Kapitel 13
Zurück im Jetzt - Teil 6
Ray lief durch die Straßen, die eine ganze Zeit lang seine Heimat gewesen waren.
Bis ...
Nein, er durfte nicht daran denken!
Im Bahnhofsviertel traf er immer auf Gleichgesinnte, verlorene Seelen, wie er eine war.
Vor allem gab es da immer Stoff, was alles war, wonach er gegiert hatte - lange Zeit.
Seine Gedanken wanderten zurück, so sehr er auch dagegen kämpfte. Vor drei Monaten hatte sich seine Welt, sein Denken und Handeln von heute auf morgen gedreht, ausnahmsweise mal zum Guten.
Die Liebe war ihm begegnet, von heute auf morgen, unverhofft, unerwartet, neu für ihn.
Hatte ihn mit voller Wucht erwischt.
Hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, um ihn sanft wieder darauf landen zu lassen.
Zum ersten Mal in seinem Leben war er mit dem Kopf nicht gegen die harte Wand des Schicksals gelaufen, sondern gegen rosarote Wolken.
Ray hatte sich voll und ganz darauf eingelassen, hatte sich zu einem Methadonprogramm überreden lassen, hatte sich gequält wie ein Tier.
Für ein Lächeln, einen Kuss hatte er Tag für Tag durchgehalten, schließlich Woche für Woche.
Er war so dumm gewesen!
Hatte an die Liebe geglaubt!
Dass auch einer wie er sie finden konnte, glücklich sein durfte.
Doch dann kam dieser Tag, der schwärzeste seines Lebens, nach so vielen goldenen völlig unerwartet.
Drei Worte nahmen ihm erst den Atem, dann jeglichen Lebenswillen: „Ich werde heiraten!"
Heute war der Tag der vermaledeiten Hochzeit!
Bis zuletzt hatte er sich an einen Hauch von Hoffnung geklammert, auf einen Anruf gewartet, von dem er doch gewusst hatte, dass er nicht kommen würde.
Ebenso wenig wie eine Textnachricht.
Er hatte durchgehalten, wollte nicht wieder zurück in das Chaos seines früheren Lebens.
Nicht, nachdem er geliebt hatte und auch geglaubt hatte, geliebt zu werden.
Fuck! Fuck! Fuck!
Er hätte es wissen müssen!
Liebe, Glück!
Das war nichts für einen wie ihn.
Das stand einfach nicht in seinen Sternen.
In der Gosse geboren, in der Gosse gelebt, nach den Sternen gegriffen, in die Gosse zurückgestürzt.
Heute brauchte er einen Schuss - er konnte das Bild in seinem Kopf nicht länger ertragen.
Kohle hatte er noch ein wenig.
Für heute würde es reichen, morgen würde er weitersehen.
Heute musste er sich zudröhnen.
Um überleben zu können.
Schnell hatte er seinen Stammdealer ausgemacht, beinahe wortlos hatten die Kristalle und das Geld die Besitzer gewechselt.
Dann lief er in seine Behausung, ließ sich auf die neue Matratze - ein Geschenk - fallen, bereitete alles vor.
Doch plötzlich hörte er eine Stimme - eine wundervolle Stimme - in seinem Kopf: „Mach das nicht! Es ist dein Leben, und du hast nur eines!"
Da brach er zusammen. Die Tränen liefen wie Sturzbäche über sein Gesicht, die Nase schwoll zu, er keuchte, schnappte nach Luft und weinte weiter und weiter.
So hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht geheult.
Nach einer Stunde etwa, als er keine Kraft und auch keine Tränen mehr hatte, rappelte er sich auf, warf das Dreckszeug, das sein halbes bisheriges Leben bestimmt und zerstört hatte, in die Toilette.
Er zog seine Sportklamotten und seine hochwertigen Laufschuhe an, alles Geschenke, sie waren oft zusammen gelaufen.
Er hatte gemerkt, wie ihm das gut getan hatte, wie sein Körper an Kraft gewann, den er für den Kampf gegen die Sucht dringend gebraucht hatte.
Er lief durch die warme Sommernacht, fühlte einen Funken an Hoffnung in sich aufkeimen, obwohl heute der Tag der Hochzeit war.
