Kapitel 17
Das erste Jahr - Teil 6
Eine Woche lang blieb Bastian stark. Er vermisste Lisa so sehr, dass er es zu Haus kaum aushielt.
Doch auch in der Schule konnte er nur noch die notwendige Zeit verbringen, immer hatte er das Gefühl, er müsste sich nur umdrehen, sie anlächeln, seine Probleme mit ihr besprechen.
Doch da war nichts außer gähnender Leere, um ihn und in ihm.
Er fing wieder an zu joggen, hoffte, dass ein ausgepowerter Körper seinen Kopf zum Schweigen bringen würde.
Und sein Herz.
Lisa schlafwandelte durch die folgenden Tage. Die kindischen Albereien ihrer Kommilitonen gingen ihr auf den Geist, die plumpen Anmachsprüche noch mehr.
Henry schien im Wolkenkuckucksheim zu leben, auf alle Fälle war er in anderen Sphären unterwegs. An den seltenen Abenden, an denen er zu Hause war, lief er mit einem dümmlichen Grinsen im Gesicht herum.
Er schien sich verliebt zu haben, was sie ihm ja durchaus gönnte.
Der Zeitpunkt war für sie jetzt eher suboptimal, aber er hatte ja ein eigenes Leben. Die kryptische Antwort damals auf ihre Frage, was aus ihrer WG würde, wenn er sich verliebte, fiel ihr wieder einmal ein: „Das wird nicht geschehen!"
Pf! Von wegen!
Sie tigerte durch die Wohnung, kontrollierte zwanzig Mal am Tag ihre Mailbox, den Akkustand, die WhatsApp-Nachrichten.
Warum, gestand sie sich selbst nicht ein.
Natürlich erwartete sie nicht, dass Bastian sich bei ihr meldete.
Warum sollte er auch?
Er war verheiratet, glücklich, wie es den Anschein hatte.
Er war an die 15 Jahre älter als sie, was sollte er von einer wie ihr wollen?
Und was sollte sie von ihm wollen?
Er war kein Mann, der einer Frau heiße Träume bescherte.
Mittelgroß, mehr als ein kleiner Bauchansatz, die Haare eher schütter als dicht.
Als Sven anrief, um sich wieder einmal mit ihr zu verabreden, sagte sie so schnell zu, dass es ihr danach beinahe peinlich war.
Der würde eine Meinung von ihr haben.
Der Abend verlief dann auch so grottenschlecht, dass Sven sie lieber nach Hause brachte, als sie mit zu sich zu nehmen.
„Kein Mann hat es sonderlich gern, wenn ihm eine Frau stundenlang von einem Bastian vorschwärmt!", erklärte er mit einem gezwungenen Lächeln, als sie ihre Haustür erreicht hatten.
Heulend lag sie danach im Bett, stand wieder auf, schenkte sich ein Glas Rotwein ein, leerte es ziemlich schnell - doch der Alkohol ließ sie noch rührseliger werden.
Am nächsten Morgen, einem Samstag, läutete ihr Handy. „Bastian" las sie, und ihre Hand begann so sehr zu zittern, dass sie aus Versehen den roten Button erwischte.
Ohne lange nachzudenken, rief sie seinen Kontakt auf, drückte auf Grün.
Sie versuchte, ihre Schnappatmung unter Kontrolle zu bringen, als er sich mit einem Seufzen und einem „Lisa!" meldete.
„Du hast angerufen?", brachte sie gerade so heraus.
„Ja! Habe ich", kam es zurück, dann schwiegen beide eine Weile.
Doch schon brach es aus ihm heraus: „Ich möchte dich sehen. Ich vermisse dich so sehr. Ich möchte so viel mit dir bereden!" Er merkte selbst, wie idiotisch seine Worte klingen mussten.
Sie war so jung, so wunderschön, was sollte sie denn von ihm wollen?
Und vor allem, was konnte er ihr anbieten?
Eine Affäre mit einem verheirateten Mann?
Der um so viel älter war als sie?
Der noch nicht einmal sonderlich gut aussah?
Doch als er ihre leisen, unsicheren Worte hörte - „Wann können wir uns treffen?" - lösten sich alle Bedenken in einem verliebten Nebel auf.
„Jetzt? Gleich?", antwortete er schnell, damit sie es sich nicht anders überlegen konnte.
Und ohne einen einzigen Gedanken zuzulassen, sagte sie: „Willst du zu mir kommen?"
Henry war auf Geschäftsreise, bei Bastian konnten sie sich ja wohl schlecht treffen. Und das, was da zwischen ihnen beiden schwang, machte auch einen unverbindlichen Café-Besuch nicht so recht möglich.
Das fühlte sie mit einer ganz neuen Sicherheit.
„Ich bin unterwegs. Schick mir deine Adresse!", brachte er gerade noch heraus, während er in seine Schuhe und seine Jacke schlüpfte.
„Ich muss in die Schule! Probleme mit einem Schüler!", rief er Bianca zu, die nur nickte.
Ein freier Samstag, mit einem Film oder einer Serie und einem Glas Wein waren ihr sowieso lieber als ein nerviger Ehemann.
