Elftes Kapitel
Elftes Kapitel.
In dem Lily einen Knauf fest im Griff hat
Lily hatte damit gerechnet, dass sie wahrscheinlich darüber nachdenken würde, wie es wäre, mit James zu schlafen, wenn sie einmal darüber geredet hatten. Sie hatte nicht erwartet, wie allgegenwärtig diese Gedanken sein würden.
Über das Wochenende hinweg tauchte die Idee immer wieder in ihrem Kopf auf, sie versuchte, es sich vorzustellen, wie es ablaufen würde, wie es sich anfühlen würde, ob sie es mögen würde, ob er es mögen würde. Es machte sie wahnsinnig, weil es ihr die letzten Jahre eigentlich ziemlich gut gefallen hatte, dass das Thema in ihrem Leben keine Rolle spielte.
Aber sogar, als sie am Montag nach Ladenschluss vom Tropfenden Kessel nach Hause noch beim Supermarkt anhielt, um Dinge fürs Abendessen einzukaufen, schweiften ihre Gedanken wieder dort hin zurück. Unwirsch wischte sie sie weg und konzentrierte sich wieder darauf, eine gute Aubergine für den Auflauf zu finden, den sie nachher machen wollte. Sie kam sich reichlich dämlich vor, als sie an verschiedenen Exemplaren herumdrückte, nicht wirklich viel Ahnung habend, was eine gute Aubergine ausmachte.
Schließlich griff sie einfach wahllos eine und beeilte sich dann durch den Gang mit Wurst und Käse, schnappte sich beim Brot neues Toastbrot für Sirius und stand schließlich an der Kasse. Die ältere Dame vor ihr zahlte ihren Wocheneinkauf natürlich mit Kleingeld und so freute Lily sich wirklich sehr, als sie schließlich mit ihrer Einkaufstasche auf dem Heimweg war.
Zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt entspannte sie sich wieder etwas, als sie unter einigen Bäumen hindurch lief und die Abendsonne ihr sanft aufs Gesicht fiel. Sie seufzte leise und verlangsamte ihren Schritt ein wenig, um diesen ruhigen Moment mehr genießen zu können. Als sie unter den Bäumen hervor trat, wenige Meter von der nächsten Straßenkreuzung entfernt, an einer Bushaltestelle, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht auf einer Bank, was ihre Laune noch einmal hob.
"Hey, Pip!", grüßte sie ihren Nachbarn fröhlich. Er saß an der Bushaltestelle, neben sich eine große Tasche mit Einkäufen, dazwischen sein schicker Gehstock. Er hatte die Augen geschlossen, aber als er ihre Stimme hörte, blinzelte er.
"Lily", grüßte er sie überrascht, "schön dich zu sehen!" Er musterte sie von oben bis unten. "Auch mit dem Einkauf auf dem Weg nach Hause?"
Sie nickte und hob ihre Tasche etwas an.
"Jup", meinte sie. "Und du? Kurze Pause gemacht, um das Wetter zu genießen?"
Er zögerte kurz.
"Ja, genau", sagte er dann fröhlich. "Wie geht's dir?"
"Etwas erschöpft, wenn ich ehrlich bin." Sie streckte ihren Rücken, der schon mindestens seit dem Nachmittag schmerzte, als sie eine Stunde lang verschiedene Pflanzen gestutzt hatte. "War ein langer Tag im Laden. Aber jetzt freu ich mich auf ein gemütliches Abendessen und dann rumgammeln auf dem Sofa. Und du?"
"Joa", meinte Pip und streckte seine Beine aus. "Ähnlich."
Lily lächelte mitleidig.
"Lust, das letzte Stückchen gemeinsam zu gehen?", schlug sie vor. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er zustimmen, dann schüttelte er den Kopf.
"Ich glaube, ich bleibe noch einen Moment hier sitzen."
Lily musterte ihn von oben bis unten.
"Ist alles in Ordnung bei dir?", fragte sie vorsichtig. "Willst du noch etwas Gesellschaft? Ich hab nichts Tiefgefrorenes im Beutel."
Pip zuckte mit den Schultern.
"Werde dich nicht aufhalten, wenn du dich noch einen Moment zu mir setzt", erklärte er. Als sie Anstalten machte, sich zu ihm zu setzen, richtete er sich auf und machte sich daran, ein Stück zur Seite zu rutschen. Kurz fragte sich Lily, ob sie es sich einbildete, dass sich sein Gesicht ein bisschen verzog, als hätte er Schmerzen, als er sich bewegte. Dann stieß er bei einer Drehbewegung ein leises Keuchen hervor und räumte damit alle Zweifel aus.
"Pip", sagte Lily noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck, "bist du ok?"
Er seufzte leise.
"Nicht wirklich", gab er zu. "Mir tun die Beine weh. Ist leider bei mir häufiger so. Es ist manchmal schlimmer, manchmal weniger schlimm. Heute hab ich mich verschätzt, dachte es geht besser als es dann letztendlich war."
