Kapitel 19
Was bildeten sie sich eigentlich ein? Was war eigentlich ihr Problem? Und was konnte ich dagegen tun?
Wahrscheinlich eh nichts.
Ich war wütend. So wütend wie schon lang nicht mehr. Wobei, es war nicht direkt Wut, viel mehr Frust.
Nach dem ich gefühlt eine Ewigkeit wahllos durch die Gegend gerannt war, da ich es nicht länger im Haus ausgehalten hatte, kam ich zum Stehen.
Meine Beine schmerzten, ebenso wie meine Füße sich anfühlten, als würden sie jeden Moment wegrutschen. Mein Atem ging unregelmäßig. Ich keuchte.
Wie lange ich gerannt war, wusste ich nicht, aber es war sicher lange gewesen. Ganz bestimmt. Aber dennoch... irgendwas in mir sagte, dass ich noch nicht weit genug gerannt war. Ich wollte einfach weg. Es war mir alles zuviel. Ich hatte keine Lust auch nur mit irgendjemanden ein Wort zu wechseln, aber ich wusste nicht wohin ich lief und ich wusste, dass das nicht so ideal war.
Langsam versuchte ich wieder zu Atem zu kommen. Kontrolliert musste ich atmen, damit ich wieder einigermaßen an Luft kam ohne gleich wieder Probleme zu kriegen.
Da hatten sich all die Stunden joggen mit Ferry doch noch ausgezahlt.
Als ich wieder so einigermaßen ruhig atmete, nahm ich mir die Zeit mich selbst und meine Lage zu betrachten. Vielleicht war sie doch nicht so aussichtslos. Zwar war mein Orientierungssinn nicht so der beste, aber ich wusste, dass wenn ich zumindest wissend und aufmerksam irgendwo lang lief, dass ich den Weg wieder zurück finden würde. Nur -das Problem war- ich hatte nicht wirklich auf den Weg geachtet.
Schmerz pochte in meinen Beinen und als ich nach unten blickte, sah ich woher er stammte. Scheinbar hatte ich mir beim Rennen die Beine aufgeschlürft, was wahrscheinlich passiert war, während ich wahllos durchs Gestrüpp gerannt war und dabei ein paar Pflanzen gestreift habe, die vielleicht Dornen besaßen.
Blut quoll aus den Wunden hervor, zwar nicht viel, aber gerade noch genug, um sichtbar zu sein.
Nicht wissend, was ich tun sollte, biss ich mir auf die Lippen und versuchte auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Allerdings war es leichter gesagt als getan und so stand ich gefühlte Stunden da mit dem Versuch meine Gedanken zu ordnen.
Als das Stehen mich schmerzte, ließ ich mich auf den weichen, aber etwas unebenen Waldboden sinken.
Wie lange ich wohl schon unterwegs war? Ich konnte es nicht sagen, aber einerseits wollte ich wieder zurück. Zurück in die schöne Wärme und Geborgenheit des Hauses.
Einerseits. Andererseits wollte ich einfach nur weg, so weit weg wie möglich und niemals zurück. Ich hasste Streit, ich hatte Angst davor, Leuten danach wieder unter die Augen zu treten, aus Angst, es würde wieder von vorn anfangen. Vielleicht war ebendies der Grund, aus dem ich mich so verzweifelt an den andererseits festhielt.
Wo war ich? Irgendwo im Wald, das war jedenfalls klar. Aber wo im Wald? War es eine Stelle, die ich kannte oder war ich hier noch nie entlang gekommen? Wie lange würde ich hier sitzen bleiben? Würde ich irgendwann aufstehen und wieder nach Hause gehen oder würde ich dann einfach nur weiter rennen? Würde ich überhaupt jemals wieder zurückfinden?
Etwas ängstlich zog ich meine Knie an meinen Körper und umklammerte meine Beine mit meinen Händen.
Auf einmal war es so kalt. So eisig kalt.
Wieder einmal erinnerte ich mich an alles Mögliche, aber an nichts Brauchbares. Das war wieder mal so typisch.
Warum konnte ich nicht einfach ein Baum oder eine andere Pflanze im Wald sein? Warum musste ich ausgerechnet ein Mensch sein?
Nicht, dass ich etwas gegen das Menschendasein hätte, aber manchmal wurde mir einfach alles zu viel.
Vielleicht hatten die Bäume und Pflanzen viel erlebt, aber sie hatten immerhin einen festen Platz. Ein Ort, an dem sie waren und auch ihr ganzes Leben lang blieben. Bleiben konnten.
