22. Ein Missglückter Versuch
Kapitel 22 - Ein Missglückter Versuch
Lillys Sicht
Als wir fertig waren war meine Frisur ruiniert, ich stank nicht mehr nach dem Parfüm – Gott sei Dank – und das schwarze, elegante Kleid war komplett durchnässt. Dis würde also genügend Angriffsfläche für ihre Sticheleien haben.
Dennoch hatte ich ein Lächeln im Gesicht, als ich Sarah ansah. Zwar sprach sie immer noch nicht, doch es kam mir so vor, als sei ihr teilnahmsloser Blick ein bisschen gewichen.
Jetzt, da wir sie gewaschen und hergerichtet hatten, konnte ich sogar etwas von meiner Freundin in ihren schattenhaften Zügen erkennen.
Sie hatte zwar das Brot nicht angerührt, doch mindestens die Hälfte der Suppe gegessen. Ich hoffte einfach, dass dies nun eine Zeit der Besserung mit sich brachte.
„Sie ist wirklich hübsch"
Überrascht sah ich auf. Mia stand mit verschränkten Armen neben mir und musterte Sarah. Ihre Augen glänzten und sie hatte einen milden, aber wehmütigen Ausdruck, während sie den Kopf leicht schief gelegt hielt.
„Ich habe doch recht", sagte sie trocken. „Sie ist abgemagert und besitzt keine Haare mehr...und trotzdem ist sie immer noch hübscher, als wir beide zusammen"
Ich musste Lächeln und blinzelte die Tränen beiseite. „Sam sieht das bestimmt anders", flüsterte ich ihr zu und hob vielsagend eine Augenbraue.
Mia verdrehte nur die Augen und knuffte mich freundschaftlich mit dem Ellenbogen leicht in die Seite, doch auch sie lächelte.
Es war, als wären wir alle von einem Hochgefühl getrieben, das so gar nicht zu diesem Tag passte. Doch auch wenn wir heute von den Gefallenen für immer Abschied nehmen würden, so war Sarah zurückgekommen...zumindest war sie auf dem Weg.
Doch das Hochgefühl verschwand, als die Tür mit einem Knall aufgeworfen wurde. „Ich habe gehört, dass du dich geweigert hast, die Dienstmädchen gewähren zu lassen, die dich auf meinen ausdrücklichen Befehl hin einkleiden sollten"
Keine Begrüßung, keine netten Worte, nichts. Ich biss so fest meine Zähne zusammen, dass mein Kiefer sich unangenehm spannte. Diese Frau kostete mich Nerven. Die letzten Tage hatte sie keine Gelegenheit ausgelassen mich zu kritisieren und offenbar hatte sich auch nicht vor diese Tätigkeit zu unterlassen. Dennoch hatte ich Thorin versprochen, dass ich versuchen würde mich mit ihr zu vertragen, deswegen setzte ich ein Lächeln auf, dass man wahrscheinlich genauso gut als Zähne fletschen hätte deuten können, und drehte mich schwungvoll zu ihr um.
„Dis", sagte ich und ich glaubte, dass sich meine Stimme noch nie so verstellt angehört hatte. „Welch eine Freude dich zu sehen...schon wieder"
Ihr strenger Blick glitt über mich hinweg, als sie mit wehendem Rock auf mich zu stolziert kam. „So kannst du dich nirgendwo blicken lassen", sagte sie scharf und zupfte an meinem Kleid. „Alles ruiniert" Sie schnalzte mit der Zunge und schüttelte fassungslos den Kopf. „Stundenlange Arbeit, bis du endlich vorzeigbar warst...alles umsonst. Hast du dir denn überhaupt etwas von dem gemerkt, dass ich dir versucht habe zu erklären?"
So das wars jetzt. Beerdigung hin oder her, es war nicht ihre Aufgabe mich in der Gegend herum zu schubsen. „Doch, ob du es mir glaubst oder nicht", sagte ich süßlich, aber mit einer gewissen schärfe. „Du sagtest zum Beispiel, dass niemand vorlaute Gören mag, aber ich musste gerade feststellen, dass du nicht wirklich als ein gutes Beispiel dienst" Ich blickte ihr herausfordernd in die Augen. Ihr Mund formte sich zu einem Strich ehe sie sich steif abwandte.
