
Kapitel 6 - Paris
Mein Kopf brummte. Es fühlte sich an, als würde jemand in meinem Schädel sitzen und mit einem Presslufthammer versuchen, mir in den Kopf zu meißeln, dass Alkohol schlecht für mich sei. Dieser jemand war dann wohl meine Mum, die mir, seit ich ein kleines Kind war, eingetrichtert hat, dass ich ja niemals anfangen sollte, Alkohol zu trinken und Drogen zu nehmen oder zu rauchen. Ich stöhnte. Wenn sie jetzt hier wäre, würde sie mir eine Standpauke halten, aber mich danach in den Arm nehmen und verhätscheln, dass es jedem mal passieren konnte. Sonnenstrahlen fielen in mein Gesicht und ich merkte, wie sich meine Wangen durch die Strahlen langsam erwärmten. Ich öffnete meine Augen und blinzelte ein paar mal. Das helle Licht bescherte mir jedoch nur noch mehr Kopfschmerzen und am liebsten hätte ich mir einfach die Decke über den Kopf gezogen. Doch dazu müsste ich mich dafür bewegen und das tat zu sehr weh. Ich stöhnte erneut. Verfluchte mich selbst dafür gestern diese verdammt leckere Sangria überhaupt angegriffen zu haben. Ich wusste, ich vertrug nichts, absolut gar nichts, und doch trank ich ein Glas nach dem anderen und merkte erst im Nachhinein die Auswirkungen. Gerade als ich mich auf die andere Seite drehen wollte, hörte ich ein Räuspern. Ich schoss erschrocken in die Höhe.
In der Ecke saß mein Vater auf einem Stuhl. Ein Bein über das andere überkreuzt und beide Arme auf der Armlehne. Er hatte tiefe Augenringe, seine Augen waren rot unterlaufen. Entweder hatte er die ganze Nacht geweint oder einfach zu viel getrunken. Er sah scheiße aus. Fast schon gruselig. Augenblick erinnerte ich mich wieder an letzte Nacht. Es kam wie ein Déjà-vu. Wie er auf Denver einschlug, der blutend am Boden lag. Er bewegte sich nicht mehr und doch hörte er nicht auf. Er war wie ausgewechselt. Wie ein anderer Mensch. Furchteinflößend und beängstigend. Ich hatte Angst vor ihm. Zum ersten Mal hatte ich wirklich Angst vor meinem Vater. Und wenn ich genauer darüber nachdenke, hat er gestern eine imaginäre Grenze bei mir überschritten, die er nicht mehr rückgängig machen konnte. Ich habe ihn zum ersten Mal außer Kontrolle gesehen. Sonst hatte er sich in meiner Gegenwart immer beherrscht. Doch gestern verlor er einfach die Kontrolle und ich sehe immer noch dieses wuterfüllte Gesicht seinerseits vor mir. Ich musste schlucken. Würde ich ihn jetzt mit anderen Augen sehen? Ist der letzte Rest an Bewunderung und Respekt vor ihm nun endgültig verschwunden?
„Ich habe dir etwas gegen deine Kopfschmerzen auf deinen Nachttisch gestellt." Mehr sagte er nicht. Kein guten Morgen, nur das. Ich sah nach rechts neben mich. Dort stand ein Glas Wasser und daneben lag eine Tablette gegen die Kopfschmerzen.
Ich griff nach beiden und spülte die Tablette runter, ehe ich fast das ganze Glas auf einmal austrank. Ich hatte plötzlich solch einen Durst. Noch immer hämmerte es in meinem Kopf und am liebsten hätte ich meinen Vater aus meinem Zimmer geschmissen, doch ich wusste, dass wir einiges zu klären hatten und er nicht ohne Grund hier saß.
„Du... du hast mir gestern Angst gemacht.", fast traute ich es mich nicht auszusprechen. Als wäre es verboten, das zu sagen. Doch entsprach es leider einfach der Wahrheit und Berlin sollte wissen, was ich fühlte und was in mir abging.
„Ich weiß", er sah einfach ins Leere, als diese Worte über seine Lippen kamen. Sein Blick war ausdruckslos.
