Kapitel 18
Wie lange kann man unter einer Lüge leben?
Wie lange kann man das Leben unterdrücken, dass man eigentlich führen sollte?
Wie lange kann man seine Moralvorstellungen beiseite schieben, nur um ein Spiel zu spielen, dessen Regeln man nicht versteht?
Ich weiß es nicht.
Aber es nicht zu wissen macht es auch nicht viel leichter. Man wacht auf, ohne zu wissen, was der Tag einen bringt. Man fragt sich, was seien könnte, wenn man auch nur einmal eine Auszeit vom Spiel bekommt. Wenn man die Chance und nötige Zeit bekommt sich zu sammeln.
Aber im Endeffekt stehen wir bei null.
Wir können nicht alles wissen und das bringt uns manchmal fast um.
Wieso haben wir Vorgaben? Wann wir wie welche Zeitform benutzen. Wie wir unser Leben zu leben haben.
So sehr man uns auch kontrollieren will, niemand kann für uns entscheiden, welchen Weg wir gehen. Nur manchmal schlagen wir eben diesen ein, weil es nun mal leichter ist. Aber nur weil etwas leichter ist, heißt es ja noch lange nicht, dass es besser ist.
Also wieso lassen wir von unserer Intuition verleiten und versuchen zu sein, wer wir nicht sind?
Wieso reden wir manchmal ohne zu denken?
Wieso leben wir dieses Leben?
Wieso denken wir überhaupt darüber nach?
Wieso denke ich das überhaupt gerade?
Ganz egal was ich auch will, ich stehe hier und muss für mein Leben einstehen.
Ganz egal, ob wir die Wahl haben oder nicht, irgendwas hat uns hierher gebracht.
Irgendwas. Ganz egal was. Was auch immer es war, ich will es nicht wissen.
Nachdenklich starrte ich ihn an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? War er sich dem Ausmaß seiner Worte bewusst?
"Ich meine es ernst, Lal."
Okay, scheinbar schon.
Wutentbrannt musterte ich ihn und versuchte auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Das würde ich garantiert nicht tun. Lieber grübelte ich weiter darüber nach, wieso wir tun, was wir tun.
"Lal. Rede mit mir."
"Wenn du dir einen anderen Namen für mich suchst, ziehe ich es vielleicht irgendwann in Erwägung", konterte ich und sah ihm dabei fest in die Augen.
"Du musst mit ihm reden." Ferry kam jetzt näher zu mir und ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. Darauf würde ich mich garantiert nicht einlassen.
"Müssen muss ich schon mal gar nichts. Aber schön, dass du es so siehst. Wieso redest du nicht mit ihm, wenn es unbedingt jemand tun muss?"
"Du weißt genau was ich meine."
"Ach ja, tue ich das? Ich habe keine Lust mehr, auf die Spiele die ihr spielt. Schön, ich weiß jetzt wie sie gehen, aber kein weiteres Interesse. Ich habe mitgespielt, aber irgendwann ist es genug. Ich bin keine Puppe, die man herumschubsen kann, wie man will. Sollt ihr doch das Video veröffentlichen, ist doch sowieso egal. Ich habe keine Lust mehr mir das anzuhören. Am liebsten würde ich sowieso weg. So, dass ich keinen von euch je wiedersehen muss. Es nervt einfach. Weißt du, wie unglaublich nervig es überhaupt ist? Wie eine Schachfigur behandelt zu werden? Wenn ihr die Würfel nicht findet, nutzt doch einfach die Karten um mich auf dem Schachfeld rum zuziehen, so als wäre ich nichts weiter als eine Person, mit der ihr spielt. Ich kann damit leben. Aber werdet ihr es auch noch können? Euch ist schon klar, dass alles was ich tue, auf euch zurückfällt?" Vielleicht klang es härter als beabsichtigt, aber darauf konnte ich jetzt nicht Rücksicht nehmen.
"Zu dem, was du unsere Spiele nennst, gehört aber nicht, was mit Alonso anzufangen."