Lily lächelte etwas traurig.
"Das klingt echt mies", erklärte sie. "Gibt es da irgendwas, was du tun kannst, dass es besser wird?"
Er zuckte mit den Schultern.
"Nicht wirklich", erklärte er. "Ich kann mich damit abfinden, dass ich einfach den Rest meines Lebens damit verbringe." Er zuckte mit den Schultern. "Ich hab Schwierigkeiten mit meinen Knochen. Oder Gelenken. Oder vielleicht auch Muskeln. Niemand weiß es so genau und ich kann mir mehr Tests nicht wirklich leisten." Er verzog das Gesicht. "Fakt ist, Dinge tun mir weh. Meist vor allem meine Beine, Hüfte, Knie. Halt alles, was man so zum Laufen braucht. Es ist nicht die beste Perspektive, aber auch nicht die schlechteste. Es ist nicht immer so und ich komme definitiv zurecht. Ich brauche kein Mitleid oder so."
Lily hob die Hände.
"Hatte nicht vor, dich zu bemitleiden", versicherte sie ihm schnell, auch wenn es natürlich schon ein Gefühl war, was in ihr gerade vorherrschte.
"Ich komme klar", betonte Pip noch einmal. "Wie gesagt, ich hab mich heute nur verschätzt. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass es so schlimm wird, hätte ich Schmerztabletten mitgenommen. Und den besseren Gehstock."
Lily musterte den Stock, der an der Bank lehnte. Er schien ihr ganz normal, es war der, den sie schon einige Male an ihm gesehen hatte - aus schwarzem Holz mit silbernen Verzierungen. Das untere Ende war aus festem Gummi und wirkte rutschfest, oben war ein Knauf aus Metall.
"Was macht einen besseren Gehstock aus?", fragte sie neugierig. Er machte eine einladende Handbewegung.
"Nimm ihn mal in die Hand", schlug er vor. Vorsichtig griff sie danach. Er schien ihre Unsicherheit zu bemerken und grinste. "Keine Angst, du kannst ihn nicht kaputt machen - er ist dafür gemacht, das Gewicht einer Person zu halten, schon vergessen?"
Lily strich sich peinlich berührt eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann griff sie fester zu. Der silbrige Knauf war kühl und fest in ihrer Hand.
"Und jetzt?", fragte sie. Er nickte ermutigend.
"Versuch mal, ein paar Schritte damit zu gehen und lehn dich wirklich richtig drauf", wies er sie an. "Stell dir vor, es ist wirklich schmerzhaft, aufzutreten." Er sah an ihr herunter und wieder hinauf. "Du bist etwas größer als ich, also ist er nicht ideal für dich, aber ich glaube, du merkst trotzdem gleich, was ich meine."
Lily stellte ihre Einkaufstasche auf der Bank ab und stand wieder auf, den Gehstock in der Hand. Dann lief sie ein paar Schritte, versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie ihr eines Bein nicht wirklich benutzen könnte. Es war schwierig, es sich vorzustellen, schließlich war sie noch nie in der Position gewesen. Klar hatte sie mal Wachstumsschmerzen oder einen fiesen blauen Fleck gehabt. Aber an sich hatte sie sich noch nie wirklich verletzt, dass sie auch nur eine Idee hatte, wie es sich anfühlte, auf einen Gehstock angewiesen zu sein.
Sie lehnte sich darauf, ihre Finger klammerten sich um den Knauf, als sie ihr Gewicht darauf verlagerte. Und nach wenigen Schritten hatte sie eine ungefähre Ahnung, was er ihr zeigen wollte. Der Knauf passte zwar gut in ihre Hand, solange sie ihn locker darin hielt, aber jetzt, wo sie ihn mit viel Kraft festhielt, war er hart und unnachgiebig unter ihren Knöcheln. Sie wusste nicht so recht, wo sie am geschicktesten ihre Finger positionieren sollte, weil immer irgendein Fingergelenk seitlich schmerzhaft dagegen drückte.
"Wie geht's deiner Hand?", fragte Pip, als sie einige Schritte gegangen und dann stehen geblieben war. Sie löste den festen Griff um den Knauf und stellte ihn zurück neben Pip an die Bank.
"Etwas schmerzhaft", antwortete sie und streckte und dehnte ihre verkrampften Finger. Er nickte.
"Ja, leider", stimmte er zu. "Der Metallknauf ist nicht ideal als Griff. Nabi, meine Schwester, hat ihn mir geschenkt, als ich vor einigen Jahren angefangen habe, Probleme mit dem Laufen zu haben. Er ist schön, ich mag ihn und ich hab ihn in meinen Stil integriert." Er zuckte mit den Schultern. "Aber ideal zum Laufen ist er nicht. Ich hab noch einen anderen, mit ergonomischem Griff und so. Der ist natürlich nicht ganz so schick."
Lily nickte, das ergab alles recht viel Sinn.