„Und das tut mir leid. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle, das hätte nicht passieren sollen. Erst recht nicht in deiner Gegenwart.", nun sah mein Vater mich beschämt an. Ich kaute auf meiner Lippe herum. Überlegend, was ich darauf antworten sollte.
Ein „Ist schon okay, lass es uns einfach vergessen" wäre weder angebracht noch richtig. So etwas war nun mal nicht so leicht zu vergessen.
„Warum hast du so reagiert? Was lag dir an dieser Uhr, dass du so durchgedreht bist?", ich entschied mich weiter nachzuforschen.
„Sie war ein Geschenk von jemandem, der mir viel bedeutet hat." Ich merkte, wie mein Knoten im Hals enger wurde. Ich wusste, dass er damit keinen Freund oder Kollegen meinte. Nein, er meinte jemand anderen.
„Etwa von einer deiner Frauen nach Mum?" Ich merkte, wie meine Stimme brach. Dieses Thema traf jedes Mal einen wunden Punkt bei mir. Zwar war ich mittlerweile rein damit, dass meine Mutter und mein Vater getrennt leben, doch ich war immer noch nicht darüber hinweg, nie eine richtige Familie gehabt zu haben. Ich liebe meine Mum über alles. Sie ist mein größtes Vorbild und ich bewundere sie Tag für Tag für ihre Stärke mich alleine großgezogen zu haben. Und mir fehlte es auch nie an etwas. Keines Wegs. Doch ich hatte mir immer gewünscht einmal eine normale Familie zu haben. So, so sehr. Und das kleine Mädchen in mir, wird Berlin wohl nie dafür verzeihen können, dass er uns damals verlassen und im Stich gelassen hatte, um mit einer seiner unzähligen Frauen durchzubrennen. Dadurch dass mein Vater schwieg und mich nur anstarrte, deutete ich es als ein Ja. Ein Ja dazu, dass diese Uhr ein Geschenk von einer seiner Frauen nach meiner Mutter war, und diese Frau ihm anscheinend mehr bedeutet hat, wie Camille (meine Mutter) jemals.
„Du bist ein richtiges Arschloch, weißt du das", ich schluchzte und wischte mir wütend meine Tränen von der Wange, die allerdings im Minutentakt mehr wurden. Ich hasste es in Streitsituationen weinen zu müssen, gerade jetzt sollte mein Vater nicht sehen, wie sehr ich an seinem Verhalten damals zerbrochen war.
„Ana sie war-", ich unterbrach ihn, indem ich ihn harsch anfuhr
„Anders? Sie war anders als die anderen? DAS HAST DU BEI VERDAMMT JEDER DEINER FRAUEN GESAGT!"
Ich verkniff mir diverse Beleidigungen gegenüber diesen unzähligen Frauen, da sie im Grunde einfach nur so blöd waren und sich in meinen Vater verliebt hatten. Keiner dieser Frauen könnte etwas dafür, dass er seine Familie im Stich gelassen hatte, das war alleine seine Schuld.
„Aber sie war es wirklich mija. Sie war besonders", ich verstand nicht, wie ruhig er bleiben konnte, während ich mir die Seele aus dem Leib weinte und jeden Moment kurz davor war zu explodieren. Er saß da einfach in diesem bekloppten Stuhl und sah an mir vorbei ins Leere.
„War sie nicht. Sonst hättest du danach nicht unzählig andere gehabt. Du hast ein Problem. Ein ziemlich großes Problem, dich zu binden. Du solltest dich mal untersuchen lassen", ich merkte, wie ich diese Worte nur so achtlos ausspuckte. Ich war so sauer auf ihn, dass mich sein Verhalten einfach nur anekelte. Als seine Tochter verzieh' ich ihm. Doch als Frau, als Frau hasste ich ihn dafür, was für ein Mann er geworden war. Ich verabscheute ihn dafür, wie er andere Frauen behandelt.
Als ich Berlin nun ansah, sah er aus, als hätte man ihm eine verpasst, so schmerzverzerrt sah sein Gesicht plötzlich aus.