„Ich habe es mir gedacht", sagte sie leise, aber mit einem unverhohlenen Zorne in der Stimme. „Ich habe versucht aus dem Material, das mir zum Arbeiten gegeben wurde, etwas vorzeigbares zu machen", sie deutete auf meine Person und schüttelte noch einmal fassungslos den Kopf. „Aber niemand kann aus einer Vogelscheuche eine Edeldame machen"
Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen. „Vogelscheuche?" Ich war zwar keine Schönheit, aber so schlimm sah ich nun auch wieder nicht aus. „Vielleicht solltest du selbst einmal in den Spiegel sehen, aber bei deinem Aussehen ist es wohl schwierig einen zu finden der nicht gleich splittert, wenn du in ihn hineinsiehst", fauchte ich sie an. Es stimmte zwar nicht, was ich ihr da gerade an den Kopf war. Klar, der Bart war gewöhnungsbedürftig, doch ansonsten war Dis eine ansehnliche Frau und gleich wie ihr Bruder sehr majestätisch mit edlen Gesichtszügen. Dennoch sah ich befriedigt zu, wie ihre Augen sich verengten.
Ich wartete darauf, dass sie mich nun ebenfalls anfahren würde, doch sie sagte nichts, sondern hatte schon fast einen verletzten Ausdruck auf ihren Zügen. Hatte ich sie wirklich getroffen? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Hinter mir ertönte ein lautes Räuspern und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, als ich verstand. Dieses scheinheilige Biest!
„Das ist peinlich", sagte Sam so laut, dass die Situation nur noch unangenehmer wurde.
Ich funkelte ihn böse an, doch bevor ich ihn auch noch anschnauzen konnte, war ihm Mia so fest auf den Fuß getreten, dass er ein dünnes Quietschen von sich gab. Ich musste daran denken mich später bei ihr zu bedanken.
„Tja, wie sehen uns", sagte Mia in die sich gebildete Stille hinein. Sie ignorierte meine flehentlichen Blicke in ihre Richtung, ehe sie sich Sarahs Rollstuhl schnappte und mit Sam im Schlepptau durch die Tür flüchtete.
„Ich gehe auch", sagte Dis spitz. „Ich bin hier nicht erwünscht, das habe ich verstanden"
Sie strich Thorin sanft über den Arm, ehe sie an uns vorbei hinaus stolzierte.
„Na wenn alle gehen", murmelte ich. „Dann sollte ich wohl auch-"
„Lilly", unterbrach Thorin mich energisch. „Kannst du mir erklären, was hier gerade vorgefallen ist?"
Er klang nicht begeistert und dadurch, dass ich mich schuldig fühlte – und wahrscheinlich auch so aussah – wurde die Situation auch nicht besser.
„Es ist deine Schwester", platzte ich heraus. „Sie hackt nur auf mir herum und ist mit nichts zufrieden"
Thorin runzelte die Stirn und ich konnte mir vorstellen, wie dies in seinen Ohren klingen musste.
„Gerade hast du die aber nicht gut behandelt", merkte er an.
„Denkst du ich hätte sie grundlos so angefahren?", fauchte ich erbost. Das konnte er doch unmöglich annehmen. „Sie kritisiert mich am laufenden Band und sagt richtig gemeine Dinge"
Thorins Augenbraue zuckte und ich hätte mich nun gern selbst gescholten. Richtig gemeine Dinge? Das hier war doch kein Streit im Kindergarten...aber es hätte genauso gut einer sein können.
„Davon habe ich nichts mitbekommen", sagte Thorin.
„Natürlich nicht", murmelte ich mit einem Auflachen.
„Der heutige Tag ist nicht leicht für sie", fuhr Thorin fort. „Und für mich auch nicht, deswegen wäre ich dir dankbar, wenn du etwas zuvorkommender sein würdest"
Am liebsten hätte ich laut gelacht. Was hatte ich ihr heute schon alles durchgehen lassen. Fiese, gemeine Seitenhiebe unter der Gürtellinie, verbale Angriffe auf meine Person und schließlich ein Schönheitsprogramm, das als Folter durchgehen konnte...doch ich sagte von all dem nichts. Ich wollte nicht, dass Thorin zwischen die Fronten geriet und auch wenn es etwas schmerzhaft war, dass er mir die Rolle der gemeinen Schwägerin zutraute, so konnte ich seinen Zwiespalt zwischen beiden Parteien nachvollziehen.
