Rollentausch (25)
"Es tut mir leid, Schatz. Ich..." Als ich sehe, dass sich in Herrn Hetkamps Augen langsam aber sicher ein großer See ansammelt, unterbreche ich meinen Satz, laufe schnell zu ihm und ziehe ihn so gut wie möglich in eine Umarmung. Alex lässt seine Stirn erschöpft gegen meine Schulter fallen und atmet hörbar zittrig ein. Sofort macht sich mein schlechtes Gewissen bemerkbar.
Josi, du bist so ein Egoist... Du lässt Alex einfach ganz alleine, obwohl er genauso Angst hat und verzweifelt ist, wie du...
Ein paar Minuten lang reden wir kein Wort miteinander, sondern liefern uns einfach nur gegenseitig Trost. Aaron schläft tief und fest in Alex' Armen und bekommt von all dem gar nichts mit.
"Ich habe meinen Vater angerufen und ihn um Rat gefragt", nuschelt Herr Hetkamp irgendwann, worauf ich die Umarmung auflöse und mich neben ihn setzte. "Was hat er gesagt?", will ich wissen und bekomme sofort die Antwort präsentiert: "Er hat uns die Darmspiegelung empfohlen. Abzuwarten hält er für keine besonders gute Option und die sofortige OP hat er auch ausgeschlagen." Ich nicke und wische meinem Mann ein paar Tränen aus dem Gesicht. Dass es mal solch schwierige Entscheidungen zu fällen gibt, hätte ich nie gedacht, jedoch bin ich wirklich sehr froh, dass Alex Christopher miteinbezogen hat. Dieser Mann war schließlich mal ein angesehener und sehr kompetenter Chirurg, dessen Meinung ich wirklich zu schätzen weiß. "Gut, dann werden wir das auch so machen! Wo sind die Ärzte?", frage ich ernst und sorge dafür, dass mein Mann jetzt etwas verwirrt über meine plötzliche Entschlossenheit zu sein scheint. "Bist du dir sicher?", fragt der Mann, der sonst die starke Rolle in unserer Beziehung übernimmt, heute aber total verunsichert ist. "Ja. Der Spezialist war auch eher für die Darmspiegelung und dein Vater ebenfalls. Wenn dabei etwas schiefgeht, wird so oder so operiert. Also sollen sie erst das kleinere Übel als Option auswählen. Was denkst du?" "Keine Ahnung... Ich bin mir so unsicher... Was ist, wenn wir uns für die falsche Option entscheiden? Alles was jetzt passiert ist auf unsere Entscheidung zurückzuführen und...", bevor er weiter reden kann, erinnere ich ihn an eine Tatsache: "Alex! Du bist Notarzt und trägst tagtäglich eine riesengroße Verantwortung, indem du Entscheidungen für deine Patienten triffst." "Ja, aber das hier ist etwas völlig anderes. Hier geht es um meinen Sohn!", erwidert er verzweifelt und schickt wieder ein paar Tränen über seine Wangen.
Ich kann sehr gut nachvollziehen, was er meint. Egal wie sicher ich mich während den Behandlungen meiner Patienten als Rettungssanitäterin gefühlt habe, desto unsicherer war ich, als es um irgendwelche Familienmitglieder ging. Mein Bauchgefühl bestätigt mir aber die Richtigkeit meiner Wahl der Behandlung und darum werde ich heute den Part des Fels in der Brandung übernehmen. "Alex, schau mich mal an!", fordere ich ihn auf und schaue ein paar Sekunden später in wässrige, gerötete Augen. "Der Arzt wird sein Bestes geben und unser Aaron wird das schaffen. Wenn wir uns dafür entscheiden würden abzuwarten und das dann noch schlimmere Konsequenzen mit sich bringen würde, dann müssten wir uns Vorwürfe machen. Aber wir entscheiden uns für den kleineren Eingriff, um den wir absolut nicht drumherum kommen werden. So wie sich die Patienten im Normalfall auf dich verlassen und dir ihr vertrauen schenken, müssen wir jetzt unser Vertrauen in Dr. Neuss legen."
