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"Josi?" Tom weckt mich sanft aus meinem traumlosen Schlaf. "Ja?", flüstere ich ihm mit geschlossenen Augen entgegen. "Du solltest dringend mal was trinken und auch etwas essen. Wie fühlst du dich denn?" Die Hand meines Bruders fährt mir vorsichtig durch die Haare und sorgt dafür, dass ich meine Augen öffne. "Weiß auch nicht... Eventuell wie ein Wiesel, das seit drei Tagen überfahren im Straßengraben liegt!", mein leichtes Grinsen steckt Tom sofort an: "Zum Glück habe ich das Wiesel rechtzeitig gefunden und kann es eventuell wieder gesund pflegen!" "Was kann man bei einem TOTEN Wiesel gesund pflegen?", meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, worauf mir Tom mit seiner kompletten Handfläche durch mein Gesicht wischt: "Jetzt komm du Spinner! Das Essen wird sonst kalt!"
"Wo ist Alex? Sind die Kinder schon wieder da?" "Dein sturer Verlobter ist mit seinem Vater vor fünf Minuten zu Anne gefahren, um die Kinder zu holen", seufzt Tom laut auf und streckt mir seine Hand entgegen, die ich sofort ergreife und somit auf die Beine gezogen werde. Der Schlaf scheint mir wirklich gut getan zu haben, denn ich fühle mich wesentlich besser, als heute morgen, heute Mittag oder wann auch immer wir nach Hause gekommen sind.
"Hey, geht's dir besser?" Franco erhebt sofort seinen Blick, als Tom und ich in der Küche eintrudeln. "Mhm, schätze schon!", ich geselle mich ebenfalls zu Paul, Flo und Stephan dazu.
Herr Sindera beäugt mich teilweise besorgt und doch auch etwas angesäuert und weil ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, starre ich einfach auf den Teller vor mir. "Jetzt iss was! Auf!" Tom lässt sich auf dem Stuhl neben mir nieder und stupst mich mit seinem Ellenbogen an, damit ich mir endlich meinen Teller volllade. Allerdings habe ich überhaupt keinen Hunger und wäre froh, wenn ich dem Ganzen hier entfliehen kann. Ich sollte mir Gedanken über das Geschehene machen und überlegen, woran die Verschlimmerung meiner Panik liegen könnte.
Wie verhält sich mein Körper eigentlich, wenn ich mir selbst einen Zugang lege? Reagiere ich nur so schlimm, weil jemand anderes die Nadeln in den Händen hält? Das ist es Josi!
"Ich muss nochmal kurz weg!", schneller, als einer der Anwesenden reagieren kann, springe ich von meinem Stuhl auf und flitze in den Flur. An dem gewohnten Platz neben der Kommode, finde ich meine Schuhe, die ich schnell über meine Füße streife, schnappe mir meine Schlüssel und meine Tasche. "Wo willst du denn jetzt hin? Iss doch bitte erstmal was!", mault mein Bruder aus der Küche, doch ich ignoriere das geflissentlich und begebe mich hastig aus dem Haus.
Wenn ich das schaffe, sind alle Probleme gelöst! Dann muss ich mir einfach in Zukunft die Zugänge selbst legen und alles ist prima. Bei einer eventuellen Bewusstlosigkeit können ja die anderen ran, das bekomme ich dann schließlich nicht mit.
Voller Enthusiasmus und riesiger Motivation, lasse ich mich in meinen Autositz fallen und starte den Motor. Ich reihe mich in den fließenden Verkehr ein und drehe das Radio auf volle Lautstärke. Laut und vor allem in schiefer Tonlage, gröle ich solange mit, bis mein Lungenvolumen komplett aufgebraucht ist und ich fast an Luftnot sterbe. Mein Kopf braucht das einfach ab und zu und ich merke wirklich, dass ich solche Musik Sessions unbedingt öfter in mein Leben einbauen muss.
Als ich vor der KaS parke, fühle ich mich befreit, sauwohl, kurzatmig und schwindelig, aber sehr gut. Kein einziges Anzeichen von Panik. "Yeah Baby, Mama hat die Lösung gefunden!", mit einem knallenden Geräusch, fällt die Autotüre zu und wird durch meinen Schlüssel verriegelt. Fast schon pfeifend laufe ich auf die KaS zu und halte erst wieder an, als ich vor Giselas Nase stehe: "Hi Gisela. Ist irgendwer Bekanntes da? Oli, Freddy oder Phil?"