"Darf ich dich was fragen?" Sie musterte ihn von der Seite. Er zuckte mit den Schultern.
"Du kannst alles fragen, was du möchtest", erklärte er. "Es kann nur sein, dass ich nicht antworte oder dir erkläre, warum die Frage unangebracht ist."
"Das klingt fair", meinte Lily erleichtert. "Bitte mach das auf jeden Fall." Sie räusperte sich. "Ich weiß nicht genau, wie ich dich das fragen soll, was ich will, weil ich nicht will, dass es überheblich wirkt oder dir unterstellt, dass du nicht eigenständig klar kommst. Weil du sicher einschätzen kannst, was du brauchst und alles."
Er hörte ihr aufmerksam zu. Als sie eine Pause machte, lächelte er ein bisschen.
"Ich hab noch keine Frage gehört", erinnerte er sie sanft. Lily seufzte.
"Bist du ok?", fragte sie. "Kommst du zurecht? Können James und ich dir irgendwie helfen?"
Pip musterte sie.
"Du hast auf jeden Fall recht damit, dass ich mir gut überlegt habe, was ich tue", meinte er dann. "Ich habe mich bewusst entschieden, alleine zu wohnen und alles und ich komme definitiv zurecht. Es ist aber natürlich sehr lieb, dass du dir Gedanken machst."
Lily überlegte für einen Moment.
"Ich mach dir einen Vorschlag", sagte sie schließlich. "Ich werde dir grundsätzlich keine Hilfe anbieten, die du nicht brauchst und willst. Und im Gegenzug gibst du bescheid, falls du doch mal Hilfe brauchst oder willst." Sie hob die Hand, als er sichtbar zum Protest ansetzte. "Das ist nicht wegen dem Stock. Oder, nur ein bisschen. Alleine wohnen ist schwierig, manchmal braucht man einfach bei irgendwas Hilfe. Weil man ein zweites Paar Hände gebrauchen kann oder es einem nicht gut geht." Sie deutete auf seine Einkaufstüte. "Oder weil man sich verschätzt hat mit der Menge an Einkäufen, die man alleine nach Hause tragen kann."
Pip starrte sie für einige Momente an, sie konnte in seinen Augen deutlich sehen, dass dahinter ein Kampf ausgetragen wurde. Schließlich seufzte er.
"Ok", gab er leise nach. "Und danke dir." Er schluckte. "Ich schätze, es ist doch nicht ganz so einfach, sich einzugestehen, dass man bei bestimmten Dingen Hilfe manchmal ganz gut gebrauchen kann."
Lily schmunzelte.
"Heißt das, ich darf dir dabei helfen, deine Einkäufe nach Hause zu tragen?", fragte sie verschmitzt. Er lächelte.
"Ich wäre dir sehr dankbar dafür."
Sie standen beide auf, Lily setzte ihren Rucksack auf und schulterte ihre eigene kleine Einkaufstasche, dann schnappte sie sich seine. Als er protestierte, dass sie jetzt alles trug, ließ sie sich herunterhandeln und überreichte ihm ihre eigene, behielt seine deutlich schwerere aber auf ihrer Schulter. Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg und Lily konnte den Gedanken nicht ganz verbannen, dass das hier vielleicht der etwas unkonventionelle Anfang einer Freundschaft war.
Während alle aus unserem Gryffindor-Oktett irgendwie mit ihren Identitätskrisen kämpfen, muss manchmal auch einfach Zeit sein, neue Freundschaften zu schließen, oder? Passiert ja sowieso meist dann, wenn man am wenigsten damit rechnet. Nächstes Kapitel geht's dann aber wieder zurück zu unserer Chaostruppe, da wird Lily dann in einen Schrank gesperrt.
Mir ist außerdem ein bisschen zu Ohren gekommen, dass ihr mir teilweise nicht vertraut, wenn es um die Schicksale unserer liebsten Hauptfigürchen geht. Ich verstehe eure Sorge, dass ich plane, ihnen weh zu tun (und da diese Geschichte planmäßig 40-50 Kapitel bekommt, werde ich mich aus rechtlichen Gründen nicht dazu äußern, wie gerechtfertigt die ist), aber ich verspreche euch, dass ich einen Plan habe, wo ich hin will und dass ihr am Ende zufrieden sein werdet, wo wir landen, auch wenn es vielleicht nicht immer das ist, was ihr jetzt gerade für das beste haltet und euch der Weg dahin teilweise nicht direkt gefallen mag.
Aber kommt schon, wir machen das hier alle gemeinsam nicht zum ersten Mal, ihr kennt mich - ich denke, ein kleiner Vertrauensvorschuss ist hier ein faires Verlangen :D
Ich wünsche euch allen eine wunderbare Woche, danke euch allen für die Besserungswünsche aus dem letzten Kapitel, mir geht's inzwischen wieder deutlich besser - ich hoffe, das ist bei euch allen auch so!
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