„Ich werde es versuchen", sagte ich säuerlich.
Thorin nickte. „Nun gut", murmelte er vor sich hin und lief durch das Zimmer. „War dies gerade wirklich Sarah?"
Ich nickte und strahlte nun wieder.
„Das freut mich", sagte Thorin, während er seinen Gürtel löste und begann sich zu entkleiden. „Es ist schön, dass es ihr besser geht"
Verwirrt sah ich ihm zu. „Willst du dich etwa jetzt schon umziehen?", fragte ich. „Die Beerdigung findet doch erst in der Dämmerung statt" Nur ich hatte mich schon herrichten müssen, Stunden bevor es losging. Doch ich hatte keine Lust mich erneut mit Dis zu befassen, die mich wütend machte, sobald ich nur an sie dachte und so verbannte ich jeden Gedanken an sie.
„Nein, natürlich nicht", sagte Thorin und ging in Richtung Baderaum. „Ich werde ein Bad nehmen"
Das Bad, natürlich. Ich lächelte ihn an und drehte mich auf dem Absatz um. Ich hatte keine Lust ihm zu erklären, dass aus diesem Vorhaben nichts wurde.
***
Die Feier an sich war nicht so pompös, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Prozession war der einzige Teil, an dem groß aufgefahren wurde. Anschließend wurden lange Reden geschwungen zu Ehren der gefallenen Krieger...wirklich viele Reden...und wirklich lange Reden...und ich verstand kein einziges Wort, da alles in Khuzdul verfasst worden war.
Zu Anfang hatte ich noch versucht den Worten zu lauschen, obgleich ich sie nicht verstand, doch je mehr Zeit verstrichen war, desto mehr taten mir die Füße weh und desto langweiliger wurde mir. Meine Gedanken schweiften immer mehr ab. Ich weiß, so etwas sollte man nicht auf einer Beerdigung empfinden, wenn man inmitten vieler trauernder Leute steht, aber ich fühlte mich einfach fehl am Platz. Ich hatte keinen dieser Soldaten gekannt, nicht einen einzigen und doch stand ich hier in der Mitte des Saales, oben auf einem Podest, mit Thorin, Dis und Dáin und fühlte mich absolut unwohl. Nicht nur dass ich es hasste im Mittelpunkt zu stehen, sondern auch die Tatsache, dass jeder Zwerg mich anblickte und mein Mienenspiel lesen konnte. Und so ungern ich es zugab, so hielt sich meine Trauer jedoch in Grenzen. Natürlich tat ich mein Beileid kund und ich konnte die Gefühle der Angehörigen nachempfinden, doch es viel mir schwer eine trauernde Miene aufzusetzen, wo ich doch so gar keinen Bezug zu den gefallenen Kriegern hatte. Nennt mich herzlos, aber in diesem Moment hatte ich wirklich die größten Probleme damit mich darauf zu konzentrieren, dass man mir nicht anmerkte, wie wenig Anteilnahme ich besaß.
Ich ließ meinen Blick über die Menge schweifen, versuchte meine Miene denen des Volkes anzupassen, die natürlich alle verstanden, was gesagt wurde. Leichter gesagt als getan, denn es waren so viele Zwerge, dass sie alle zu einer einzelnen Masse verschwimmen zu schienen. Sie hielten einander in den Armen, es wurde geschnieft und geweint. Es wurde getrauert.