Hoffnung auf ein Leben - das einzige, das er hatte.
*
Bastian kippte den dritten Wodka, während er in der Küche das Fleisch würzte. Bald würden die ersten Gäste eintreffen, der Grill war vorgeheizt, er würde wie immer perfekte Steaks servieren, wie immer der perfekte Gastgeber sein.
Er würde lachen über dumme Witze und würde ein bestimmtes Lachen vermissen.
Er würde seine Frau küssen und bestimmte Lippen vermissen.
Mit Sicherheit würde er zu viel trinken, hatte jetzt schon einen ziemlich hohen Pegel.
Bianca würde zetern: „Trink nicht so viel! Schließlich habe ich heute Geburtstag."
Er hörte die Worte schon in seinem Kopf.
Und wieder würde er nicht antworten: „Du hast es gerade nötig! Wer kippt denn jeden Tag eine Flasche Rotwein?"
Er hatte es aufgegeben, sich zu wehren.
Er hatte es aufgegeben, auf Glück in dieser Ehe zu hoffen.
Er hatte sich aufgegeben.
Ein paar Wochen lang hatte er sich während des letzten Jahres aufgebäumt gegen das Schicksal, hatte sich verliebt, hatte geliebt.
Bianca hatte nicht einmal das gefühlt.
Dabei hatte er insgeheim so darauf gehofft, dass dieses Verhältnis, nein - diese Liebesgeschichte - auffliegen würde.
Dann hatte das Schicksal wieder einmal die Hure gespielt, nachdem er es für kurze Zeit für einen Engel gehalten hatte. Bianca hatte ihm eröffnet, dass sie schwanger war. Es musste passiert sein, kurz bevor er sich verliebt hatte.
Ein bedauerlicher Unfall, wie sie es genannt hatte. Kinder waren in ihrer beider Leben nicht vorgesehen gewesen. Er hatte an der Schule täglich genug davon, sie war viel zu egoistisch, um Mutter sein zu können.
Tagelang hatte er mit sich gekämpft, bis er sich endlich durchgerungen hatte, dass auch ein Kind nichts ändern würde. Er konnte das hier nicht mehr.
Er wollte leben - sein Leben.
Doch diese wenigen Tage des Überlegens, des inneren Kampfes um Sicherheit, des Zögerns waren genau die Zeit zu viel gewesen, hatten das, was sein Glück hätte sein können, zerstört.
An diesem Abend, als er beschlossen hatte zurückzugehen in das Leben, das er eigentlich wollte, hörte er die Worte: „Du wirst deine Frau sowieso nie verlassen!"
„Das ist nicht wahr!" Er versuchte zu erklären, doch da war die Türe schon ins Schloss gefallen, nachdem zwei Sätze den Schlusspunkt gesetzt hatten. „Aber das macht nichts! Ich werde sowieso heiraten."
Und heute war die Hochzeit, den Termin hatte er aus der Presse erfahren. Diese verdammte Hochzeit war das Thema in seiner Stadt.
An Biancas Geburtstag.
Seiner Frau, die das Kind verloren hatte, was sie aber nicht sehr betrauerte.
Im Gegensatz zu ihm. Es hatte ihn sehr getroffen, dass dieses Leben so schnell zu Ende gegangen war, noch bevor er sich daran hatte gewöhnen können.
Er kippte noch einen Wodka, ging hinaus, begrüßte die Gäste, grillte die Steaks, war der perfekte Gastgeber - wie immer.
Seine Gedanken waren bei einem Paar, das sich heute das Ja-Wort gab, und dessen einer Teil eigentlich zu ihm gehören sollte.
Als sie viel später die Letzten verabschiedet hatten, als sich Bianca angesäuselt - oder besser, nahezu hackevoll - an ihn schmiegte, sagte er endlich die richtigen Worte: „Ich werde dich verlassen."
Sie kicherte nur dümmlich, er brachte sie zum Bett, nahm seine Decke und sein Kissen, um es sich im Gästezimmer einigermaßen bequem zu machen.
Wider Erwarten schlief er tief und fest.
Er würde gehen.
Morgen.
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