Menschen am Tisch
Da sitzen vier junge Menschen an einem Tisch. Offensichtlich zwei Paare, die beiden Männer sind ebenso offensichtlich Brüder. Sie haben den gleichen Gesichtsausdruck, die gleichen Augen, das gleiche Lachen. Am Tisch wird nicht gesprochen. Die vier jungen Gesichter blicken stumm auf vier kleine Bildschirme von vier Handys, jeder für sich. Die moderne Kommunikation funktioniert nun mal über Social Media - obwohl in meinen Augen das Wort "sozial" hier völlig fehl am Platz ist. Was ist wohl interessanter als die momentane Gesellschaft des Bruders und der Freunde? Das Handy hat unsere Gesellschaft stark verändert. Es scheint wichtiger zu sein, was man auf Instagram posten kann, als was man in echt erleben könnte.
Zwei Tische weiter sitzen ebenfalls vier junge Menschen, ebenfalls zwei Paare, mit einem Kleinkind diesmal. Das Baby hat die kleine Gesellschaft im Griff. Er steht im Zentrum und geniesst es sichtlich. Damit der Kleine zwischendurch etwas Ruhe gibt und die Mutter einen Schluck ihres Café Latte geniessen kann, gibt sie ihm das halb leere Zuckertütchen. Der Zucker hat im ersten Moment sicher die erwartete Wirkung. Der Kleine ist abgelenkt und klaubt mit seinen Fingerchen den süssen Inhalt aus dem Papier um diesen dann von den Fingerkuppen zu lecken. Es mag wenig erstaunen, dass dem ersten Tütchen kurz darauf ein zweites folgen muss. Ich wüsste zu gern, welche Energie der Kleine in etwa einer Stunde haben wird.
Ganz hinten im pompösen Saal sitzt eine ältere Frau alleine an ihrem kleinen Tisch. Es ist dieselbe Frau, welche sich am Vorabend in der Bar beschwert hat, es gäbe kein wirklich unterhaltsames Fernsehprogramm. Lesen könne sie abends nicht mehr und ohne Unterhaltung komme sie nun eben an die Bar und trinke ein Bier. Die Frau trinkt ihren Cappuccino alleine und wirkt auf ihre eigene Art zugleich zufrieden und etwas traurig. Welche Geschichte wohl hinter ihr steckt? Was hat sie bewogen, hier her zu reisen und die Festtage alleine inmitten fremder Menschen zu verbringen?
Die zwei jungen Frauen in der anderen Ecke des Saales sitzen am gleichen Tisch wie jeden Morgen. Sie reden wenig, offenbar planen sie den heutigen Tag. Sie wirken wie Freundinnen, welche sich eine Auszeit oder bloss ein paar Tage für sich gönnen. Sie erkunden die Stadt und freuen sich auf die Abenteuer, die sie erleben werden.
Viel betrübter sieht das Paar mittleren Alters aus, welches drei Tische daneben sitzt. Er holt sich sein Essen und sie kommentiert, er habe doch bloss noch ein Spiegelei essen wollen. Zurück am Tisch fragt sie nach dem Besteck und bemerkt, dass er zwar seines mitgenommen, ihres aber vergessen habe. Das sind in zehn Sekunden zwei Fehler und dies bereits vor neun Uhr morgens. Wenn der Tag im gleichen Rhythmus weiter geht, füllt er sein Fehlerkonto bis zum Abend ganz arg auf. Welches Gefühl das wohl sein mag, jede Bewegung, jede Bemerkung auf die berühmtberüchtigte Goldwaage legen zu müssen?
Ein junges Paar betritt den Saal. Er geht männlich erhaben voran, sie riecht nach Geld und wirkt etwas gereizt und dennoch unsicher. Selbstverständlich sucht sie den Tisch aus und ebenso selbstverständlich ist es nicht jener, welchen er als ersten ansteuert. Er bestellt ihren Café Latte, welchen sie sofort in einen Cappuccino mit viel Milch abändert. Das Aussuchen des Frühstücks ist filmreif. Sie kommt mit einem prall gefüllten Teller zum Tisch zurück, er mit einem Stück Brot und einem Saft. Sie reden wenig und essen jeder in seiner eigenen Welt.
Die noble Dame mit Hut kommt als eine der letzten und setzt sich an den einzigen reservierten Tisch. Es ist dieselbe Dame, welche zwei Abende zuvor spät in der Nacht angekommen ist, sich über Müdigkeit beklagt und einen Rotwein genossen hat. Noblesse oblige. Sie verbreitet Respekt und Ehre indem sie ganz einfach ihren Cappuccino umrührt.
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