Aber ganz vorne stand ein Zwerg, der mir ins Auge sprang. Er gebärdete sich ganz anders als die anderen. Er schien etwas älter zu sein und hatte eine unnatürlich aufrechte Haltung. Er schien nicht zu trauern und er hatte auch keinen gespielten Ausdruck auf seinen Zügen, so wie ich es versuchte...er wirkte genauso fehl am Platz wie ich und er sah ununterbrochen geradewegs zu uns hinauf. Seine Hände waren tief in seinem schwarzen Mantel vergraben und er wirkte so entschlossen, so fokussiert...so konzentriert. Ein Unwohlsein überkam mich und ich begann leicht zu schwitzen, als mich der Blick des Zwerges auf einmal traf. Wir starrten uns an, ehe ich den Blick abwandte und unbehaglich auf meine Füße stierte.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Zwerg nun ebenfalls seine Aufmerksamkeit von mir nahm, jedoch weiterhin unverwandt zu uns hinaufstarrte. Ich schluckte und mein Unbehagen wuchs. Meine Finger verkrampften sich, als ich sie aus der Verschränkung löste, durch diese ich meine Hände sittsam vor meinem Kleid gefaltet hatte. Ich wollte Thorin auf diesen Mann aufmerksam machen, doch als ich es endlich wagte ihm einen kurzen Seitenblick zuzuwerfen, war dieser schon einen kleinen, unauffälligen Schritt auf mich zugekommen, so dass er nun halbwegs hinter mir stand. Ich spürte, wie er mir eine warme Hand auf den Rücken legte und ich atmete erleichtert aus. Ich wusste nicht wieso, aber aus irgendeinem Grund war ich erleichtert und fühlte mich sicher...obwohl es kein Anzeichen für akute Gefahr gegeben hatte.
Ich nickte leicht und faltete meine Hände wieder ordentlich vor meinem Kleid. Sie zitterten und ich spannte sie unwillkürlich an, konzentrierte mich auf Thorins Hand und atmete tief durch. Irgendetwas war gerade passiert, doch als ich den Zwerg in der Menge erneut suchte, war er verschwunden. Ungläubig riss ich die Augen auf und sah noch einmal nach, doch an der Stelle war nur noch eine rundliche Zwergin, die sich die ganze Zeit heftig schnäuzte.
Mein Unbehagen verstärkte sich nur noch und ich merkte, wie ich unruhig wurde. Ich wollte von diesem Podest hinunter. Entschlossen biss ich mir auf die Innenseite meiner Wange und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Einbildung. Vieles, was ich derzeit empfand Beruhte auf Einbildung oder einer verwirrenden Mischung aus Gefühlen, die ich schwer trennen konnte.
Ich beruhigte mich, gab es jedoch auch auf in die Menge zu starren, sondern beschränkte mich schließlich damit einfach nur betreten die Augen niederzuschlagen. Vielleicht verwechselten ja viele mein Unwohlsein mit echter Trauer.
Was würde ich nicht dafür geben, irgendwo am Rand der Halle zu stehen, unbeobachtet. Wie hielt Thorin das nur aus? Ständig unter Beobachtung, jede Reaktion wurde von Tausenden studiert, man konnte keinen Schritt tun, ohne das unzählige Augenpaare einen anstarrten, gierig, einen Fehler zu sehen, etwas, worüber man später in aller Ruhe tratschen konnte. Vielleicht war ich in dieser Ansicht auch einfach nur zu pessimistisch, doch wenn ich denken würde, dass nicht über mich geredet wurde, so war ich mehr als nur naiv. Die Gerüchteküche war am Brodeln. Seitdem die Zwerge angekommen waren, hatte ich mich kritischen Blicken aussetzen müssen und ich hörte das Getuschel, das verstummte, wenn sie an mir vorbeigingen, aber einsetzte, sobald sie sicher genug waren, dass ich es nicht mitbekommen würde. Natürlich war ich sicherlich nicht das einzige Gesprächsthema, doch ich wusste, dass mich der Großteil nicht einordnen konnte. Ganz offensichtlich war ich kein Zwerg, ich gehörte nicht zu ihnen, doch ich hatte anscheinend eine besondere Stellung. Es fiel auf, wenn man die gleichen Gemächer benutzte, wie der zukünftige König.
Ich seufzte leise auf und erntete einen mahnenden Blick von Dis, die meine Geste falsch gedeutet hatte. Ich hielt mich selbst davon ab nicht die Augen zu verdrehen und versuchte mich an dem gleichen beherrschten Ausdruck wie Thorin.