"Okay", flüstert mir Herr Hetkamp zu, schließt einen Moment lang die Augen und nickt dann zusätzlich seine Bestätigung ab. "Gut, dann werde ich jetzt die Ärzte informieren, damit Aaron von seinem Leiden befreit wird!" Ich küsse Alex schnell auf die Backe und mache mich dann auf den Weg zur Schwesternkanzel, in der ich auf Tabea und Dr. Neuss treffe, die gerade irgendetwas besprechen.
Als mich der Herr der Schöpfung wahrnimmt, unterbricht er seine Erklärung und winkt mich zu sich: "Kommen Sie ruhig her, Frau Hetkamp. Geht es Ihnen gut?" "Geht so. Die Jungs in meinem Bauch ärgern meinen Magen, aber es geht schon wieder. Hören Sie, wir haben uns für die Darmspiegelung entschieden und denken, dass das die beste Option ist", teile ich ihm unsere Entscheidung mit und warte gespannt auf seine Meinung. "Da stehe ich voll und ganz hinter ihnen. Ich möchte sie aber darauf hinweisen, dass die Möglichkeit besteht, dass die bisherigen Verletzungen durch die Spange gravierender sind als wir vermuten und wir unter Umständen den minimalen Eingriff auf eine größere OP ausweiten müssen. Wenn das der Fall ist, haben wir eventuell gar keine Zeit sie darüber zu unterrichten, da schneller Handlungsbedarf besteht."
Mir ist bewusst, dass diese Möglichkeit besteht, doch wenn es von einem Arzt ausgesprochen wird, wiegt zusätzlich eine ganz andere Schwere in dieser Aussage. Dr. Neuss klopft auf einen Hocker neben sich und deutet mir somit, dass ich mich setzen soll, was ich auch umgehend mache. "Frau Hetkamp, ich versichere Ihnen, dass ich mit größter Vorsicht diese Fremdkörper-Entfernung durchführen werde. Aber ich muss leider auch den schlechteren Verlauf ansprechen, der eintreten kann, aber nicht muss. Das ist wie bei der Geburt. Es kann soviel passieren, muss aber nicht."
Danke für diese Erinnerung...
"Ja, ich weiß. Es macht einem aber Angst", gebe ich kleinlaut von mir, worauf mir der Arzt sein vollstes Verständnis zukommen lässt: "Absolut verständlich. Leider kann ich hier nichts schön reden, da ich selbst nicht weiß, was mich erwartet. Ich kann ihnen nur versichern, dass ich alles in meiner Macht stehende unternehmen werde, um eine größere Operation zu umgehen. Alles andere liegt nicht in meinen Händen!" Ich nicke ergeben und atme schwer auf: "Uns bleibt eh nichts anderes übrig. Wann starten Sie?"
"Ich lasse alles vorbereiten und würde sofort zur Tat schreiten. Wir wollen es nicht unnötig lange hinauszögern."
"In Ordnung. Dann gehe ich zu meinem Mann und sage ihm Bescheid", stimme ich zu und erhebe mich von dem Hocker.
Nachdem ich meinen Mann informiert habe, kuscheln wir noch ausgiebig mit unserem kleinen Schatz, bis Tabea sich zu uns dazu gesellt, um Aaron zu holen. Alex gibt unseren Sohn nur ungern aus seiner Obhut, das sieht man ihm an, doch ihm bleibt nichts anderes übrig. "Wir werden gut auf den Kleinen aufpassen. Ihr könnt so lange im Wartezimmer Platz nehmen und sobald wir durch sind, komme ich zu euch", sagt Tabea und verschwindet ein paar Augenblicke später mit unserem Sohn aus dem Zimmer. Ich ergreife Alex' Hand und ziehe ihn hinter mir her. Im Flur staune ich nicht schlecht, als uns mein Vater entgegenkommt. Wie so oft, wenn ich mich eigentlich stark fühle und dann aber auf meinen Vater treffe, produzieren meine Augen sofort einen Swimmingpool, der in enormer Geschwindigkeit überläuft. Papa schmeißt die beiden Sporttaschen, die er in den Händen hält, auf die Seite und nähert sich in großen Schritten, um uns beide in eine Umarmung zu schließen. Sowohl bei Alex als auch bei mir brechen wieder alle Dämme und wir lassen unseren Schmerz freien Lauf.
