Ein Jahr zuvor - Teil 1
Lisa amüsierte sich köstlich. Heute hatte sie eine wichtige Prüfung hinter sich gebracht, sich nach langer Zeit wieder einmal mit ihrer besten Freundin in einem Club verabredet. Ricki war der Sonnenschein in ihrem Leben, das sonst nicht viel Licht zuließ.
Ihre Eltern waren im letzten Jahrhundert hängengeblieben, verstanden nicht im Geringsten, dass Lisa studieren wollte, anstatt so schnell wie möglich Geld zu verdienen.
Zum Glück war ihr Abi-Schnitt so gut gewesen, dass sie ein Begabtenstipendium vom Freistaat Bayern bekommen hatte. Die meisten Kosten waren damit abgedeckt, den kleinen Rest verdiente sie sich mit Nachhilfestunden dazu.
Auch mit dem Studiengang Sozialpädagogik konnten die Eltern nichts anfangen.
Jura oder BWL, darunter konnten sie sich etwas vorstellen. Da kannten sie Berufe, mit denen sich Geld verdienen ließ.
Geld, Geld, Geld! Immer ging es zu Hause um Geld.
Lisa verstand sie aber auch ein wenig. Beide arbeiteten in Vollzeit, und trotzdem reichte es gerade zum Überleben. Miete, Energiekosten, Lebensmittel - alles wurde immer teurer, und die Lohnerhöhungen hielten da nur bedingt mit.
Manchmal hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie nichts zum Familienbudget beitragen konnte. Andererseits waren Kinder nicht dazu da, Träume der Eltern zu erfüllen. Dafür mussten die schon selbst sorgen.
Wenn sie irgendwann einmal selbst verdiente, würde sie die Eltern sicher unterstützen.
Doch diese Gedanken hatten heute keinen Platz in ihrem Kopf, heute wollte sie feiern. Sie war alles andere als ein Partygirl, gönnte sich nur ganz selten einmal einen Clubbesuch, saß die meiste Zeit über ihren Büchern.
Ricki zog sie auf die Tanzfläche, Lisa versuchte sich zu bewegen wie die anderen, was ihr ziemlich schwer fiel. Zu sehr war sie aus der Übung.
*
Henry betrat den Club eher lustlos. Sein alter Herr hatte ihm heute wieder einmal die Hölle heißgemacht.
„Du bist 27 und hockst jeden Tag zu Hause!" Wenn er schon so loslegte, war Henry klar, wie es weitergehen würde.
„Ich in deinem Alter ..."
„Du solltest dir langsam eine Frau suchen ..."
„Die Firma braucht einen Erben ..."
Blablabla! Immer wieder, in regelmäßigen Abständen, kamen die gleichen Tiraden.
Überheblich, arrogant, im Befehlston.
„Du solltest..."
„Du musst ..."
Er konnte es nicht mehr ertragen.
Er hatte immer funktioniert, im Gymnasium eine Klasse übersprungen, das BWL-Studium in Rekordzeit durchgezogen, seine Doktorarbeit war hoch ausgezeichnet worden, er hatte in der Firma einige Abteilungen durchlaufen, hatte sich reell nach oben gearbeitet, machte seinen Job als Stellvertreter seines Vaters mehr als gut.
Aber nie war es genug.
Kein Lob, keine Anerkennung, nichts.
Er war froh und dankbar, dass es Bernie gab.
Den Bruder, den es viele Jahre lang nicht gegeben hatte.
Den sie nach der Geburt in ein Heim gesteckt hatten.
Er war durch Zufall dahintergekommen, als er im Schreibtischfach seines Vaters nach Unterlagen gesucht hatte. Ein achtlos hineingestopftes Blatt hatte sich zusammengeknüllt in der hinteren Ecke verkeilt.
Entwicklungsbericht Bernhard von Wertheim hatte er fassungslos gelesen.
Er hatte nie mit seinen Eltern darüber gesprochen, aber der Groll gegen sie war ins Unendliche gewachsen.
Von dem Tag an hatte er seinen Bruder regelmäßig besucht, er hatte stundenlang mit ihm geredet. Das heißt, er hatte geredet - über seinen Frust, seine Trauer, seine Einsamkeit. Bernie hatte zugehört, ohne Ratschläge zu erteilen, ohne zu werten, ohne Einwände - was natürlich daran lag, dass er das Wenigste begriff.
Mit dem Verstand - denn mit dem Herzen war es sehr viel mehr, davon war Henry überzeugt.
Als der Vater endlich mit seiner Ansprache fertig war, wollte Henry nur noch raus. Er schlüpfte in seine Bikerjacke, setzte den Helm auf und startete die schwere Maschine - die einzige Extravaganz, die er sich leistete. Ein paar Runden langsam über die Landstraßen zu kurven, würde ihn beruhigen, würde seinen Kopf frei machen.
Es war eine warme Julinacht, es zog ihn in die Stadt, auf den Straßen würde noch einiges los sein.
Er wollte einmal einfach nur leben.
Im Club, den er eher sporadisch besuchte, war es laut und heiß.
Eine Weile beobachtete er das Publikum, bis sein Blick an zwei jungen Frauen hängenblieb, die an der Bar standen und offensichtlich viel Spaß zusammen hatten.
Das Lachen der kleinen zierlichen mit den langen blonden Locken zog ihn an und er machte sich auf den Weg.
*
Lisa stand mit Ricki an der Bar, trank gierig einen Schluck Wasser. Das Tanzen hatte richtig Spaß gemacht, sie nahm sich vor, das bald wieder einmal zu machen.
Jung sein - loslassen - leben.
Da stand plötzlich ein junger Mann vor ihr, verneigte sich leicht und fragte doch tatsächlich: „Darf ich bitten?"
Ricki prustete los, der junge Mann lief ein wenig rot an. Lisa tat er leid. Die Freundin war so ein Gefühlswalross!
„Gern", antwortete sie deshalb mit einem Lächeln. Er fasste sie am Ellbogen und führte sie allen Ernstes zur Tanzfläche.
Er legte die Linke um ihre Taille, griff nach ihrer rechten Hand und tanzte wahr und wahrhaftig einen Disco-Fox mit ihr!
Lisa lächelte in sich hinein. War der aus dem letzten Jahrhundert, in einer Zeitschleife hängen geblieben?
Aber andererseits war das sehr schön, genoss sie jede Bewegung in seinem Arm, denn er tanzte wirklich ausgezeichnet! Sie fühlte sich wohl bei ihm. Ohne Prickeln, ohne Herzklopfen, ohne Schnappatmung.
Aber beruhigt, angenehm, gut - irgendwie aufgehoben.
Sie verließen die Tanzfläche nach einem Song, zogen sich in den Nebenraum zurück. Dort war es ruhiger, sie konnten sich unterhalten.
Das taten sie auch während der nächsten Stunden. Sie lachten, sprachen über ernste Themen. Hatten aber auch einfach nur Spaß zusammen. Es knisterte nicht, aber sie fühlten sich wohl.
Als der Club schloss, waren beide mehr als überrascht, wie schnell die Zeit verflogen war.
„Kann ich dich nach Hause bringen?", fragte er und sie stimmte zu, setzte den zweiten Helm auf und stieg auf die schwere Maschine.
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3497 Wörter bis hier
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