***
Kílis und Fílis Beisetzung war in gewissem Maße etwas intimer als die der gemeinen Soldaten. Nur rund fünfzig Zwerge wohnten der Zeremonie bei. Ich hatte mich Augenblicklich wohler gefühlt, sobald wir uns auf den Weg zur Gruft der Königsfamilie gemacht hatten und dass ich auch nirgendwo diesen komischen, alten Zwerg hatte entdecken können, hatte meine Stimmung noch einmal zusätzlich gehoben...zumindest so lange bis, die Särge der beiden Brüder hereingetragen wurde. Denn jetzt schnürte mir nicht mehr der Druck in der Öffentlichkeit zu stehen die Kehle zu, sondern der Drang laut zu weinen.
Die Särge wurden auf zwei steinerne – ich wusste nicht was genau es war – Altäre gestellt und aufgeklappt. Von Thorin wusste ich, dass jeder nachher die Möglichkeit haben würde an den Särgen vorbeizugehen, um den Verstorbenen letzte Worte oder ein kleines Geschenk mitzugeben. Jedoch musste ich mir leicht erschrocken einen Ausruf des Erstaunens verkneifen, als ich sah, wie gut der Leichnam beider Zwerge erhalten war. Sie sahen so aus, als seien sie nur in einen friedlichen, tiefen Schlaf gefallen und nicht so, als wären sie schon seit Monaten tot. Wie war das möglich?
Ich trat an Thorin heran und drückte seine Hand, denn mehr würde er in dieser Situation nicht zulassen. Das wusste ich. Ich sah, wie seine Kiefermuskel leicht zuckte, er hatte meine Geste angenommen. Also trat ich zurück und stellte mich zu Sarah, die sich mit Mia und Sam in der Nähe der Särge standen und sich somit nicht weit von mir befanden. Ich konnte sehen, wie Sarahs dünne Gestalt zitterte und legte ihr die Hand auf die Schultern.
Thorin begann erneut zu sprechen und dieses Mal konnte ich seine Worte verstehen. Ich hatte schon immer gewusst, dass er ein guter Redner war, doch die Loblieder, der er auf Fíli und Kíli sang waren rührend und beeindruckend zugleich. Er sprach von ihrem Edelmut und ihrer Tapferkeit, von ihrer Treue und ihrem Mut. Es klang weder kitschig noch aufgesetzt, noch waren es übertrieben Wahrheiten oder falsche Beteuerungen. Ich spürte wie mir vor Wehmut Tränen in die Augen schossen und ich strich sanft über Sarahs Schulter. Sie schwieg, doch zu meiner Verwunderung hob sie ihre Hand und versuchte sich das schwarze Tuch von ihrem Kopf zu ziehen.
Ich beugte mich nach vorne, um ihr zu helfen und während ich das tat, nahm ich aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahr, gefolgt von einem langen, aggressiven Schrei. Ich wirbelte herum, doch bevor ich auch nur Zuordnen konnte, was hier gerade passierte, wurde ich stark von der Seite angerempelt. Ich fiel und knallte unsanft auf dem Boden auf, während ich ein schweres Gewicht mich weiterhin auf den Stein drückte. Mein Puls raste und ich wurde panisch, während ich mich so gut es ging, gegen den Angreifer wehrte.
„Bleib ruhig liegen", hörte ich Thorins Stimme an meinem Ohr und schlagartig wich die Anspannung...wenigstens ein bisschen.
Ich nickte und spürte, wie sich sein Gewicht von mir entfernte. Um mich herum trampelten Schritte und zu meinem Entsetzen sah ich gezückte Schwerter und hörte das Klirren von Metall.
Meine Atmung beschleunigte sich und ich registrierte nun erstmals meine Umgebung. Ich lag hinter Fílis Sarg auf der erhöhten Steinplatte. Und wenn ich nur etwas größer gewesen wäre, wären wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnet. Ich schluckte und versuchte nicht darüber nachzudenken, wie grausam das war, während mein Gehirn krampfhaft den Tumult scannte. Alles war viel zu schnell gegangen, als dass ich hätte einordnen können, welche Aneinanderreihung von Handlungen es gebraucht haben mochte, dass ich hier neben Fíli lag.