Als unsere Tränen annähernd aufgebraucht sind, schleppt uns mein Vater in das Wartezimmer und drückt jeden von uns auf einen Stuhl. Er selbst setzt sich in die Mitte und hält jeweils von Alex und mir eine Hand. Stillschweigend sitzen wir die endlos lange Zeit ab. Sowohl meinem Mann als auch mir tut Nicos Präsenz richtig gut, denn er strahlt so eine enorme Ruhe und Zuversicht aus, die wir uns gegenseitig nicht hätten geben können. Vermutlich hätten wir uns mit der Zeit gegenseitig hoch geschaukelt und wären noch total verrückt geworden.
"Familie Hetkamp?", ertönt die Stimme von Herrn Dr. Neuss, die uns drei sofort aufspringen lässt. Bevor sich der große Sturm der Besorgnis erneut in mir entfachen kann, legt der Mann, der ganz gechillt im Türrahmen lehnt, ein breites Lächeln auf. "Der Darm ihres Sohnes ist vollständig geleert und von allen Fremdkörpern befreit. Glücklicherweise hat die Darmwand keine größeren Verletzungen erlitten und wird sich schnell wieder erholen. Trotz dem guten gelingen, möchte ich Ihren Sohn zur Beobachtung hier behalten und ihm für die nächsten paar Tage ein Mittel zur Stuhlauflockerung verabreichen, damit die leichten Blessuren der Schleimhäute nicht unnötig strapaziert werden. Außerdem überreiche ich Ihnen hiermit das hübsche Haarspängchen, dass die Blockade verursacht hat." Der Arzt hält ein kleines Plastiktütchen in die Höhe, in dem sich eine pink glitzernde, kleine Haarspange befindet. "Gott sei Dank", stöhnt Alex erleichtert auf und nimmt dem Arzt das Tütchen aus der Hand. "Dürfen wir zu ihm?", will ich wissen, denn ich möchte nicht riskieren, dass er Angst bekommt wenn er aufwacht und kein bekanntes Gesicht um sich herum hat. "Natürlich. Kommen Sie mit!"
Wir folgen Dr. Neuss in einen Raum, in dem unser Junge friedlich schlafend in einem Bettchen liegt. Das konstante Piepen des Überwachungsmonitors füllt den Raum und wird nur ab und zu von den schmatzenden Geräuschen des Schnullersaugens begleitet. Die ganzen Kabel und Schläuche der Infusionen, die von dem Kinderkörper wegführen lassen mein Mutterherz bluten, doch ich weiß natürlich auch, dass es notwendig ist.
Während Papa sich an das Bettende stellt, platzieren sich Alex und ich jeweils auf einer Bettseite und drücken unserem kleinen Wurm nacheinander einen Kuss auf sein Köpfchen. Ich hoffe sehr, dass wir solche Situationen nie wieder erleben müssen, denn auch wenn jetzt alles gut verlaufen ist, hat es uns Emotional total fertig gemacht. Dr. Neuss kontrolliert nebenher die Werte des Monitors und überprüft die Infusionen, um sich anschließend mit einer Bitte an uns zu wenden: "Sie dürfen sich natürlich noch etwas Zeit lassen, aber ich darf sie bitten sich zu entscheiden, welcher Elternteil bei Aaron in der Klinik bleibt. Wir werden den Jungen demnächst in ein normales Zimmer verlegen, in dem auch eine Schlafgelegenheit für eine Begleitperson bereitstehen wird." "Machen wir..", bestätige ich, "..und vielen Dank!" "Gern geschehen. Ich werde gegen später nochmal nach Aaron schauen", verabschiedet sich der Arzt und verlässt den Raum. Kaum sind wir unter uns, erwacht Junior zum Leben.