"Was haben wir denn für einen Notfall? Oh Moment..", bevor Sie sich weiter mit mir befassen kann, widmet Sie sich dem Telefon und vergibt einen Termin für eine CT. "So, Entschuldigung! Was haben wir denn jetzt?" "Eigentlich nichts, aber ich brauche schnell einen Arzt, der mir etwas geben muss!" Die Dame vor mir zieht eine Augenbraue in die Höhe: "Unsere Notaufnahme platzt aus allen Nähten und die Stationen sind auch mal wieder unterbesetzt. Wenn also kein dringender Notfall besteht, dann kann ich leider nichts machen!" Augenverdrehend wende ich mich von Gisela ab und überlege angestrengt, wie ich an das benötigte Material herankomme.
"Verzeihung, darf ich?" Wie ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, steht ein Sani neben mir und möchte anscheinend mit Gisela reden. "Klar, kein Problem!", ich bewege mich einige Schritte vorwärts, während mir eine Idee durch den Kopf schießt.
Auf zur Wache! Wäre natürlich astrein, wenn Jacky da wäre. Die könnte das ganze Überwachen und würde bestimmt keinen blöden Spruch rauslassen.
Somit verlasse ich wieder die KaS, steige in mein Auto und fahre weiter zur Wache. Zu meinem Leidwesen sehe ich Phil's Auto auf dem Parkplatz stehen. Ich drücke mir selbst die Daumen, dass er gerade auf einem Einsatz ist und erst in ein paar Stunden wiederkehren wird.
Nachdem ich die Wache betreten habe, stürmen Nick und Yannick an mir vorbei und werfen mir ein flüchtiges "Hi!" entgegen. Da ich kurz so perplex bin, schaffe ich es nur, meine Hand zum Gruß zu erheben. "Heeeey, wen erblicken meine müden Augen denn da?" Meine erhoffte Unterstützung kehrt gerade aus der Fahrzeughalle zurück.."Boah, Hi Jacky. Ich habe gehofft, dass du da bist!", mein breites Grinsen lässt Jacky etwas verdutzt werden: "Ähm, okay. Was hast du vor?" Ich schnappe mir die gute Seele zuerst für eine schnelle Umarmung, die Jacky natürlich erwidert: "Willst du wieder anfangen? Sag bitte, bitte ja!" "Nein. Hahaha. Tut mir echt leid, aber an Arbeiten ist momentan nicht zu denken. Ich habe gerade mehr als genug Aktion in meinem Leben, da würde ich durchdrehen, wenn ich noch einen Arbeitsalltag mit einplanen müsste!", mit einem entschuldigenden Lächeln, gebe ich die quirlige Frau wieder frei und schaue mich vorsorglich um, ob irgendjemand in der Nähe ist. "Schade, aber lass raus, weswegen du hier bist!" "Gleich... sind irgendwo Notärzte anwesend?" "Nope. Phil ist bei einem größeren Einsatz und Markus ist auch unterwegs. Brauchst du einen Arzt?" "Nein, genau das Gegenteil. Hör mal zu, du musst mir helfen! Ich muss mir schnell einen Zugang legen und dabei sollte mich keiner stören... Wenn du willst, kannst du in einer Ecke stehen und alles beobachten, mir egal!" "DU willst dir selbst einen Zugang legen? Aha. Für was brauchst du den?" Jacky's Nachfrage ist berechtigt, aber ich bin etwas genervt, da es mich kostbare Zeit kostet, meine Erklärung runterzurattern.
Nachdem ich einen Knoten in der Zunge und Jacky im schnellverlauf zugetextet habe, steht sie allen ernstes vor mir und schüttelt ihren Kopf: "Das können wir nicht bringen. Stell dir vor, Phil oder Markus kommen zurück und erwischen dich bei diesem Experiment. Die reißen uns die Köpfe ab..." "Jacky.... Ich führe keine OP am offenen Herzen durch, sondern lege mir einen Zugang. Bitte! Ich muss wissen, ob mein Körper nur so abdreht, wenn andere Menschen mit einer Nadel an mir hantieren wollen oder ob das so ein allgemeines Ding ist. Falls ich umkippe, bist du ja da und kannst mich retten! Bitte, bitte, bitte! Wenn ein Arzt in der Nähe ist, dreht mein Verstand durch und dann werde ich das wohl nie herausfinden!", ich versuche angestrengt meinen mitleiderregendsten Hundeblick aufzusetzen, um meine personifizierte Hoffnung zu einem Ja umzustimmen. "Josi, guck nicht so. Du siehst aus wie ein Schweinchen das weiß, dass es zur Schlachtbank muss", ich spüre förmlich, wie das Herz meines Gegenüber erweicht und drücke auch deshalb meine Unterlippe etwas weiter nach vorne..Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, nickt Jacky ergeben und packt mich am Arm: "Das bleibt unter uns. Und wehe du stirbst mir vom Fleck weg, dann verscharre ich dich irgendwo im nirgendwo und du wirst dort anonym verwesen!" "Abgemacht!", ich falle ihr stürmisch um den Hals und bin richtig erleichtert, dass mein Vorhaben funktioniert.