Es waren bei weitem mehr Zwerge in dieser Halle als noch vor ein paar Minuten. Ich riss die Augen auf, als ich die vielen Einzelgefechte sah und fühlte mich ungewollt in die Schlacht zurückgesetzt. Was zum Teufel war hier los? Ich beschloss mich erst um die akute Lage zu kümmern, bevor ich mir den Kopf über das 'Warum?' zerbrach. Thorin konnte ich in dem Getümmel nicht ausmachen und auch Mia, Sam und Sarah entdeckte ich nirgends. Ich stemmte mich auf die Beine und wollte gerade loslaufen, als mich eine Hand fest am Arm packte.
„Willst du dich etwa umbringen?", fauchte Dis mich an. „Mein Bruder wird nicht begeistert sein, wenn ich dich ohne deinen Kopf zurückbringe"
Die wenige Freude, die ich bei ihrem Anblick gerade empfunden hatte, schwand augenblicklich. Selbst in dieser Situation schaffte diese Frau es unausstehlich zu sein.
„Kannst du kämpfen?", fragte sie mich und als ich kleinlaut den Kopf schüttelte, gab sie ein hohes Hüsteln von sich. „Das hatte ich auch nicht erwartet"
Ich verdrehte die Augen, ignorierte aber ansonsten ihre Aussage. „Hast du eine Waffe?", fragte ich sie und betrachtete den Pulk aus kämpfenden Zwergen. Der Ausgang lag am anderen Ende des Saals und wenn wir hier verschwinden wollte mussten wir Wohl oder Übel mitten durch den Kampf hindurch.
„Noch nicht, aber gleich", murmelte Dis und ihre scharfen Augen suchten die Umgebung ab. „Komm", sagte sie, ehe sie mitten in den Kampf marschierte. Erstaunt sah ich zu, wie sie sich mit fließenden Bewegungen durch die Zwerge manövrierte und mit Leichtigkeit Schwertern und Hieben auswich.
Als sie angegriffen wurde duckte sie sich geschickt unter der breiten Klinge hindurch und entwaffnete elegant ihren Angreifer. Ich wollte es nur ungern zugeben, doch mein Respekt vor dieser Frau wuchs. Ich war schwer beeindruckt.
„Versuch einfach nicht zu sterben, mehr verlange ich nicht", sagte Dis, die meinen bewundernden Blick zufrieden bemerkt hatte.
Wütend kniff ich die Lippen zusammen, doch ich verkniff mir eine Antwort, während ich mich an ihre Fersen hängte.
***
Unruhig schritt ich im Zimmer auf und ab. Dank Dis hatten wir es unbeschadet in meine Gemächer geschafft und saßen nun hier und warteten darauf, dass irgendjemand vorbeikommen würde, um uns einen Überblick über die aktuelle Lage zu verschaffen...doch es durfte nicht so lange dauern. Auch dass wir noch nichts von Thorin gehört hatten bereitete mir Sorgen. Anfangs hatte ich meine Gedanken entschlossen zurückgedrängt, doch je mehr Zeit verstrich, in der ich nicht wusste, was geschehen war, desto mehr beschlichen mich die Zweifel. Es war ihm sicherlich nichts zugestoßen...oder? Immerhin war Prometheus zwischenzeitlich mit einer Nachricht von Mia und Sam eingetrudelt, die Sarah in Sicherheit gebracht hatten und selbst unbeschadet waren.
Dis saß ruhig in einem Sessel am Kamin. Sie hatte die Hände gefaltet, eine beherrschte Miene auf ihren Zügen, während sie still vor sich hin schwieg. Beinahe hätte ich ihr diese Vorstellung auch abgekauft, doch nur die Tatsache, dass sie mich noch kein einziges Mal angepflaumt hatte ließ mich ihre Anspannung erahnen. Auch sie sorgte sich.
„Was genau war das vorher?", fragte ich schließlich in die Stille hinein und begann noch zusätzlich aus lauter Nervosität an meinen Nägeln zu kauen. „Ich meine, das waren sicherlich keine Zwerge, die sich nur über die Farbauswahl der Blumen beschweren wollten", fügte ich mit einem kleinen, nervösen Auflachen hinzu.
Dis hob den Blick und in ihren Augen erkannte ich einen bestimmten Zorn. „Ich weiß es nicht", fauchte sie. „Ich habe Gerüchte gehört, doch ich habe nicht gedacht, dass jemand die Frechheit besitzen würde..."
