Kino
Sahra schlug die Augen auf. In ihrem Kopf spukten Bilder herum, Bruchstücke von ihrem Traum. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte die Bilder festzuhalten, sich den Traum in Erinnerung zu rufen, doch sie glitten ihr durch die Finger. Sie verschwammen vor ihrem inneren Auge und lösten sich auf. Resigniert seufzte sie. Sie hatte ihren Traum vergessen. Sie hatte geträumt, das wusste sie zwar, doch den Inhalt hatte sie vergessen. Sie wusste nur noch, dass Ana da war. Ja, Ana war in ihrem Traum gewesen, doch mehr wusste sie nicht. Es war einfach verpufft.
Sie suchte ihr Handy und schaltete es an. Es war 10:42 Uhr und Maria hatte ihr geschrieben. Sie öffnete die Nachricht und laß: „Hey Sahra, du sag mal, willst du vielleicht heute mit uns ins Kino? Ich hab Laila gefragt und sie ist dabei. Wenn ja, dann komm um 14:30 Uhr zum Cinemax." Sie lächelte. Zusammen mit ihren beiden Freundinnen ins Kino? Da sagte sie nicht nein. Schnell schrieb sie zurück, dass sie sehr gerne kommen würde und bedankte sich bei ihr, dass sie sie eingeladen hatte. Dann fragte sie noch, welchen Film sie denn gucken wollten. Doch anscheinend hatte Maria ihr Handy gerade außer Reichweite, denn die Nachricht wurde als „nicht gelesen" angezeigt.
Sie stand auf und ging zu ihrem Kleiderschrank. Normalerweise behielt sie am Wochenende am liebsten ihren Schlafanzug an oder trug nur irgendwelche Schlabber-Sachen, doch da sie ja heute in die Stadt, ins Cinemax, wollte, musste sie sich doch umziehen. Sie griff sich Unterwäsche, ein einfaches rotes, langärmeliges Shirt und schlurfte gähnend ins Badezimmer. Ihre Mutter war noch nicht aufgestanden, zumindest war sie weder im Bad, in der Küche, noch im Flur anzutreffen und der Fernseher im Wohnzimmer war auch stumm. Sie ging auf Toilette und stellte die Waage bereit.
Glatte Fünfzig Kilogramm. Sahra verzog den Mund und biss sich auf die Unterlippe. Scheiße, gestern waren es doch noch Neunundvierzig-Komma-irgendwas, aber jetzt war schon wieder eine Fünf vorne zu sehen. Verärgert stieg sie von der Platte und stellte die Waage zurück. Na tolle Wurst, sie hatte zugenommen. Dabei hatte sie sich gestern doch so darüber gefreut endlich die Fünfzig geknackt zu haben.
„Alles okay Sahra", sagte sie zu sich selbst, „du wirst schon bald wieder die Vier vorne sehen, du brauchst nur ein wenig mehr Disziplin." Innerlich seufzte sie.
Doch dann explodierten in ihr die Gedanken. „Ach Quatsch, nichts ist okay! Du bist ein fettes, verfressenes, faules Schwein, das nie dünn werden wird. Du– Ich werde immer dick bleiben, wenn ich nicht endlich mal den Arsch hochkriege und aktiv werde. Ich muss aufhören so viel zu essen und mehr Sport machen! Mehr Kalorien verbrennen, dann nehme ich ab. Aber so wie es jetzt steht, ist es nicht gut. Ich bin so dämlich, dass ich ständig doch immer wieder irgendetwas unnötiges esse und meine Finger nicht von Süßem lassen kann! Du– Ich bin so dumm und widerwärtig mit dem ganzen Fett am Körper. Alles schwabbelt an mir und überall, überall an meinem Körper hängt Fett herab. Das ist so widerlich. Ich bin so widerlich!" In ihren Augen sammelten sich die Tränen. „Ich werde nie so werden wie Ana. Nie so zart, nie so schlank, nie so dünn, nie so rein, nie so perfekt. Ich werde immer dick bleiben!"
Doch sie wischte sich energisch über die Augen und atmete tief durch. „Nein", machte sie sich Mut, „nein, ich muss nicht dick bleiben. Daran kann ich etwas ändern. Daran werde ich etwas ändern. Ich werde dünn." Noch einmal wischte sie sich über die Augen. Ja, sie würde dünn werden. Das nahm sie sich fest vor. Natürlich hatte sie es sich auch schon vor Drei Monaten vorgenommen, aber jetzt bestärkte sie sich noch einmal in ihrem Vorhaben. Sie wird dünn werden, ja, dass wird sie. Sie wird so aussehen wie Ana und endlich zufrieden mit ihrem Körper sein. Und um ihren Gedanken Taten folgen zu lassen nahm sie sich vor das Frühstück ausfallen zu lassen. Sie würde ihrer Mutter einfach vorgaukeln, sie habe gegessen, als diese noch geschlafen hatte. Und in der Zeit, in der ihre Mutter essen würde, konnte sie in ihrem Zimmer etwas Sport machen. Ja, das nahm sie sich vor.
