Die neue Unverbindlichkeit
Ein Text, der mir viel bedeutet. Als ich im "As Cool As Ice - Schreibwettbewerb" der engagierten bierfreunde den Text von sweet_predator gelesen habe, kann ich nicht anders, als mit einem längeren Text zu antworten.
Liebe Aira - dieser Text ist für dich, für Vally und für eure lieben Freundinnen.
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Die Weihnachtszeit ist eine stressige Zeit geworden. An Schulen werden noch Prüfungen durchgeführt, als gäbe es keinen Morgen danach. Im Verkauf werden Sonderschichten verlangt, die Zulieferer stellen temporäre Fahrer ein, um die Flut an Waren befördern zu können. Menschen rennen durch die Straßen, als seien sie auf der Flucht und nicht auf der Suche nach einem passenden Geschenk für die Liebsten.
Freunde erinnern sich mit einem Mal daran, dass sie Freunde haben und veranstalten allerlei soziale Events. Das Fest aller Feste hält am traditionellen Familienfest fest. Für den einzelnen Menschen wird das schnell überfordernd. Zudem besteht das permanente Überangebot von Unterhaltung und Social-Media. Mails und Posts wollen beantwortet, kommentiert werden. Alles muss man sehen, lesen und wenn möglich liken und kommentieren.
Das gleichzeitige Haschen nach Aufmerksamkeit und Erfüllen aller Anforderungen wird zur Überforderung. Am liebsten verkröche man sich auf eine einsame Insel ohne Netz - mit Ausnahme des Fischernetzes, natürlich. Der größte Stress ist, sich zu entscheiden, woran man teilnehmen will und was man an sich vorbeistreichen lässt. Im Fachjargon nennt man das "Prioritäten setzen" - Ich nenne es einfach auswählen.
Als kleiner Junge durfte ich einmal mit meinem Vater in einen Modellauto-Laden und mir ein Spielzeugauto aussuchen. Lange stand ich vor den gewaltigen Vitrinen und lernte die Bedeutung der Worte "Die Qual der Wahl" kennen. Mit dem Kauf war meine Wahl abgeschlossen. Beim Spielen hatte ich vergessen, was es sonst noch alles im Laden gehabt hätte, machte mir keine Gedanken mehr darüber, ob mein Spiel mit dem anderen Auto wohl noch interessanter geworden wäre. Ich war glücklich und spielte mit meinem neuen Auto.
So geht es uns heute permanent. Wir stehen twenty-four-seven vor Entscheidungen und müssen ständig Auswahlen treffen. In die Bar mit den Freunden aus dem Training oder doch lieber Netflixen mit den WG-Kumpeln, oder vielleicht ans Weihnachtsessen mit den Arbeitskollegen oder bei der Schwester zum Raclette vorbeischauen? Wenn ich mit meiner Zusage noch etwas länger warte, trifft vielleicht noch ein attraktiveres Angebot ein, eines, das ich verpassen würde, wenn ich mich zu früh entscheide. Stress pur; die Insel ruft.
Das allein reicht heute noch nicht. Es ist Mode geworden, sich auch, wenn man schon einen Entscheid gefällt hat, umzuentscheiden. Für mich, der in einer anderen Welt aufgewachsen ist, ein absolutes No-Go. Aber für Menschen unter dreissig vollkommen normal. Wenn ich heute eine Party organisiere, dann sagen zwanzig Menschen begeistert zu, freuen sich; am Abend sitze ich dann mit den vier Menschen, die wirklich gekommen sind, am Tisch und verbringe einen gemütlichen Abend. Der Rest hat sich, wenn es hoch kommt, mit einer Ausrede, einem vermeintlichen Grund, den man immer findet, abgemeldet; die meisten jedoch erscheinen nicht und melden sich auch nicht. Auf Anfrage heisst es dann mit gespielter Reue: "Ach das war gestern? Ojeh, ich hatte leider total vergessen, dass ich schon etwas anderes geplant hatte."
Man nennt das "Neue Unverbindlichkeit". Nichts ist mehr verbindlich. Nichts? Toll! Ich gehe arbeiten, wenn ich gerade nichts Gescheiteres zu tun habe. Ich heirate heute diese Frau und morgen dann gehe ich mit der anderen in Urlaub. Geschenke, die ich erhalte, tausche ich in solche um, die mir besser gefallen - ohne daran zu denken, dass sich jemand Gedanken zu meinem Geschenk gemacht hat. Hätte dieses Verhalten schon in meiner Kindheit gegolten, dann hätten wir das Spielzeugauto nicht bezahlt und ich hätte mir jeden Tag ein anderes geholt, mich umentschieden.
