Kapitel 25
Gegenwart 5
Die wenigen Worte: „Hallo, hier ist Mama!", lösten in Henry zweierlei Gedanken aus.
Zum einen war es bezeichnend für das Verhältnis zu seiner Mutter, dass ihre Nummer nicht auf seinem Handy eingespeichert war.
Zum zweiten hoffte er, dass sie nicht im Auftrag seines Vaters anrief.
„Was willst du?", fragte er deshalb ziemlich schroff.
„Weißt du, wo Bernie ist?" Ihre Stimme klang etwas heiser, als hätte sie geweint.
„Ja", antwortete er vorsichtig. „Warum fragst du?"
Sie schien tief einzuatmen. „Ich ...", begann sie, stockte dann. „Ich habe deinen Vater verlassen, ich möchte gerne Bernie sehen. All die Jahre habe ich meinen Kleinen nicht aus den Augen verloren, das musst du mir glauben!", sprudelten schließlich die Worte weiter. In einer sehr schnell vorgebrachten Kurzfassung erfuhr Henry all das, was er nie für möglich gehalten hatte. Er versuchte, ihren Ausführungen zu folgen, schaffte es mit Mühe einigermaßen.
„Kann ich dich treffen?", fragte sie etwas atemlos nach ihrer langen Rede.
Henry versuchte sich zu sammeln.
Auch das noch!
Eine Aussprache mit seiner Mutter.
Kam denn plötzlich alles auf einmal zusammen?
Er wischte sich übers Gesicht. „Ich wollte gerade zu Bernie und der Familie, bei der er zurzeit lebt, fahren", versuchte er abzuwiegeln. Er musste Zeit gewinnen, das ging alles ein wenig zu schnell.
„Klaras Eltern?", fragte Rebekka aufgeregt. „Kann ich da nicht mitkommen? Hol mich doch bitte ab!"
Leicht verwundert wog er ab. Woher wusste sie von Klara?
Sie hatte wohl bei ihren Besuchen im Heim mitbekommen, wie sehr Bernie an dem Mädchen hing, erinnerte er sich.
Aber so schlecht wäre die Idee gar nicht. Dort wäre neutraler Boden, sie alle könnten sich anhören, was die „Mama" vorhatte, sie konnten Bernie beschützen, falls sie ihn seelisch verletzen würde.
Aufseufzend gab er nach, ließ sich den Namen des Hotels geben, in dem sie untergekommen war.
Bernie wollte Henry so stürmisch wie immer begrüßen, hielt aber inne, als er die Frau hinter seinem Bruder erkannte.
Das war die Tante von Kathrin, die sehr krank war, im Rollstuhl saß und nicht reden konnte.
Die hatte auch mit ihm immer wieder gesprochen, hatte ihm sogar manchmal Schokolade mitgebracht.
Aber warum kam sie zusammen mit Henry zu Klaras Eltern?
Und warum lachte sie ihn so an, als würde sie sich freuen, dass sie ihn sah?
Dann wollte sie ihm um den Hals fallen, aber das mochte er nicht. Er ging einen Schritt nach hinten, war froh über Henrys Hand, die seine festhielt.
Sie gingen alle ins Haus, und die fast fremde Frau fing an zu reden.
Viel zu reden.
Schnell zu reden.
Zu schnell für ihn.
Immer wieder sah er zu Henry, der noch seine Hand hielt, ganz fest.
Er wusste, der Bruder würde ihm dann schon alles erklären, aber langsamer als diese Frau, die er nur ein bisschen kannte.
Als sie endlich still war, dachte er nach.
Oder besser, er versuchte nachzudenken.
Das war nicht leicht.
Sie hatte gesagt, dass sie seine Mama ist.
Das hatte er mitbekommen. Nach diesen Worten war es noch schwerer gewesen, sie zu verstehen.
Er war - wie alt?
Er hatte es schon wieder vergessen, wusste nur noch, dass er beinahe zweimal seine Hände brauchte, um die Jahre zu zählen.
Also, musste er das wohl jetzt machen. Als er bei zehn angelangt war, klappte er alle Finger wieder zu, klappte sie bedächtig wieder auf. Elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn sechzehn, siebzehn, achtzehn.
Das hatte er gut hinbekommen, das war schwer in seinem Kopf mit diesen langen Wörtern für Zahlen.
Zwei Finger mussten übrigbleiben, daran erinnerte er sich.
Achtzehn!
Er war achtzehn Jahre alt.
Das musste viel sein, weil er so viele Finger gebraucht hat.
Verwundert sah er die Frau an. „Ich bin achtzehn Jahre alt! Warum kommst du erst heute?"
Rebekka versuchte, die Tränen in den Augen zu behalten.
„Weil ich dumm bin?", antwortete sie mit einer Frage.
Bernie sah sie ernst an. „Niemand ist dumm, sagt Henry immer. Aber vielleicht ein bisschen langsamer beim Denken?", gab er in seiner bedächtigen Sprechweise von sich.
Als alle lachten, freute er sich.
Dabei hatte er gar nichts Lustiges gesagt - nur die Wahrheit.
Eine Frau, die achtzehn Jahre braucht, bis sie zu ihm als Mama kommt, war sicher sehr langsam beim Denken - noch langsamer als er.
Denn achtzehn Jahre waren viel, wenn man dafür beinahe zweimal beide Hände brauchte, um sie zu zählen.