Zuerst öffnet er nur vorsichtig die Augen und vergewissert sich, wer alles anwesend ist. Als er herzhaft gegähnt hat und sein Schnuller aus dem Mund gefallen ist, nimmt er Alex ins Visier: "Aon aua!" Alex nickt seinem Sohn zu und streicht ihm sanft über den Kopf: "Ja, ich weiß. Jetzt ist aber wieder alles gut!" Aaron dreht seinen Kopf anschließend zu mir und grinst mich an: "Aua dud!" "Ja, jetzt ist wieder alles gut. Du warst ganz schön tapfer", lobe ich ihn und erntet dafür ein schiefes grinsen. "Wie machen wir es mit dem Aufenthalt? Ich kann gerne bleiben, dann kannst du dich zuhause ein bisschen ausruhen", bietet Alex an, doch ich bin mir nicht sicher, ob Aaron das einfach so hinnimmt und frage dann mal lieber den kleinen General, wen er gerne bei sich hätte. "Aaron? Soll Mama oder Papa bei dir bleiben?" "Aon Ea geht." "Heute noch nicht, Schatzi. Der Doktor muss noch ein bisschen auf dich aufpassen, damit das Aua nicht wieder kommt"
Völlig unerwartet, dass kein riesengroßes Drama folgt, verkündet Hetkamp Junior, dass er gerne Papa bei sich hätte. Vermutlich kann er noch nicht klar denken und realisiert gar nicht ganz, was das Gesagte bedeutet. Mein Ego ist zwar leicht angekratzt, da der Mini-Hetkamp sonst immer auf meine Anwesenheit wert gelegt hat, doch um mich richtig darüber aufzuregen, fehlt mir einfach die Kraft. Vielleicht ist es auch tatsächlich besser so, wenn ich meinen Arsch in mein eigenes Bett schwinge und nicht noch die ein oder andere Nacht auf diesem klapprigen Beistellbett verbringen muss.
Mein Mann mustert mich eine Zeit lang, da ihm sicherlich bewusst ist, dass mir der Favoritenaustausch zumindest minimal zu schaffen macht, doch ich lächle ihm einfach entgegen: "Geht in Ordnung, Schatz! Dann kümmere ich mich um Malea und komme morgen so früh wie möglich zu euch." "Mir wäre es recht, wenn du es morgen langsam angehen lässt und nicht wieder in totale Hektik ausbrichst. Wir laufen nicht weg und du solltest dir nach diesen nervenaufreibenden Tagen wirklich etwas Ruhe gönnen. Versprichst du mir das?" "Ich versuche es!" Versprechen kann ich es ihm nicht, da man nie wissen kann, was der morgige Tag wieder für Überraschungen bereithält.
Nach einer kussreichen Verabschiedung laufe ich mit Papa Arm in Arm zu seinem Auto. "Sag mal, du warst doch noch bei uns zuhause, stimmt's?", frage ich ihn, obwohl es eigentlich klar ist, da er uns sonst keine Klamotten hätte bringen können. "Ja, warum?" "Warst du auch in der Küche?", will ich wissen und grinse leicht in mich hinein als Papa diese Frage verwundert bejaht. "Dann weißt du bestimmt auch, ob Stephan das Tiramisu alleine gemampft hat oder ob noch etwas davon übrig ist." "Hahaha. Unglaublich. Vor nicht allzu langer Zeit hast du dir noch die Augen aus dem Kopf geheult und jetzt denkst du schon wieder ans Essen. Du bist unglaublich", lacht mein Vater und drückt mir einen Kuss auf den Kopf. "Schön und gut, aber jetzt weiß ich immer noch nicht, ob ich noch das Vergnügen mit dieser leckeren Nachspeise habe oder nicht. Außerdem musst du bedenken, dass ich meine bisherige Magenfüllung in die Kanalisation geschickt habe." "Er hat es nicht angerührt!" "Boah, Gott sei Dank! Dann ab nach Hause. Ich habe Hunger!"
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Soooo, meine lieben Suchtis. Heute habt ihr zwei Kapitel bekommen, da ich eine kleine Weihnachtspause einlege. Ab morgen beginnt ein Geburtstags- und Weihnachtsmarathon und zwischen den Feiertagen habe ich auch noch die Ehre zu arbeiten. Darum werde ich auch kaum Zeit finden, ein Kapitel zu schreiben. Ich wünsche euch allen schöne Weihnachten 🎄🎄🎄 und hoffentlich erholsame Feiertage! Lasst es euch gut gehen und wir lesen uns bald wieder.
💚💙💚💙 Eure Rojo 💙💚💙💚
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