Kapitel 14
Das erste Jahr - Teil 3
An manchen Abenden musste Henry los. Er war siebenundzwanzig, seine Sexualität forderte hin und wieder einfach mehr als Handarbeit unter der Dusche. Dann brauchte er einen Körper in seinen Armen, brauchte Lippen auf seinen, brauchte Hände, die ihn berührten.
Er suchte nicht nach Liebe, denn selbst, wenn er sie fand, würde sie keine Zukunft haben.
Nie!
Deshalb war er auch nicht in Bars unterwegs oder in Clubs, sondern auf der Straße.
Dort entstanden keine Beziehungen, dort bezahlte er und bekam Sex.
Er war ein großzügiger Lover und bald in der Szene bekannt.
Mit ihm gab es keine schnellen Nummern an Hausecken, im Auto, im Gebüsch.
Mit ihm gab es Nächte in Mittelklassehotels, eine Dusche, manchmal sogar ein Dinner aufs Zimmer, immer ein ordentliches Frühstück.
Seine Auserwählten konnten sich glücklich schätzen, wunderten sich nur, dass er immer mit hochgezogener Kapuze seines Hoodies und Sonnenbrille unterwegs war.
In diesen Kreisen war sein Gesicht nicht bekannt, in den Hotels lief er schon eher Gefahr, erkannt zu werden.
Lisa erzählte er immer von Meetings, die sich in die Nacht hineinziehen würden, von Übernachtungen im Büro. Warum er das tat, wusste er nicht. Er war sicher, dass sie nicht urteilen würde über ihn, dass sie ihn verstehen würde.
In seinem Auto lag eine Tasche mit Kosmetikartikeln und Wäsche zum Wechseln.
Nach diesen Nächten kam er immer besonders entspannt in der Firma an, war freundlicher als sonst zu seinem Vater, weil er das glückliche Gefühl hatte, dem Alten eine Nase gedreht zu haben.
Doch dann passierte, was er nie für möglich gehalten hatte.
Er verliebte sich.
Er begriff es ziemlich schnell.
Etwas war anders gewesen in der letzten Nacht.
Der Sex war nicht das Wichtigste gewesen, eine riesengroße Zärtlichkeit hatte ihn überflutet, er hatte fühlen wollen - und er hatte gefühlt.
Nicht nur mit den überreizten Nervenenden an seiner Haut, sondern noch viel mehr mit seinem Herzen.
Er hatte sich gewehrt, hatte tagelang dagegen angekämpft, hatte verloren.
Er war sich vollkommen klar darüber, dass diese Liebe keine Chance haben würde - nie.
Doch dann konnte er nicht mehr, zog los, hatte nur den einen Gedanken im Kopf: Die Hoffnung, dass er ihn wiederfinden würde.
Sein Glück, als er ihn an derselben Ecke wie vor ein paar Tagen stehen sah, raste durch seinen Körper, sein Gehirn schickte ein Riesendosis Serotonin durch seine Blutbahnen.
Strahlend lief er auf ihn zu, doch sein Lächeln wurde nicht erwidert.
„Was willst du?", hörte er stattdessen.
„Dich!", brachte er nur hervor.
Die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, um die Geldscheine einzufordern, schmerzte. Er zog seine Börse heraus, entnahm ihr alles an Barem, das er dabeihatte.
Der junge Mann grinste, schob die Kohle in die Tasche seiner Jeans.
„Na dann!", sagte er vollkommen unbeteiligt. „Dafür kannst du ja einiges erwarten!"
Henry schluckte schwer. Irgendetwas war heute anders als beim letzten Mal. Im Hotel wurde ihm dann auch ziemlich schnell klar, was Sache war. Er sah die erweiterten Pupillen, zog die Ärmel am Shirt seines Lovers hoch, sah die Einstiche.
In dieser Nacht gab es keinen Sex, aber lange Gespräche.
