nicht mehr, Lovino hatte genug gesehen. Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ er das Kirchengebäude und murrte ein leises "Ciao" vor sich hin, das wohl niemand außer ihm hören konnte.
Wenig wusste er, dass auch er seine eigenen, verschwiegenen Worte nicht erhören wollte.
***
"Frischer Fisch für nur 9681.35 Lire! Das gilt nur heute!"
"Frisches Gebäck? Wer will frisches Gebäck?"
"Tomaten! Sonnengereift und handgepflückt!"
Diese und noch viele andere Wortfetzen wurden durch die belebte, bunte Marktstraße geworfen. Städter drängelten sich vor und zurück, wollten alle ganz vorne bei den Tischen stehen oder bei einem guten Angebot sofort zuschnappen. An einigen Ständen verhandelten Anbieter und Kunde um den Preis, wurden teilweise sogar immer lauter und wilder, unterdessen spielte sich nur wenige Meter weiter die Ruhe selbst ab. Kinder rangelten sich um Spielzeug oder verweilten brav bei den Eltern, die bereits für die nächsten Tage Lebensmittel oder Werkzeug besorgten. Die meisten Passanten tratschten nur. Der Geruch von verschiedenen fertigen Speisen sowie den Zutaten lag in der Luft, konnten nur knapp von dem Meeresduft verdeckt werden. Lovino knurrte regelrecht der Magen.
All die schmackhaften Leckereien präsentierten sich wie auf dem Silbertablett und zeigten sich in satten, anziehenden Farben, dass man nicht anders konnte, als zuzugreifen. Lovino ging stur weiter und bemühte sich, nicht von den teuren Köstlichkeiten abgelenkt zu werden, die er sich ohnehin nicht leisten könnte. Die Sonne brannte auf seinen dunklen Haarschopf, seine einzelnen Locken krausten sich nur noch mehr zusammen und es wurde anstrengender, nicht über die Pflastersteine zu stolpern. Lovino bräuchte allmählich etwas zu essen, um wieder Energie tanken zu können; es stellte sich nur die Frage, was sich noch in seinem Budget befand.
Obwohl er sich zwang, weiterzugehen, endete sein Weg nur wenige Schritte weiter an einem Obst und Gemüsestand. Seine bernsteinfarbenen Augen mit dem leichten Grünstich hatten sich auf die reifen, sattroten Tomaten fixiert und Lovino spürte mit einem Mal wie hungrig und schwächelnd er war, womöglich zeigte sich das auch in seiner Blässe im Gesicht. Zitternd griff er nach seinem Portmonee, suchte verzweifelt nach genügend Münzen, um sich zumindest etwas leisten zu können. Schweißperlen tropften von seiner Stirn herab, als er nicht mehr als eine lächerliche Anzahl von Münzen zählen konnte. Bei so wenig hätte er nicht mal den alten Jean angemessen bezahlen können, falls dieser etwas verlangt hätte.
"Verdammt!", zischte er leise und ließ enttäuscht sein Portmonee sinken. Er müsste heute wohl besser hungern.
Plötzlich kam ihm eine bekannt gewordene, markante Stimme zu Ohren, die ihn automatisch aufschauen ließ.
"Zweimal Tomaten und zwei von diesen Brötchen da hinten für den Kleinen da, bitte."
Es war dieser Toni von vorhin und wieder einmal trug er ein dümmliches Lächeln auf den Lippen. Lovino hob neugierig eine Augenbraue. Hatte er jemanden dabei für den er einkaufte? Ein kurzer Blick an ihm vorbei verriet ihm, dass sich niemand hinter oder neben ihm versteckte.
Doch kaum hatte der junge Verkäufer die frischen Waren an den jungen Mann mit dem spanisch klingenden Akzent nach der Bezahlung übergeben, drehte sich dieser augenblicklich zu ihm, lächelte und hielt ihm Brot und Tomaten hin. "Hier!"
Stille.
Lovino starrte zuerst auf die Lebensmittel, wechselte daraufhin den Blick zu dem, doch noch eher fremden, Brünetten und sah dann wieder auf das Essen. Der Italiener verstand nicht.
"Soll das heißen, dass das für mich ist?"
Der schöne Spanier blinzelte perplex mit seinen smaragdgrünen Augen; sie blitzten sogar kurz im Sonnenlicht auf. "Für wen den sonst?"
Wieder herrschte für einen Moment die Stille und Lovino spürte die plötzlich eintretende Peinlichkeit im Nacken.
"Denkst du, ich kann mir nichts selber leisten, oder was?", platzte es ihm auf einmal heraus, seine Scham in der Hitzköpfigkeit verbergend. "Und wer hat dir überhaupt erlaubt mich 'Kleiner' zu nennen? Hm?"
Der Spanier musterte ihn sprachlos von oben bis unten. Die Aufgebrachtheit in Stimme und Haltung hatte Lovino dazu gebracht, einen Schritt nach vorne zu wagen, als würde er ihm drohen wollen. Anstatt jedoch verschreckt und verstört zu reagieren, rutschte dem Fremden nur ein leises Gelächter heraus. Er konnte Lovino bei so einer trotzigen Reaktion nur schwer ernst nehmen, besonders, wenn es doch nur eine so harmlose Situation war.
"Lachst du mich etwa aus?", beleidigt fletschte der Hitzkopf die Zähne. Was fiel diesem Idioten nur ein, ihn indirekt als arm und klein zu bezeichnen und sich dann auch noch so bescheuert zu lachen?
"Eventuell", gab sein Gegenüber amüsiert zu, "aber jetzt nimm schon, ich beiße nicht und außerdem siehst du aus, als würdest du jeden Moment den harten Boden begrüßen wollen. Mit dem Gesicht nach vorne."