Sie zog sich an, statt einer Jeans trug sie erst einmal eine bequeme Jogginghose, und ging zurück in ihr Zimmer. Von ihrem Bett nahm sie ihr Handy und setzte sich, vielmehr legte sich auf die Couch. Zwanzig Sit Ups würde sie machen. Und zwar jetzt. Sie wollte ja Ergebnisse erreichen.
Neben ihr machte es einmal „Ping" und das Handy vibrierte. Schnell machte sie die Übung zu ende und schaute dann auf das Display. Maria hatte geantwortet. Schnell öffnete sie WhatsApp um die Nachricht zu lesen. „Cool, dass du dabei bist, ich freu mich. Ich hatte gedacht, wir könnten uns vielleicht „Es 2" ansehen. Nimm dir am besten noch Geld für Popcorn oder so mit, oder pack dir selber Snacks ein. Die Vorstellung beginnt 14:45 Uhr, also haben wir dann noch genügend Zeit." Sahra wurde stutzig. „Es 2"? Die Fortsetzung, beziehungsweise das zweite Kapitel von „Es"? Hatte Laila dem etwa zugestimmt? Das konnte sie kaum glauben! Laila hatte absolut nichts für Horrorfilme übrig. Sie war eher der Disney und Kinderfilme Typ. Zu Maria passte es. Also „Es", das passte zu ihr. Sie war eine Horrorfilm-Fanatikerin. Letztes Jahr waren sie auch einmal im Kino gewesen, zu Halloween, und hatten sich „Es" (Kapitel Eins), auf Marias Wunsch hin, angesehen. Es kam öfters vor, dass Maria die beiden mit in irgendwelchen Gruselfilme schleifte. Manchmal, wenn sie bei ihr, Sahra oder Laila übernachteten, nahm sie sich extra eine Auswahl an Horrorfilmen mit, die sie dann gemeinsam gucken sollten. Sahra selbst war damit zumeist einverstanden, sie konnte Horrorfilme sehen. Es war nicht ihr Lieblingsgenre, aber sie war auch nicht abgeneigt. Doch Laila wehrte sich regelrecht gegen diese Filme. Sie wollte sie partout nicht gucken. Zwischen ihr und Maria entbrannte dann meist eine langanhaltende Diskussion über die Auswahl der Filme. Laila wollte immer irgendetwas gucken, was unschuldig, süß und Happy End-mäßig war. Doch Maria hatte auf so etwas absolut gar keinen Bock. Das sei ihr zu kindisch, zu babyhaft, zu öde, zu unspannend, zu langweilig.
Außerdem weigerte sie sich strickt irgendwelche „Barbie" Filme zu schauen, die Laila wiederum liebte. Die seien ihr zu sexistisch und klischeehaft. Zudem hatte sie an allem, was mit Barbie zutun hatte, etwas auszusetzen.
Sahra konnte ihr da teilweise sogar zustimmen. Ja, Barbie war wirklich manchmal nicht ganz in Ordnung. Sie vermittelte ein falsches Schönheitsideal, war ziemlich klischeebehaftet und Frauen, beziehungsweise Mädchen wurden sexualisiert. Aber Laila stellte sich gegen alle diese Kriterien. Für sie waren die Barbie Filme absolut super. In der Diskussion kam es Maria oft so vor, als stünde sie einer bockigen Fünfjährigen gegenüber. Laila war manchmal einfach wirklich wie ein kleines Vorschulmädchen. Sie hatte keine Argumente, konnte nicht mit Kritik umgehen, war bockig und öfters auch einfach nur nervig.
Doch trotzdem waren sie befreundet. Es war sogar eine sehr gute Freundschaft. Es wäre ja dämlich, wenn eine Freundschaft nur wegen eine Filmes zu bröckeln beginnen würde.
Bei den Diskussionen gewann aber meistens Maria. Sie konnte sich irgendwie gegen Lailas Trotzanfall durchsetzen, sodass sie schlussendlich dann doch einen Horrorfilm schauten.
Allerdings bezweifelte Sahra, dass Maria Laila überhaupt schon gefragt hatte, also schrieb sie: „Ist Laila denn damit einverstanden?" Es dauerte nicht lange, da bekam sie eine Antwort. „Nun, ich habe sie noch nicht eingeweiht. Ich wollte es ihr Vorort vorschlagen. Übrigens, die Karten zahle ich, ich lade euch ja ein."