„Siehst du jetzt endlich mal ein, was für ein verdammter egoistischer Arsch du bist? Dass, du unzählige Frauen da draußen verletzt und im Stich gelassen hast. Vor allem deine Tochter. Du hast deine verdammte Tochter wie eine deiner Flittchen behandelt. DEINE EIGENE TOCHTER WAR FÜR DICH NUR EINEN SCHEIẞ WERT!", schrie ich zum Ende hin und wurde von dieser ganzen angestauten Wut gepackt. Es war kein Geheimnis, dass er die ersten Jahre meiner Kindheit nicht für meine Mutter und mich da war. Ich weiß nicht, was ihn dazu geritten hat, später plötzlich wieder in mein Leben zu treten, doch er hatte es getan. Etwas wofür ich ihm dankbar bin. Doch gleichzeitig trage ich auch so viel Hass auf ihn in mir.
Er hatte ein kleines Mädchen so sehr verletzt, dass sie sich in den Schlaf weinte. Ein vierjähriges Mädchen weinte sich seinetwegen in den Schlaf. Lies ihn das kalt?
„Ana du musst verstehen, dass es mir so leidtut, dich im Stich gelassen zu haben. Ich war damals ein anderer Mensch, jetzt bin ich ein besserer geworden und will die Fehler von damals wiedergutmachen", Berlin kam auf mich zu und setzte sich neben mich auf die Bettkante. Er wollte meine Hand nehmen, doch ich zog sie weg. „Fass mich nicht an! Und wag es nicht, dich nach gestern einen besseren Menschen zu nennen. Egal von wem diese Uhr war, es gab dir nicht das Recht, Denver so zu verletzen. Das ist krank. Du bist krank!"
„Mija, ich weiß, dass du wütend bist, zu Recht. Doch du musst versuchen, mich zu verstehen. Diese Uhr war-"
„ICH MUSS VERSUCHEN, DICH ZU VERSTEHEN? DEIN ERNST? HAST DU DAS DENN JEMALS BEI MIR VERSUCHT? HAST DU JEMALS VERSUCHT, DIR AUCH NUR VORZUSTELLEN, WIE SCHLIMM DAS FÜR MUM UND MICH DAMALS WAR? NEIN, HAST DU NICHT!" Ich zügelte mich etwas mit der Lautstärke, wollte schließlich nicht das ganze Haus mit meinem Geschrei aufwecken. Denn dann wäre diese dämliche Tarnung auch für nichts gewesen.
„Also wag es nicht, mir zu sagen, ich solle versuchen, dich zu verstehen. Denn das kann und will ich nicht. Und jetzt raus!" Ich sprach so gefährlich leise, dass es beinahe schon Furcht einflößend war. Ich war bereit, meinem Vater eine zu klatschen. Und wie ich das war. „Ich bin immer noch dein Vater-"
„Raus. Sofort" Wenn er jetzt nicht sofort in den nächsten drei Sekunden aufsteht und geht, würde ich die Fassung verlieren. Endgültig. Tränen rannen mir wie Sturzfluten über die Wangen. Es war nicht fair. Und es tat mir weh, meinen eigenen Vater aus dem Zimmer zu werfen. Doch seine Anwesenheit tat nur noch mehr weh. „Raus", flüsterte ich unter den unzähligen Tränen und Schluchzern. Und dann tat er einmal das Richtige. Er stand von meinem Bett auf und ging. Er ging und ließ mich weinend zurück. Und zum ersten Mal war ich froh darüber, dass er dies tat. Ich ließ mich gegen das Kopfteil des Bettes fallen, zog meine Beine an meinen Oberkörper und schluchzte, was das Zeug hielt. Ich ließ alles raus. Und es tat gut.
Ich hörte ein leises Klopfen. Diego stand im Türrahmen.
„Alles okay? Ich habe euch streiten hören", als ich ihn ansah und er mein tränenüberströmtes Gesicht sah, entglitten ihm kurz alle Gesichtszüge und er sah mich besorgt an. Dann kam er auf mich zu, ließ sich neben mir nieder und tat etwas Unvorhersehbares. Er umarmte mich. Er nahm ich einfach in den Arm und gab mir einen Platz um mich fallen zu lassen und zeigte mir, dass ich nicht alleine war.
Und das tat ich. Ich weinte in seinen Armen und war einfach froh, dass er hier bei mir war.
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