„Gerüchte?", hakte ich nach. „Du meinst den Widerstand"
Dis nickte. „Offensichtlich. Thorin erzählte mir bereits von den Vorgängen hier im Berg und auch ich habe natürlich mitbekommen, was in den blauen Bergen geredet wurde. Ich hatte aber nicht angenommen, dass es so schlimm sei"
„Also denkst du, dass auch dieses Attentat-"
„Natürlich", unterbrach Dis mich harsch. „Dieser Anschlag war geplant, oder denkst du Kleinkriminelle hätten ein solch taktisches Geschick?"
Ich zuckte hilflos die Schultern. Von Taktik hatte ich überhaupt keine Ahnung, jedoch war der Zeitpunkt und auch der Ort klug gewählt worden. Stirnrunzelnd ließ ich mich neben Dis sinken.
„Das war persönlich", sagte ich langsam.
„Natürlich.", fauchte sie. „Immerhin kam es zum eigentlichen Anschlag, während der Beisetzung meiner Söhne" Wütend blickte sie mich herausfordernd an „Offensichtlicher könnte es nicht sein", sie schnaubte abermals. „Wie können die eigenen Landsleute nur so grausam sein?"
Ich schluckte wusste ich doch keine Antwort auf diese Frage. Dis tat mir leid.
„Das meinte ich aber damit nicht", murmelte ich. „Ich glaube, dass der Anschlag, sofern es wirklich einer war, als Hauptziel Thorin hatte" Überlegend wog ich den Kopf hin und her. „Aber Thorin zeigt sich häufig im Berg, nur selten in Begleitung bewaffneter Wachen, also wäre es doch um einiges einfacher gewesen, ihn einfach so mal abzustechen"
„Was willst du damit sagen?" Dis' intelligente Augen wurden nachdenklich, als auch sie anfing darüber nachzudenken.
Ich kaute wieder an meinen Nägeln. „Ich weiß es nicht...vielleicht wegen der Aufmerksamkeit?"
Ehe Dis Antworten konnte knarrte die Tür und Thorin trat ein. Er sah müde und abgeschlagen aus und an seiner Wange klebte getrocknetes Blut.
„Gott sei Dank" Ich sprang auf und eilte auf ihn zu. „Dir geht's gut", murmelte ich erleichtert und zog ihn in eine Umarmung. „Tut es doch, oder?"
Ich spürte wie er wortlos nickte und atmete auf.
Auch Dis kam auf uns zu. „Es war einfach eine Frechheit, ein Affront", zeterte sie lautstark. „Eine Beleidigung...ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit gehen würden. Ein offener Angriff mitten in der Trauerfeier", sie rieb sich über die Schläfe. „Das kannst du ihnen nicht durchgehen lassen"
Thorin schwieg nur und löste sich von mir. „Das war alles geplant", sagte er trocken. „Die Wachmänner am Eingang des Saals wurden getötet und somit konnte jeder der wollte hinein und hinaus"
„So haben sie ihre Verstärkung bekommen", murmelte ich und Thorin nickte.
„Der Saal wurde klug ausgewählt, denn er besaß nur diesen einzigen Eingang und die Aktion wurde durchgeführt, sobald der Mittelsmann das Signal gab"
„Und wer war dieser Mittelsmann?", fragte Dis scharf nach.
„Ein höherer Stabsoffizier aus Dáins Armee, er ist bei dem Anschlag umgekommen" Mir schoss das Bild des älteren Zwerges durch den Kopf, der die ganze Zeit zu uns hinaufgestarrt hatte.
„Aber eines beunruhigt mich", sprach Thorin weiter. „Die Wahl der Gruft wussten nicht viele"
Verwirrt starrte ich ihn an. „Was genau meinst du"
Es war Dis, die mir antwortete. „Der Berg verfügt auf den untersten Ebenen über ein weit verzweigtes Netz, in dem die Königsfamilie, ihre Angehörigen und Verwandten beerdigt werden. Diese Gruft besitzt viele Kammern, die schon vor langer Zeit errichtet worden waren", Dis schwieg einen Moment, ehe sie weiter sprach. „Und welche dieser Kammern gewählt werden würde, war nicht vielen Leuten bekannt"
„Noch genauer, nur dem kleinen Rat", ergänzte Thorin finster.