Sie grinste, als sie den letzten Teil der Nachricht laß. „Wie großzügig von dir", schrieb sie und setzte noch einen lachenden Emoji dahinter. Maria schickte ihr drei tränende Lach-Emojis und ging dann offline. Sahra hörte wie eine Tür aufging. Ihre Mutter war wohl gerade aufgestanden. Wenig später klopfte es an ihrer Zimmertür.
„Ja!", rief sie zur Tür und Marlene öffnete diese verschlafen.
„Guten Morgen Maus, du bist ja schon wach", sagte sie.
„Ja", gab Sahra kurz zurück.
„Wollen wir frühstücken?", fragte Marlene.
Jetzt Sahra, lügen!
„Ne, ich hab schon gegessen." Ihre Mutter sah sie verblüfft an. „Echt? Das hab ich gar nicht gehört."
„Ja, ich hab versucht leise zu sein um dich nicht zu stören."
„Das ist aber lieb von dir", sagte sie lächelnd. „Na dann werde ich alleine frühstücken." Gerade wollte sie die Tür schließen, als Sahra noch etwas einfiel. „Äh Mama, ich geh heute mit Laila und Maria ins Kino, nur das du es weißt." Sie hielt inne.
„Okay, mach du nur", dann verschwand sie in die Küche.
„Puh, Glück gehabt", dachte sie sich und widmete sich wieder ihrem Handy. Ihre Mutter hatte keinen Verdacht geschöpft. Und dadurch, dass sie ins Kino ginge, würde sie hier Zuhause das Mittagessen verpassen. Perfekt. Und sie nahm sich auch vor im Kino nichts zu essen. Kein Popcorn, keine Nachos, gar nichts. Sie würde sich ihre Trinkflasche mit Wasser mitnehmen und mehr nicht. Um später auch nicht schwach zu werden, würde sie extra alles Geld zuhause lassen, damit sie sich nichts kaufen könnte.
Während ihre Mutter frühstückte machte sie noch einige Sit Ups und Kniebeugen. Dann legte sie sich zurück auf die Couch und guckte YouTube.
Bis sie losmüsste hatte sie noch so einiges an Zeit, also konnte sie sich an ihrer Freizeit erfreuen. Um zum Cinemax zu kommen würde sie mit der Straßenbahn fahren. Sie könnte auch das Fahrrad nehmen, doch nach einem Blick auf die Wettervorhersage entschied sie sich dagegen, da für den Nachmittag Regen angesagt war.
Als es Zehn Minuten vor 14 Uhr war stand sie auf. Sie hatte die vergangene Zeit mit YouTube, Netflix, ein bisschen Musik hören und lesen verbracht. Doch jetzt wurde es langsam mal Zeit, dass sie losging. Sie kramte ihren Rucksack hervor, den sie mit zum Kino nehmen würde. Dann füllte sie ihre Trinkflasche mit Leitungswasser auf und steckte sie, zusammen mit einer Packung Taschentücher, ihrer Powerbank, einem Ladekabel und ihrem Portemonnaie in den Rucksack. Aus dem Portemonnaie entfernte sie zuvor das ganze Geld.
Sie stellte ihn in den Flur und begann sich anzuziehen. Schuhe, Jacke und sie nahm noch einen Regenschirm mit. Sicher war sicher. Kurz klopfte sie noch an der Zimmertür ihrer Mutter und öffnete sie. „Ich geh jetzt los", sagte sie.
„Viel Spaß dir", wünschte Marlene ihrer Tochter. Diese schloss die Tür wieder, nahm sich ihren Schlüsselbund und verließ die Wohnung.
Sie stand keine Zwei Minuten an der Straßenbahnhaltestelle, da fing es an zu Nieseln. Sahra zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und stellte sich unter die Überdachung der Haltestelle. Den Schirm würde sie erst nutzen, wenn es richtig anfing zu regnen.
Als die Bahn endlich kam hatte sich die Wolkendecke weiter verdichtet und das Nieseln wurde allmählich stärker.
Während der Fahrt schaute sie aus dem Fenster und beobachtete die an der Scheibe hinunterlaufenden Wassertropfen.
Als sie schließlich am Cinemax die Bahn verließ, nachdem sie Zwei Mal umgestiegen war, prasselte der Regen nur so zu Boden. Sofort spannte sie ihren Schirm auf und eilte schnellen Schrittes zu der Drehtür, die ins innere des Gebäudes führte. Drinnen angekommen schüttelte sie den Schirm kurz aus und klappte ihn zusammen. Dann zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und überprüfte die Zeit. Es war 14:33 Uhr. Sie blickte sich in der Eingangshalle um. Vielleicht waren Laila und Maria ja schon da.