Lovino grummelte, gab aber nach einem bösen Funkeln nach. Eigentlich war er sogar dankbar für die Geste und recht viel länger hätte er es auch nicht ohne was zu Beißen ausgehalten.
"Danke...du...Mensch."
"Antonio", verbesserte ihn der Spanier, "Viele nennen mich aber Toni."
"Lovino", gab der andere knurrend hervor, als er begann, einen Bissen von der Tomate zu nehmen und sie überraschend schnell verspeiste. Mittlerweile entfernten sie sich schon vom Mark und wanderten die ruhigere Wohnstraße hinab.
"Dich habe ich in der Kirche zum ersten Mal gesehen, bist du neu hier?"
"Wie du wohl unschwer an meiner mageren Brieftasche erkennen kannst: Ja."
"Merkt man nicht nur an der Brieftasche, du hast auch einen anderen Dialekt als die anderen hier, Lovinito", bemerkte Antonio. "Ja, und du bist ziemlich eindeutig 'n Spanier."
Beeindruckt riss Antonio die Augen auf. "Das stimmt, woher weißt du das?"
"Erstens, dein Akzent und zweitens hast du mich Lovinito genannt und ich weiß ganz genau, was diese 'ito' Endung bewirken soll. Keine Verkleinerungsformen bei mir, husch-husch, weg damit." Lovino hatte ihn tatsächlich durchschaut. Clever.
"Ach so. Na, dann merk ich es mir am besten sofort. Du hast meinen Trick durchschaut", Antonio grinste wieder dümmlich vor sich hin, während Lovino auch sein Brötchen gierig hinunterschlang. Der Arme hatte wohl seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen. "Und sehen wir es positiv, du hast endlich etwas mehr Farbe im Gesicht."
Darauf antwortete Lovino gar nichts, behielt seine Aufmerksamkeit lieber auf den eng aneinander stehenden Häusern mit den mit Wein bewachsenen Wänden, deren Blumenkästen und den niedlichen Fensterläden und freute sich insgeheim, auch Vertrautes inmitten der Stadt zu finden. Antonio und ihn hatte es wohl in eine Wohnstraße verschlagen, denn das typisch städtische klang langsam ab.
Wohnstraße, wiederholte Lovino in Gedanken. Wohnen! Ihm ist sich entgangen, eine Unterkunft zu organisieren! Wie gern hätte sich Lovino gerade ins Gesicht geschlagen. Wieder einmal fand er etwas, worüber er sich aufregen könnte, das nicht unbedingt Antonio hieß. Leider wäre dieser im Moment sehr hilfreich, doch das wollte der Italiener unter keinen Umständen zugeben.
"Du weißt bestimmt, wo es hier Gasthäuser mit Zimmern gibt, oder?" Lovino konnte die dezente Arroganz in seiner Stimme nicht vermeiden. Antonio gab ihm daraufhin verwirrte Blicke und wischte sich die Brotkrümel aus dem Gesicht. "Wie? Hast du dir denn nicht vorher Gedanken darüber gemacht?" Lovino schüttelte den Kopf.
"Nun, es gibt das Gasthaus Arancia. Es ist ziemlich billig und gleich um die Ecke, aber wenn du dir nicht mal eine Tomate leisten kannst..."
"Ich hätte mir eine leisten können, hätte ich mehr Zeit zum Rechnen gehabt!", warf der rabiatere der beiden sofort ein, "Kopfrechnen ist schwer." "Jaja", Antonio ging auf die Albernheiten des Kleineren gar nicht erst ein, "Hör zu, ich leihe dir was für diese Nacht und dann sorgst du, dass es ein bisschen bergauf mit dir geht. Abhängig von anderen zu sein ist...nicht gerade toll."
Lovino schwieg. Verwundert hob er eine Augenbraue, verstand nicht, weshalb ihm, von einer Sekunde auf die nächste, so viel Gutes getan wurde. Er kannte diese spontane Fürsorge nicht. Besonders nicht, wenn sie von einem fast noch Fremden war. Dennoch wurde es ihm aufgrund dieser Gesten unglaublich warm ums Herz, jedoch verhing ein trister Schleier Antonios Augen, der genau so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Kaum eine Sekunde später drückte er dem Italiener auch schon einige Goldmünzen in die Hand und wechselte wieder in seinen altbekannten törichten Optimismus. Beschämt wandte der junge Mann mit den bernsteinfarbenen Augen seinen Kopf zur Seite, das minimale eigene Grinsen versteckend. "Danke...Ich zahle es dir zurück, eventuell."
"Nicht nötig, sieh es als erstes Freundschaftsgeschenk an." Und erneut zeichnete sich eine frohe Grimasse auf Antonios Lippen ab, die unsagbar schwer nicht zu erwidern war...
~0~
Kapitel 1 ist endlich fertig! Es hat mir sehr viel Spaß gemacht und hoffe, dass ich mir meine momentane Motivation auch behalte.^^
Ich habe auch einige Fragen, die ihr, je nach Lust und Laune beantworten könnt. Ich würde mich jedenfalls darüber freuen!
1. Habt ihr Feedback an mich für dieses Kapitel?
2. Seid ihr gespannt auf die nächsten Kapitel bzw. habt ihr bereits eine Vorahnung, was passieren könnte?
3. Wie findet ihr den bisherigen Einstieg in die Fanfiction?
Jedenfalls bedanke ich mich herzlichst fürs Lesen dieses Kapitels und wünsche euch noch einen schönen Abend/Morgen/Tag!
~ 3967 Wörter
Over and out
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