Meine Komplizin reißt sich letztendlich von mir los und besorgt die benötigten Utensilien, während ich mich in den einsatzbereiten RTW verschanze, um in einem sterilen Umfeld zu arbeiten. Fünf Minuten später breitet Jacky alles auf der Liege aus: Stauschlauch, Desinfektionsmittel, Tupfer, Viggo, Einmalhandschuhe und Nierenschale. "Ich stell mich da hinten in die Ecke und du ignorierst mich einfach, okay?" Ich nicke Jacky zustimmend zu und ziehe schnell meine Jacke und meinen Pullover aus. Tief durchatmend setzte ich mich im Top neben den ganzen Klimbim auf die Liege und lege mir als erstes den Stauschlauch um. Als nächstes ziehe ich mir die Einmalhandschuhe an und desinfiziere meine vorgesehene Einstichregion in der Armbeuge. Anschließend greife ich nach der Viggo und beäuge sie kritisch.
Puls, normal. Atmung, normal. Panik, nein. Vielleicht ein kleines mulmiges Gefühl, aber das kann man wohl als normal einstufen.
Zufrieden mit mir selbst, fällt mir allerdings ein kleines Problem auf:
Ich habe keine Hand mehr frei, um die Punktionsstelle glatt ziehen zu können. "Jacky? Könntest du vielleicht kurz?", ich deute ihr mit einer Kinnbewegung auf meinen Arm und sie weiß natürlich sofort, bei was ich Hilfe brauche. "Sicher?" "Ja! Beeil dich, bevor jemand kommt!" Als Jacky meiner Bitte nachgekommen ist, setze ich die Viggo im dreißig Grad Winkel an und durchsteche vorsichtig meine Haut. Innerlich tobt ein riesengroßes Festival, da ich immer noch bei Bewusstsein bin und Atmen kann. Gerade als ich den Winkel abflachen und die Kanüle weiter in die Vene schieben will, wird die seitliche Türe aufgerissen. Durch den Schreck stoße ich die Kanüle wunderbar durch die Vene durch: "FUCK!" "Scheiße, was machst du denn da?" Markus ist schneller an meinem Arm dran, als ich mit meinem Auge blinzeln kann und zieht mir die Viggo vorsichtig aus meinem Arm. Es bildet sich sofort ein kleiner roter Springbrunnen, den Markus sofort mit einem der Tupfer und festem Druck zum Versiegen bringt. Zwei finster dreinblickende Augen starren mich an: "Was um alles in der Welt treibst du hier?" "Ich... Aua, drück nicht so fest. Das tut weh!" "Verbluten oder Schmerz?" Grummelnd bringe ich ihm ein "Schmerz" entgegen und visiere Jacky an, die mit dem Zeigefinger nach draußen zeigt und mir lautlos zu verstehen gibt, dass raus geht. Da ein Kopfnicken zu auffällig wäre, versuche ich ihr, mein okay mit einem Augenzwinkern zu übermitteln, was sie zum Glück versteht und somit schnell aus dem RTW flüchtet.
"Also?", brummt mich Markus an, nachdem er festgestellt hat, dass die Blutung zum Stillstand gekommen ist und die restliche Versorgung übernimmt. "Ja, doch. Sieht toll aus! Hast du gut gemacht, danke!" So wie mich der Herr Baur jetzt ansieht, gehe ich davon aus, dass das nicht die Antwort war, die er erwartet hat. Als er gerade nach Luft schnappt um mir einen Einlauf zu verpassen, versuche ich die Wogen vorher irgendwie noch zu glätten: "Es tut mir leid Markus. Ich wollte testen, ob ich es ertragen kann, mir selbst einen Zugang zu legen oder ob mein Körper da auch so durchdreht, wie wenn das irgendwelche andere Leute versuchen! Meine Aktion konnte ich leider nicht unter unsterilen Umständen durchführen und da in der KaS heute die Hölle los ist, bin ich hierher gekommen."