Sie wussten, wo sie hingehörten. Schon von Anfang an hatten sie ihren Platz eingenommen. Ich hingegen -ich saß einfach hier und hoffte, dass irgendwann einmal alles vorbei seien würde. All der Schmerz, all die Wut. Ich hoffte, dass ich irgendwann mit allem glücklich seien könnte und mich für nichts rechtfertigen müsste. Aber das waren nur etwaige Hoffnungen. -war vollkommen fehl am Platz.
Irgendwann schreckte ich hoch. Dass ich weggedämmt war, hatte ich nicht einmal gemerkt.
Ein Geräusch weckte meine Aufmerksamkeit.
Zweige knackten, doch niemand erschien, zumindest sah ich niemanden. Wahrscheinlich bildetet ich mir nur alles ein.
Wie lange bräuchte ich, um an einen sicheren Ort zu kommen? Wohin sollte ich gehen?
Doch noch ehe ich weiter nachdenken konnte, ertönte ein Lachen und dieses ließ mich verstummen.
Nein, es konnte nicht sein, es konnte nicht...
"Hallo, lang nicht mehr gesehen. Ich dachte schon, du bemerkst mich nicht in hundert Jahren", durchfuhr eine mir vertraute Stimme die Stille, die zuvor nur durch das Knacken der Zweige und des Lachens kurzzeitig durchbrochen gewesen war.
"Gott, hast du mich erschreckt." Ich musste mich gar nicht umdrehen, um zu wissen wer es war. Diese Stimme würde ich von überall wieder erkennen. Und ich wusste nicht, ob es mich mit Angst oder Freude erfüllen sollte.
"Na, hast du mich vermisst?"
"Lyra", das Wort, das mir entwich war nicht mehr als ein Flüstern und dennoch... die Macht, die dahinter lag, war soviel stärker als alles. Es war ihr Name. Diese Vertrautheit und zugleich fühlte es sich fremd an. Ungewohnt.
"Ja, das bin ich in der Tat. Hättest wohl nicht gedacht, mich nochmal irgendwo zu sehen? Auch egal. Das Leben ist so wunderbar. Ich bin gerade spazieren gegangen, da habe ich dich hier sitzen gesehen. Du warst so schreckhaft wie seit Jahren nicht mehr."
Widerwillig sah ich zu ihr und murmelte nochmal ihren Namen. Irgendwie konnte ich es nicht fassen, dass sie wirklich hier war.
"Alles okay?" Ihr sonst so fröhlichen Gesichtsausdruck wich Sorge und zugleich überkam mich ein schlechtes Gewissen.
"Ja, mir geht es gut, danke der Nachfrage", quetschte ich hervor und wünschte, ich könnte vergessen.
So als ob sie meine Besorgen gesehen hätte, ließ sie sich neben mich nieder und legte mir einen Arm um die Schultern. "Alles ist gut, du brauchst keine Angst zu haben. Ich will dir nichts Böses. Niemand will das. Du warst schon immer so zerbrechlich. Aber es kommt mir so vor, als wärst du gerade zerbrechlicher als zuvor. Wenn du reden willst, ich bin für dich da. Glaub mir, vertrau mir", flüsterte sie beruhigend.
"Bist du wirklich da?", fragte ich.
"Ja. Nicht nur das. Ich bin nicht allein. Vorhin habe ich jemanden getroffen. Jemanden mit dem du mal ganz gut befreundet warst, so weit ich mich erinnere." Diese Worte allein schafften es schon, dass ich mich am liebsten übergeben hätte.
Wie auf Kommando löste sich eine Gestalt aus den Schatten. Eine Person, die ich mindestens ebenso lange kannte, wie Lyra, nur, dass ich nicht mal ansatzweise geahnt hätte, dass...
"Lal, wie schön dich zu sehen. Wie ich sehe..." Noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, sprang ich auf und sah sie scharf an. Sie unterbrach sich selbst und lächelte stattdessen, doch das verdeutlichte nur meine Wut auf sie. Zwar wusste ich mittlerweile, wer sie war und woher ich sie kannte, dennoch konnte ich meine Gefühle nicht im Zaum halten.
"Leya, ich finde es auch schön dich zu sehen. Ley. Wie auch immer man dich nennen mag. Hab ich wirklich vermisst", gab ich mit giftigen Unterton von mir.
Schockiert starrte Lyra mich an. Ihr Blick hing irgendwo zwischen Cathley und mir.
Cathley hatte als erstes die Fassung wieder.
"Weißt du", sagte sie an Lyra gewandt, "wir hatten vielleicht nicht so den besten Einstieg hier."
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