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Marco trottete durch die Gassen und versuchte, zu seinem Quartier zurückzufinden. Er hatte sich die ganzen Beschreibungen schon auf dem Hinweg nicht merken können, jetzt musste er auch noch alles umdrehen.
Diese Stadt verwirrte ihn. In seinem Heimatort gab es ein klares Oben und ein klares Unten. Man ging immer zum einen Ende hoch, zum anderen runter, auch wenn die Straßen Bögen machten oder um die Ecke gingen. Es gab schmale, steile Durchgänge, mit denen man abkürzen konnte, aber die brauchte man nicht zu nehmen. So kam man einfach überall hin.
In dieser Stadt ging es mal ein bisschen rauf, mal ein bisschen runter, und das selbst in eine Richtung, auf einer geraden Straße. Was eine Straße und was ein Durchgang war, war oft kaum zu unterscheiden. Alles konnte mal schmal und mal breit sein, überall waren Eingänge, Läden, Werkstätten.
Die Häuser waren nicht aus verputztem Stein, wie bei ihm zu Hause, sondern offenbar aus einem Gerüst aus Holzbalken, zwischen denen verputzte Fächer waren. Die Fächer waren in verschiedenen Farben angestrichen, oft weiß oder gelb, manchmal rot oder grün. Das ergab ein verwirrend buntes Bild. Um es noch verwirrender zu machen, war das Holz noch mit bunt bemalten Schnitzereien verziert. Außerdem ragten weiter oben an den Häusern Ausleger in die Straße, von denen kleine Gegenstände hingen – Hämmer, Zangen, Scheren, Zirkel, Winkel, Waagen und vieles mehr.
Solche Ausleger mit den Zeichen des Gewerbes kannte Marco auch, aber vor einfacheren Fassaden, die nur Einfassung um Türen und Fenster und Borten zwischen den Etagen hatten, was sie viel besser zur Geltung kommen ließ.
Hier war alles ein verworrenes Durcheinander – und so waren auch die Menschen, die hier lebten.
Hildegard hatte er als nett und freundlich kennengelernt, aber auch als mutig und aufopfernd. In letzterem hatte ihr die eine Maid auf der Bühne, die für eine andere eintreten wollte, kaum nachgestanden. Auch die andere, die sich mit Atgarion ein Blickduell geliefert hatte, bis Hildegard eingeschritten war. Solche Frauen gab es auch in Marcos Heimat. Er würde sich glücklich schätzen, wenn er eines Tages so eine gewinnen konnte.
Der Bürgermeister war dagegen enttäuschend gewesen. Marco kannte väterliche Bürgermeister und solche, bei denen Macht aus allen Poren strömte. Der Bürgermeister dieser Stadt erschien ihm mehr wie ein verkleideter Schreiber.
Und dann Hildegards Großmutter. Sie sich als altes Mütterlein vorzustellen, war sein Fehler gewesen. Natürlich konnte sie genauso gut – oder sogar viel eher – eine stolze alte Frau sein, die das Schicksal ihrer Familie mit Würde trug. Aber Lutgard war weder noch. Er fand immer noch, dass sie nicht alt genug aussah. Vielleicht waren das aber einfach gute Anlagen, die Hildegard mit Glück geerbt hatte. Was ihr nicht mehr viel nutzen würde.
Marco schluckte schwer bei dem Gedanken, versuchte, ihn schnell zu verdrängen.
Lutgard. Sie hatte die Nachricht so seltsam unbeteiligt aufgenommen. Überhaupt hatte sie sich nicht verhalten, als wäre Hildegard ihre nächste Verwandte, die ihr als solche doch lieb und teuer sein musste, sondern eine lästige Verpflichtung, die es schnell abzuhandeln galt. Auch sonst hatte Lutgard die Ausstrahlung und Freundlichkeit des Bürgermeisters gehabt – nämlich gar keine!
Nein, das stimmte auch wieder nicht. Lutgard verströmte mehr Autorität als der Bürgermeister, wenn auch in einer ähnlich geschäftsmäßigen Art und Weise.