Der kleine Rat, weniger als 15 Zwerge, die alle verschiedene Ämter besaßen und Thorin in seiner Regentschaft unterstützten. Ich kannte mich nicht besonders aus, wusste aber, dass sie alle von Thorin handverlesen und dementsprechend vertrauenswürdig waren.
„Also denkst du, dass der Verräter in diesem Rat sitzt?", fragte ich und Thorin nickte ernst.
„Das ist wohl anzunehmen" Er seufzte und strich sich müde durch die Haare. „Ich werde eine Untersuchung veranlassen müssen", murmelte er.
„Aber doch nicht jetzt?", fragte ich entgeistert, als ich sah, wie er sich wieder in Richtung Tür wandte. „Du bist erschöpft und der Tag war anstrengend genug" Ich warf einen Blick auf Dis. „Für euch beide"
Dis ignorierte mich und erhob sich nun aus ihrem Sessel. „Was ist mit meinen Söhnen?", fragte sie.
„Die Totenwache wird abgehalten", Thorin musterte sie mit gerunzelter Stirn. „Ich habe die Wachen verdoppelt, obwohl ich nicht glaube, dass es von Nöten war, so ist doch nichts mehr zu befürchten"
Dis nickte und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Thorin starrte ihr einen Augenblick hinterher, ehe er sich an mich wandte. „Und bei dir ist auch alles in Ordnung?", fragte er und sah mir prüfend ins Gesicht.
Ich nickte. „Alles bestens", versicherte ich ihm. „Ich habe mir nur Sorgen gemacht" Ich sah ihn an und verdrehte leicht die Augen. „Es bringt wohl nichts dir zu sagen, es für heute gut sein zu lassen?"
Thorin lächelte mich an und nickte, ehe er mir einen Kuss auf den Scheitel gab. „Geh ins Bett", sagte er ruhig, ehe er im Bad verschwand.
Ich blickte ihm für einen kurzen Moment hinter her, während ich daran dachte, wie gerne ich schlafen würde, doch dann lief ich entschlossen zu dem großen Schrank und nahm mir Hemd und Hose heraus.
Gerade als ich den Gürtel zuzog kam tauchte auch Thorin wieder auf. Er hatte sich ebenfalls umgezogen und die edle Tracht abgelegt, die er für die Trauerfeier angelegt hatte, um nun wieder in seiner üblichen Kleidung vor mir zu stehen.
„Was wird das?", wollte er von mir wissen, während er mich musterte.
„Ich komme mit", erklärte ich knapp, während ich mich auf einen Stuhl setzte, um mir meine Stiefel anzuziehen. „Auch wenn ich nur ahnungslos hinter der her wackeln werde...aber ich glaube du könntest jetzt Unterstützung gebrauchen"
Ein leichtes Lächeln flog über sein Gesicht. „Das musst du wirklich nicht tun", sagte er, während er sich umdrehte, um sein Schwert von der Kommode zu angeln.
Ich schluckte und stand auf, bevor ich an ihn herantrat und ihm von hinten die Arme um die Taille legte, meinen Kopf an seinen Rücken. Und mir wurde erst richtig klar, wie viel Sorgen ich mir tatsächlich gemacht hatte. „Es tut mir leid, wie das heute alles gelaufen ist", murmelte ich. „Ich weiß, du wärst froh gewesen, wenn es endlich einen Abschluss gegeben hätte"
Thorin löste sich sanft aus meiner Umklammerung. „Möchtest du wirklich nicht lieber ins Bett gehen?", fragte er und runzelte die Stirn, wie immer, wenn er sich sorgte, es aber nicht aussprach.
Ich musste leise lachen, ehe ich mich bei ihm unterhakte. „Ich glaube nicht dass ich heute schlafen kann, bevor du zurückgekommen bist"
Thorins Stirnrunzeln vertiefte sich. „Seit wann bist du so anhänglich geworden?", fragte er und ich beschloss ihm darauf keine Antwort zu geben, aber ich zu meinem Teil fand es um einiges angenehmer mit der Müdigkeit zu kämpfen, als mit der brennenden Sorge um seine Gesundheit.
(4 504 Wörter)
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