Und Tatsache! Da standen sie, am rechten Rand und unterhielten sich augenscheinlich. Gerade schaute Maria einmal durch die Halle, da winkte Sahra ihr zu, um auf sich aufmerksam zu machen, und ging zu ihnen herüber. Maria erblickte sie, winkte zurück und machte Laila auf sie aufmerksam. Bei den beiden angekommen umarmten sie sich zur Begrüßung und Maria ergriff das Wort: „Hey, schön, dass du da bist. Wollen wir dann?" Laila nickte, doch Sahra fragte nach: „Äh Laila, weißt du welchen Film wir schauen wollen? Hast du es ihr gesagt Maria?"
„Ja, hab ich. Und sie ist einverstanden, stimmt's?", sie stupste Laila in die Seite. Diese kicherte kurz. „Ja, bin ich", sagte sie dann. Sahra war erstaunt.
„Echt jetzt? Einfach so? Ohne Widerworte? Sonst braucht ihr doch ewig, bis ihr euch auf einen Film geeinigt habt." Maria seufzte. „Es hat auch gedauert, bis ich sie dazu überredet bekommen habe. Wir waren beide relativ früh hier und in der Zeit haben wir einen Kompromiss gemacht: Sie guckt heute mit uns „Es 2", dafür darf sie sich beim nächsten Mal den Film aussuchen." Laila grinste und nickte beschwingt. Dann klatschte Maria in die Hände. „So, jetzt aber, lasst uns die Karten kaufen. Wir haben zwar noch Zeit, aber ich muss mal auf's Klo", sagte sie und machte sich auf, in Richtung der Kassen. Sahra und Laila schlossen sich ihr an. Sie bezahlte die Karten, nachdem die Verkäuferin ihre Ausweise zu sehen verlangt hatte, und passierten den Kontrolleur.
„Also, ihr holt euch Snacks und ich bin mal kurz für kleine Horrorfilm-Fans", sagte Maria und wollte sich gerade zu den Toiletten aufmachen, doch wurde sie von Sahra aufgehalten. „Warte, sollen wir für dich was kaufen?"
„Ne lass mal, ich bin ja nicht so der Freund von Popcorn oder Nachos, ich hab mir einfach eine Tüte Chips mit eingepackt." Sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter auf ihren Rucksack.
„Ah, okay", nickte Sahra und Maria machte sich auf den Weg. Die beiden verbliebenen Mädchen stellten sich an die Schlange für Snacks an.
„Und, was holst du dir?", fragte Laila und spähte zu den verschiedenen Popcorn-Tüten-Größen.
Jetzt Sahra, du willst nichts essen!
„Ich äh, ich hab keinen Hunger", antwortete sie hastig. „Ich hab Zuhause schon etwas gegessen." Laila kramte aus ihrem Rucksack ihr Portemonnaie hervor und trat an die Kasse.
„Okay", sagte sie schnell, dann wandte sie sich dem Verkäufer zu. „Ich hätte gerne einmal Popcorn Groß und eine kleine Cola." Der Verkäufer drehte sich um und befüllte einen Becher mit Cola und schaufelte Popcorn in eine Tüte. Dann tippte er alles in die Kasse ein und Laila bezahlte.
„Kannst du mal das Popcorn nehmen?", fragte sie Sahra, da sie gerade in der einen Hand ihre Geldbörse und in der anderen die Cola hatte. Sie nickte und griff nach der Tüte. Dann traten sie beiseite, um dem nächsten Platz zu machen, und Laila drückte Sahra noch den Becher in die Hand, damit sie ihr Portemonnaie wieder in ihrem Rucksack verstauen konnte.
„Im übrigen", sagte Laila und nahm die Snacks an sich, „wenn du willst kannst du von meinem Popcorn mitessen. Ich werde es wahrscheinlich eh nicht schaffen alles zu essen."
„Okay, danke", antwortete sie, doch innerlich nahm sie sich wieder vor nichts zu essen. Sie würde nichts essen, nein, würde sie nicht.
Maria kam wieder und die drei machten sich auf den Weg zum Kinosaal. Sie hatten noch etwas Zeit, aber sie setzten sich dennoch schon einmal auf ihre Plätze. Außer ihnen waren noch einige andere Menschen hier, es war allerdings noch überschaubar.
Sie verteilten sich und ihre Sachen, die Rucksäcke und Jacken, über ein paar Kinosessel und setzten sich. Sie stellten ihre Handys noch auf Lautlos und quatschten die restliche Zeit, bis das Licht gedämmt wurde und die Vorstellung begann.
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