Aber dieses Starren. Wie sie vor sich hin gestarrt hatte, durch Marco hindurch, auf irgendetwas, was niemand außer ihr sehen konnte. Das war geradezu unheimlich gewesen. Und dann hatte sie ihn einfach weggeschickt, weil sie "dringende Dinge" zu erledigen hatte. Was sollten das für Dinge sein? War ihr während des Gesprächs eingefallen, dass sie noch mehr Kräuter besorgen musste?
Oder ging es um Hildegard? Wollte sie etwas tun, um Hildegard zu retten? Aber was sollte das sein? Und warum hatte sie ihn, Marco, dann nicht um Hilfe gebeten? Möglicherweise traute sie ihm nicht ausreichend. Sicher, Hildegard hatte ihn geschickt, und er hatte Schwert und Geld getreulich abgeliefert, aber vielleicht war das nicht genug?
Oder er konnte ihr nicht helfen, weil sie vorhatte, persönliche Beziehungen spielen zu lassen, alte Gefallen einzufordern, ihre weiblichen Reize einzusetzen ... Marco schüttelte unwillkürlich den Kopf. Das letztere konnte er sich nicht so recht vorstellen, aber Menschen waren ja verschieden. Vielleicht hatte sie eine alte Liebe in hoher Position ... und arbeitete in der Kräuterküche eines Spitals.
Nein, er war einfach ratlos, was in Lutgards Kopf vorgegangen war.
Er war außerdem völlig ratlos, wo er gelandet war. Die Straße hatte ihn zu einem kleinen Platz geführt, an dem er sicher noch nicht gewesen war. Die eine Seite des Platzes wurde von der Stadtmauer begrenzt, die hier von einem Mauerturm verstärkt wurde. Eine weitere Seite wurde von einem düsteren Haus gebildet, dessen ummauerter Hof bis an die Stadtmauer reichte. Die beiden anderen Seiten bestanden aus ärmlichen, schiefen Häuschen, die ängstlich Abstand von Turm und Haus zu halten schienen.
Auf dem Platz standen einige Leute herum, vorwiegend junge Frauen. Einige kamen Marco bekannt vor; es waren wahrscheinlich Maiden, die er auf der Bühne gesehen hatte. Sie trugen jetzt allerdings nicht mehr ihre weißen Kleider. Auch sie schienen Abstand von Turm und Haus zu wahren, standen bei den Häuschen und sahen von dort zum Turm hoch.
Marco sah ebenfalls hoch. Er konnte nichts Besonderes entdecken. Der Turm war aus unverputztem, dunklen Stein. Weder auf der Plattform oben noch an den winzigen Fenstern war irgendjemand zu sehen. Weit oben gab es ein größeres Fenster, geradezu eine kleine Tür, das mit einer hölzernen Lade verschlossen war. Die eisenbeschlagene Zugangstür, die nur über eine steile Holztreppe zu erreichen war, war geschlossen. Vor dem Turm stand ein Pferdewagen. Neben dem Turm standen mehrere Pferde in einem einfachen Stall.
War jemand Besonderes in dem Turm? Wenn ja, wer? Marco überlegte noch, ob er die Leute fragen sollte, als ihm auffiel, dass an der Treppe eine Stange befestigt worden war, an der eine Standarte befestigt war. Ein Luftzug drehte sie so, dass Marco sie erkennen konnte: Axt und Schwert gekreuzt auf blutrotem Grund – Atgarions Zeichen.
Anscheinend hatte der Kampfmagier hier sein Quartier genommen. Dieser finstere Ort passte zu ihm. Aber was wollten die Leute hier, vor allem die Maiden? Hatte Atgarion unter ihnen heimliche Bewunderinnen, die enttäuscht waren, dass sie nicht von ihm erwählt worden waren und nun auf eine zweite Chance hofften? War das, was Marco auf den ersten Blick für banges Entsetzen in ihren Gesichtern gehalten hatte, eher bange Hoffnung?
Er wollte es lieber nicht wissen. Er wandte sich um, um wieder seinen Weg zu suchen.
Dann hörte er den markerschütternden Schrei.
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