"So wie du das sagst, klingt es, als würden wir ein Verbrechen begehen. Es läuft nichts weiter zwischen uns. Und zudem, er sollte es doch eigentlich wissen, wenn er auf eurer Seite spielt. Warum redest du nicht mit ihm? Ach so, ich vergaß, er ist dein Freund, von dem deine anderen Freunde eigentlich denken, dass du nicht mehr mit ihm befreundet bist und das zählt mehr oder wie? Ich weiß wirklich nicht, was euer Problem ist. Was dein Problem ist. Mag seien, dass ich blind bin, aber mein Gehör funktioniert noch überaus gut und meines Wissens habt ihr nie ein Wort darüber verloren, dass ich mit niemanden von euch was anfangen darf. Zudem musst du wissen, dass Alonso und ich kein Verhältnis miteinander haben oder wie auch immer du es nennen willst."
"Und wieso um alles in der Welt willst du dann nicht mehr mit Elis reden? Nur wegen eines schlichten Streits?"
"Nur wegen eines schlichten Streits- dass ich nicht lache. Es war nicht einfach nur ein Streit. Er hat etwas unverzeihliches getan."
"Etwas gegen deine Familie zu sagen, ist also unverzeihlich?"
"Was auch immer dich daran amüsiert, sperre es weg, denn das bringt mich nur noch mehr in Rage und ich schwöre dir, du willst mich nicht wütend erleben." Meine Augen funkelten, während ich das sagte. Wieso und wie nochmal hatte ich mich in das ganze rein geritten? Ach so ja stimmt. Ich war Ferry gefolgt. Diese verflixte Neugier.
"Ich amüsiere mich doch nicht. Es ist aber einfach lächerlich wie du dich aufführst."
"Ach, ich erwähne erst gar nicht, wie lächerlich euer ganzes Gehabe eigentlich ist. Habt ihr euch schon mal reden hören? Was läuft falsch bei euch?"
"Nur, weil wir dich beherbergen, heißt es noch lange nicht, dass du dich aufführen darfst, wie die Königin des Hauses."
"Ach, ihr beherbergt mich? Wie nett von euch. Und was haben eigentlich deine Eltern mit dem ganzen zu tun?"
"Nichts. Aber du bist sehr freundlich."
"Immer wieder gerne."
"Also?"
"Ich werde nicht mit ihm reden. Mit keinen von beiden. Mit keinen von euch drei. Nicht, bis es irgendwann mal wieder Normalität annimmt."
"Diese Normalität hast du schon längst verspielt", meinte Ferry, aber ich hörte ihm gar nicht mehr zu.
"Zumal, du und Alonso müsst doch gar nicht reden." Das reichte. Das war genug. Aber ich ließ mir nichts anmerken, stattdessen stolzierte ich so einigermaßen bemüht durch den raum zur Tür und stürmte los, sobald die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
Was dachte er sich überhaupt? Was war sein verdammtes Problem? Und was sollten diese -mehr als lächerlichen- Andeutungen?
Was brachte es überhaupt, darüber nachzudenken?
Ich hatte genug davon, zu spielen.
Ich hatte genug davon, ein Leben zuführen, dass nicht das meine war.
Ich hatte genug davon, zu lügen.
Genug, genug, genug.
Und dennoch komme ich nicht dagegen an.
Die Zeiten verschwimmen miteinander, sodass man nicht mehr sagen konnte, welche Zeitform die passendste wäre.
Vielleicht log ich nicht.
Vielleicht unterdrückte ich mein Leben nicht.
Aber so fühlte es sich an, weil ich keine Kontrolle über mein Leben hatte, weil mir keine Luft zum Atmen blieb.
Und dennoch musste ich dieses Leben leben.
Dennoch musste ich so tun, als sei es das, was ich wollte.
Dennoch musste ich meine Interessen zurückstellen.
Dennoch musste ich dieses Spiel spielen.
Aber irgendwann würde genau das mich zerreisen. Das wusste ich genau. Und genau deshalb suchte ich zugleich Zuflucht als auch Einsamkeit.
Ich wollte keine Einsamkeit, aber deswegen alle um mich herum abzuschirmen, brachte auch nichts.
Ich brauchte einfach Zeit für mich, aber was es brachte, wusste ich nicht.
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