Wahrscheinlich liegt es genau daran, dass niemand mehr gerne Events organisiert. Es ist nämlich unglaublich frustrierend, etwas zu planen und am Ende zu merken, dass von den jubelnden Followers und Fans gerade mal eine Handvoll es als genügend wichtig betrachtet, um hinzugehen. Mit diesen "No-Shows" kämpfen auch Restaurants und sogar Hotels. Deshalb werden heute Gebühren verlangt, wenn man Reservationen tätigt. Gebühren, die man nicht zurückerhält, wenn man nicht erscheint.
Ich hatte von meinen Eltern noch gelernt, dass eine erste Zusage verbindlich gilt. Wenn ich ja gesagt habe, dann galt dieses Ja ohne Wenn und Aber. So lebe ich heute noch. Eine Zusage ist eine Zusage; ich habe mich entschieden und erinnere mich daran, wie mein Vater für mein Spielzeugauto bezahlt hat. Es interessiert mich nicht mehr, was ich an diesem Abend alles verpassen könnte - und ich verpasse auch nichts, wenn ich den Abend genieße und mich dem hingebe, was ich gewählt habe.
Wenn ich meiner Chefin sage, dass ich eine Aufgabe bis zu diesem Zeitpunkt erledige, dann gilt das und ich setze alles daran, den Zeitplan einzuhalten. Verspätung geht gar nicht. Wenn ich zu spät zum Bahnhof komme, ist der Zug schon abgefahren - zumindest in der Schweiz. Eine Aufgabe, zu der ich zugestimmt oder die ich erhalten habe, nicht zu erledigen, ist keine Alternative. Ich würde gefühlt im Boden versinken, wenn ich erklären müsste, eine Aufgabe nicht termingerecht erledigt zu haben. Nie musste ich als Schüler einem Lehrer sagen, ich hätte die Hausaufgaben nicht gemacht. Das war und ist für mich eine Frage der Ehre.
Die gute Christine (@vermittlerin) hat es in ihrem Buch 'Author's Corner' auch bitter erfahren müssen. Autorinnen sagten zu, Christine nahm sich die Zeit, las auf den Profilen und in den Büchern. Sie stellte persönliche Fragen zusammen und schickte die Fragebogen voller Vorfreude auf die Antworten an die Autorinnen. Doch einige von ihnen reagierten nicht mehr; als wären sie verschollen. Mit viel Glück und noch mehr Zeitaufwand gelang es Christine in sehr wenigen Fällen letztendlich eine Absage zu erhalten; immerhin. Dabei hatte sie sich so auf die Antworten der Autorinnen gefreut; sie hatte sich bereits vorgestellt, was die interessanten Menschen wohl schreiben werden. Die Enttäuschung tat weh; sichtbar. Mehr als einmal stand sie kurz davor, das Projekt zu begraben. Gutes Zureden und einige Kochabende mit Wein und sizilianischem Strand haben sie überzeugt, weiterzumachen. Nicht aufgeben - sich an dem freuen, was kommt. Feiern mit den Menschen, die hier sind. Spielen mit dem Auto, das ich heimgenommen habe.
Und nicht darüber nachdenken, was ich eventuell verpasst haben könnte. Eine verlorengegangene Kunst; die Frage der Ehre und der Verbindlichkeit.
Sehr gerne würde ich für euch kochen und einen guten Tropfen Wein öffnen. Lasst es mich virtuell tun. Ich schicke euch die Energie, weiterzumachen. Ich schicke euch Gelassenheit, damit ihr mit den Absagen und den No-Shows umgehen könnt. Ich schicke euch aber vor allem viel Freude, auf dass die Feste mit den Menschen im Jetzt - jene, die gekommen sind - rauschend und unvergesslich werden.
Ich danke euch, dass ihr so engagiert seid. Und ich danke dir, Aira, dass du es so deutlich gesagt hast. Christine hat die Zeilen, bei aller Traurigkeit, gefeiert und dir in jedem einzelnen Wort zugestimmt! "Endlich sagt's mal jemand deutlich genug."
(p.s. Ich freue mich jetzt schon auf die Interviews mit euch allen. Vor allem auch auf deins, Vally.)
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