Es vergehen ein paar Minuten, in denen der Notarzt sich anscheinend ein paar Worte zurechtlegt, da sein Mund immer wieder zuckt, jedoch keine einzige Silbe seinen Mund verlässt. Irgendwann wird es mir dann doch zu blöd: "Markus, ich...", mein beginnender Redefluss wird durch einen erhobenen Zeigefinger und einem Kopfschütteln unterbrochen:
"Das war nicht sehr klug! Du siehst selber, was das Resultat ist. Wenn du jetzt auch noch kollabiert wärst und kein Arzt in der Nähe gewesen wäre, dann.... Weißt du, Oli und Freddy haben mit mir vor kurzem über das fortgeschrittene Ausmaß gesprochen, da sich jeder Sorgen macht. Du darfst das nicht auf die leichte Schulter nehmen!" "Glaubst du, ich habe Bock, jedesmal fast zu sterben, wenn mir jemand mit einer Nadel zu nahe kommt? Ich nehme das auch nicht auf die leichte Schulter, ganz im Gegenteil! Außerdem: Haben die zwei Vollprofis eigentlich schon mal etwas von Schweigepflicht gehört?", auch wenn ich im Normalfall ein Teil der Rettungstruppe bin, wenn ich nicht gerade an irgendetwas zugrunde gehe, müssen Herr Dreier und Herr Seehauser meine Probleme nicht im Kollegium breittreten. "Eins zu Null für dich!", schmunzelt mein Gegenüber mir zu: "Was ist denn dabei rausgekommen?" "Aus was ist was rausgekommen?", eventuell stehe ich gerade etwas auf dem Schlauch, was Markus etwas zum Lachen bringt:
"Was das Resultat aus deinem Selbstversuch ist, möchte ich gerne wissen!" "Achso... Also, wenn du mich nicht erschreckt hättest, dann wäre alles ohne Probleme über die Bühne gegangen. Puls und Atmung sind normal geblieben, keine übermäßige Schweißproduktion, kein Zittern. Nichts!" Markus scheint positiv überrascht zu sein: "Damit hätte ich nicht gerechnet, aber das ist super! Vielleicht liegt es nicht an der Nadel direkt, sondern an gewissen Personen, die dir mit einer Nadel zu nahe kommen" Markus' Überlegung ist wirklich gar nicht so dumm und sollte meiner Meinung nach, genauer erforscht werden: "Aber warum? Der Ansatz ist wirklich voll gut, aber mir erschließt sich das ganze nicht sonderlich logisch". "Wann hat das ganze denn angefangen?" "Mit der Schwangerschaft haben auch die Nadel Probleme angefangen. Davor ging das eigentlich ganz gut!" "Vermutlich sollte das alles mit einem Psychologen aufgearbeitet werden... Versprich mir bitte, dass du nichts Unüberlegtes veranstaltest!", der mahnende Blick, den Markus nun wieder aufsetzt, kommt mir nur allzu vertraut vor. "Ich bin doch nicht knacke in der Birne", meine Augenbrauen ziehen sich automatisch zusammen, während sich meine Lippen zu einem schmalen Strich verengen. "Ach Josi. Du weißt ganz genau, dass man nicht gleich bescheuert ist, nur weil man sich von einem Psychologen Hilfe holt. Manche Ängste haben sich so ins Unterbewusstsein gefressen, dass man sie alleine nicht bekämpfen kann. Denk darüber nach und rede mit Alex. Für deinen Arm besorgst du dir am besten Arnica Salbe für tagsüber und für abends Heparinsalbe. Und jetzt abmarsch!" "Ne, muss noch sauber machen. Kann doch nicht alles versauen und dann einfach abhauen", noch bevor ich meine Hände an einen Gegenstand anlegen kann, schiebt mich Markus, an meiner Schulter, aus dem Rettungswagen raus: "Ich mach das schnell. Kümmere du dich um deinen Arm und kühle das ganze!" "Danke. Ciao!", bevor ihm doch noch ein Grund zu motzen einfallen könnte, dampfe ich lieber so schnell wie möglich ab.
Zuhause angekommen, entdecke ich auch schon Christopher's Auto und das verbessert meine Laune ungemein. Ich freue mich endlich meinen Verlobten wieder bei mir zu haben und schwebe schon förmlich die Treppen zur Haustüre hinauf. Kurz nachdem ich die Türe aufgeschlossen und geöffnet habe, höre ich eine nicht ganz so erfreute Notarzt Stimme:
"JOSI? Kannst gleich bitte einmal zu mir nach oben kommen!"
Och Menno… Markus hat bestimmt gepetzt und mir erfolgreich den Abend verdorben.. Kopf hoch und ab durch die Mitte, schließlich habe ich auch gute Nachrichten im Gepäck.
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