*
Wenn den siebzehnjährigen Henry jemand gefragt hätte, ob er schwul sei, hätte derjenige riskiert, ein paar Zähne zu verlieren.
Schwul!
Er!
Mit fünfzehn hatte er, genau wie seine Kumpel, den Mädchen hinterhergepfiffen, hatte Zoten über dicke Möpse oder fette Hintern gerissen, hatte Fotos von nackten Frauen angeschaut, hatte aber auch gern gutgebaute Männerkörper gesehen.
Als Sechzehnjähriger hatte er begonnen, mit Mädchen rumzumachen, weil alle das taten, hatte sie geküsst, weil es dazu gehörte. Hatte aber auch immer öfter auf die vollen Lippen von Männern gestarrt, weil die ihm um so viel anziehender erschienen als die lackierten, rotbemalten der Frauen.
Den ersten Sex mit Gela brachte er irgendwie hinter sich, weil sie besser Bescheid wusste als er.
Natürlich schlief er mit Frauen, mit Mädchen - aber eben nicht so oft wie seine Freunde. Seine Gedanken drehten sich nicht ununterbrochen ums Vögeln, um Brüste, um Muschis.
Hin und wieder erfand er das eine oder andere Abenteuer, damit er auch etwas zu erzählen hatte.
Bei seiner ersten Semesterparty saß er mehr oder weniger gelangweilt mit einer Flasche Bier im Gras, stierte ein Gruppe von Mädchen an, die ausgelassen tanzten. Eine von ihnen hatte ihn vor einer Weile ziemlich eindeutig angebaggert, er hatte sie ebenso eindeutig abblitzen lassen.
Er hatte heute keinen Bock auf dieses ganze Getue. Süßholzraspeln, knutschen, anfassen, abschleppen.
Sein Interesse galt schon eher dem Typen mit der wilden schwarzen Mähne, groß, kräftig, der die Frauen ziemlich aufreizend antanzte. Gekonnte Hüftschwünge, geschmeidige Bewegungen, ein anziehendes Lächeln, halbgeschlossene Augen.
Henry bemerkte entsetzt, dass er einen Ständer bekam. Schnell wandte er sich ab, trank seine Flasche leer, sprang auf, um sich eine neue zu holen.
Er lehnte sich an eine Hauswand, sah in alle Richtungen, nur nicht zu den Tanzenden, versuchte, seine Gedanken wieder in ungefährlichere Bahnen zu lenken.
Seine Nase nahm plötzlich einen gefährlichen Duft wahr. Minze, Zitrone und ein Hauch von frischem Schweiß. Sein Körper fühlte einen anderen dicht neben sich, zu nah.
„Na? Hat dir gefallen, was du gesehen hast?", fragte eine dunkle Stimme leise dicht an seinem Ohr.
Henry wich einen Schritt zur Seite, spürte, dass er das eigentlich nicht wollte.
„Was meinst du? Die Mädels? Die Hupfdohlen?", antwortete er, seine Stimme gehorchte ihm kaum.
„Du weißt genau, was ich meine!", erklärte der andere lachend. „Du hast mich mit deinen Augen förmlich ausgezogen!"
Henry lief feuerrot an.
War der verrückt?
Hielt er ihn für einen warmen Bruder?
Bloß weil er noch nicht eines der Weiber in die Büsche gezogen hatte?
Weg! Er musste weg von diesem Idioten!
Doch eine Hand unter dem Shirt auf seinem Rücken, die andere in seinem Schritt hielten ihn fest.
In dieser Nacht hatte Henry zum ersten Mal Sex mit einem Mann.
Doch es dauerte noch ein paar Jahre, bis er sich eingestand, dass er sich nur zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlte, dass er schwul war.
*
Und nun, mit Siebenundzwanzig, saß er in einem Hotelzimmer mit einem Junkie, den er nicht verlieren wollte.
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14.688 Wörter bis hier
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