Als ihm Lisa die Wohnungstür geöffnet hatte, hielten sie sich auch nicht lange mit Erklärungen auf. Sie wussten beide, was sie wollten, was sie unbedingt haben mussten: Sich!
Ihre Körper zogen sich magisch an, Küsse, Zärtlichkeiten, Atemlosigkeit.
Die Kleidung legte eine Spur zu ihrem Schlafzimmer, der Rausch erfasste sie voll und ganz.
Schweratmend lagen sie nebeneinander, einen solchen Höhenflug hatten sie beide noch nie erlebt.
Doch der Sturz in die Realität kam schnell, als Bastians Handy klingelte.
„Bianca" las er und legte das Gerät zu Seite, ließ es weiterläuten. Kurz darauf hörten sie beide die Stimme seiner Frau, der man deutlich anmerkte, dass sie nicht ganz nüchtern war. „Schatz? Bitte komm nach Hause. Ich habe mir sooo in den Finger geschnitten, du musst das ansehen!"
Bastian seufzte tief, fuhr sich über sein Gesicht, wich aber Lisas Blick aus. Er ging noch schnell ins Bad, um das Kondom loszuwerden. Eigentlich sollte er ja duschen. Nicht dass Bianca der fremde Duft auffiel, der ihn einhüllte.
Wie machten das die Typen in den Filmen immer, wenn sie ihre Frauen betrogen hatten? Kopfschüttelnd über diese blödsinnigen Gedanken kam er ins Schlafzimmer zurück.
Lisa hatte sich schon angezogen, versuchte, die Coole zu geben.
Er wollte sie noch einmal in seine Arme nehmen, sich entschuldigen, ihr erklären ... Aber was?
Doch ihre vor der Brust gekreuzten Arme spiegelten ihre Ablehnung mehr als deutlich.
Als er an der Garderobe vorbeikam, sah er eine Herrenjacke und zwei Paar Schuhe, die eindeutig nicht Lisa gehörten.
Fragend drehte er sich nach ihr um. Sie zuckte mit den Schultern. „Gehört meinem Freund!", erklärte sie, und die Worte auszusprechen, tat ihr verdammt gut!
Bastian fuhr wie in Trance nach Hause. Natürlich war Biancas Verletzung lächerlich, warum sie ihn angerufen hatte, erschloss sich ihm nicht.
Sie ahnte sicher nichts, hatte das Interesse an ihm schon lange verloren.
Hin und wieder, alle Jubeltage einmal, gab es Sex, der mehr ihrem Alkoholkonsum entsprang als Begehren und Leidenschaft.
Er spürte mehr als deutlich, dass er diese Ehe nicht mehr wollte.
Lisa lief ebenfalls wie in Trance durch die Wohnung - wieder einmal, und wieder einmal wegen Bastian.
Was hatte sie getan?
Was hatten sie getan?
Und doch hatte sie das Gefühl, dass es nicht zum letzten Mal geschehen war.
Und zu ihrer Überraschung war es ihr egal, ob es richtig oder falsch war.
In den nächsten Wochen trafen Lisa und Bastian mal bei ihr zu Hause - die Sache mit ihrem Freund hatte sie ihm erklärt - hin und wieder auch in Hotels.
Aber immer wieder fuhr er zu Bianca zurück, immer wieder verließ er Lisa. Er schaffte es nicht, loszulassen. So empfand sie das, ausgesprochen hatte sie es nie.
Langsam war sie am Ende ihrer Kräfte.
Dann meldete er sich zwei Wochen gar nicht mehr, ihre Anrufe drückte er weg, ihre Textnachrichten ignorierte er.
Er ghostete sie nach allen Regeln der Kunst. Jeden Tag brach ihr Herz ein wenig mehr, bis sie fürchtete, die Scherben würden sie innerlich zerfetzen.
Dann kam Henry vollkommen zerstört nach Hause. Er berichtete von Gustav-Alberts Ultimatum. Lisa war so sehr durch den Wind, dass sie nichts hinterfragte, auch von Henry keine Antworten, keine Erklärungen einforderte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie keine Tränen mehr, aber auch keinen Glauben an eine Zukunft mit einem anderen Mann mehr.
Warum also sollte sie dann nicht Henry heiraten, wenn seine Welt davon abhing?
Als Bastian plötzlich vor ihrer Tür stand, war sie längst zu Eis erstarrt.
„Du wirst deine Frau nie verlassen!", brachte sie gerade noch heraus.
Sein „Das stimmt nicht!" nahm sie kaum wahr.
„Aber das macht nichts! Ich werde sowieso heiraten", waren ihre letzten Worte für den Mann, den sie liebte, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug.
Während der nächsten Tage kam sie weder zum Nachdenken noch zum Fühlen oder Vermissen. Sie war taub, starr auf das Projekt Hochzeit Gustav-Alberts fokussiert.
Sie bekam nicht einmal mit, wie Henry litt, wunderte sich auch nicht, dass er diesen Schritt so bereitwillig machte.
Ihr Herz aus Eis konnte nicht für andere schlagen, ihre erfrorene Seele konnte nicht fühlen.
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18.639 Wörter bis hier
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