Dann sagte sie etwas Komisches, etwas, das sich schlimm anhörte, weil er sie doch gar nicht kannte. „Aber jetzt wird alles gut! Du kommst zu mir, und wir machen es uns richtig schön. Wir können zusammen verreisen oder zum Einkaufen irgendwohin fahren. Wir können fliegen, wohin du willst." Rebekka sprach und träumte sich in einen wahren Glückstaumel, im Überschwang ihrer Gefühle wollte sie ihrem Jüngsten alle Wünsche auf einmal erfüllen - und merkte nicht, dass das alles ihre Wünsche waren.
Sah nicht, wie Bernies Augen immer größer wurden, immer feuchter, wie seine Hände sich um die Tischkante krallten, wie sein Atem immer schneller ging.
Henry war bei jedem ihrer Worte wütender geworden. Sie verstand nichts, hatte nie etwas verstanden.
Als er ein Kind war, fühlte sie sich überfordert, das hatte er als Heranwachsender dann schon verstanden. Deshalb hatten ihn auch Nannys großgezogen. Begriffen hatte er dann auch, warum die so häufig wechselten. Immer wenn sie seinem Vater als Gespielin langweilig geworden waren, kam eine Neue.
Er selbst hatte nie Gefühle für seine Mutter entwickeln können, sie war ihm eigentlich fremd, wie sie es Bernie war. Jetzt hatte sie also beschlossen, für Bernie die Mama zu spielen, überforderte ihn vollkommen mit ihren wirren Vorschlägen.
„Ich glaube, du gehst jetzt besser!", stieß er zwischen den Zähnen hervor. Eigentlich war ihm nach Anbrüllen zumute, endlich mal.
Sie sah ihn verständnislos an. „Aber warum? Ich meine es doch nur gut! Wir haben so viel Zeit verloren!" Dann quetschte sie ein paar Tränchen heraus, die ihn aber nicht im Geringsten beeindruckten.
„Und du glaubst allen Ernstes, dass sich achtzehn Jahre nachholen lassen? Dass man verlorene Zeit zurückgewinnen kann mit ein paar Reisen, ein wenig Shopping? Bis er dir dann wieder auf deine zartbesaiteten Nerven geht und du die nächsten achtzehn Jahre wieder verschwindest, um dich hinter deinen Büchern zu verstecken?" Er redete sich ordentlich in Rage.
Bernie rückte ganz nah zu Klaras Vater. Henry war so wütend. Er glaubte zwar nicht, dass er böse auf ihn war. Weil er mit der fremden Mama schimpfte. Aber er mochte es trotzdem nicht, dass sein Bruder so laut wurde.
Rebekka wurde klar, dass sie zu schnell vorgeprescht war. Henry hatte recht, sie musste erst mit kleinen Schritten beweisen, dass sie sich um Bernie kümmern konnte. Sie verstand auch Henrys Wut auf sie.
Nervös knetete sie ihre Hände, wich Henrys Blick ebenso aus wie Bernies. Auseinandersetzungen zu führen, war sie nicht gewohnt. Bis auf das eine Mal, als sie sich gegenüber Gustav-Albert durchgesetzt hatte, als sie das Kind unbedingt bekommen wollte, hatte sie sich eigentlich immer gefügt, untergeordnet.
Vielleicht hatte ihr Ältester recht, womöglich hatte sie das alles im Überschwang der Gefühle nicht vollumfänglich durchdacht.
Henry taten seine scharfen Worte ein wenig leid. So hart hätte er nicht werden müssen.
Doch Rebekka musste die Realität wahrnehmen, endlich einmal. Mit knapp fünfzig wäre es an der Zeit.
Sie straffte die Schultern, atmete tief ein. „Ich sollte fahren", murmelte sie. „Rufst du mir bitte ein Taxi?"
Niemand hielt sie auf, Henry drückte auf den Kontakt seines bevorzugten Taxi-Unternehmens.
Bernie war sehr erleichtert, als die fremde Mama weg war. Auch, dass sie nicht noch einmal versucht hatte, ihn in die Arme zu nehmen. Er mochte das nicht von allen Menschen.
Die Stimmung war ziemlich im Keller, Henry sah die Hafners entschuldigend an. Zum Glück rettete der Sonnenschein Klara die Situation. „Komm", forderte sie Bernie auf. „Ich habe ein neues Puzzle bekommen."
Bernie strahlte sofort. Puzzles liebte er beinahe so sehr wie Lastwagen zusammenbauen.
Nun konnte Henry endlich mit Max und Heidi über die Zukunft seines Bruders sprechen. Dass er bei der Familie untergekommen war, war ein Glücksfall, aber keine endgültige Lösung. Er berichtete von seinen Recherchen, dass er leider nicht erfolgreich dabei gewesen war.
Auch das Thema einer betreuten Erwachsenen-Wohngruppe sprach er an, spürte aber die ablehnende Haltung der Beiden.
„Wir fahren jetzt erst einmal mit Klara in Urlaub", erklärte Max. „Das war ja schon länger geplant. Zwei Wochen an die Nordsee, in drei Tagen."
„Gut! Dann nehme ich Bernie zu mir und Lisa." Da fiel ihm ein, dass sich ja seine Nicht-Ehefrau mit ihrem Lover versöhnt zu haben schien. „Oder nur zu mir. Ich weiß nicht, was Lisa plant"
Plötzlich überkam ihn eine bleischwere Müdigkeit. Er wollte nur noch nach Hause, alle Probleme vertagen. Die Aussprache mit seinem Vater stand ja auch noch an.
Die Wut auf seinen Erzeuger stieg wieder hoch. Der war schuld an dem ganzen Durcheinander, zu dem sein Leben geworden war.
------------------------------
29.024 Wörter bis hier
------------------------------
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro