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Hildegard fröstelte. Atgarion hatte sie geheißen, ihre Rüstung auszuziehen, und nun stand sie nur in Unterkleidern in der kühlen Gewölbekammer. Ausgerechnet der Rote Turm war Atgarions Quartier, und ausgerechnet im Raum der Scharfen Frage musste sie ihm jetzt zum ersten Mal allein gegenübertreten. Selbst zur besten Tageszeit fiel nur wenig Sonnenlicht in die Kammer, daher war sie großzügig mit Talglampen ausgestattet, die jetzt alle brannten. In ihrem Flackerlicht sahen die Befragungsinstrumente, die im Raum verteilt waren, umso unheimlicher aus. Hildegard sah sie nicht an, obwohl sie sich schon fragte, ob Atgarion sie an ihr anwenden würde – und wenn ja, wozu.
Ihr Blick war auf Atgarion gerichtet, der brütend auf dem Stuhl saß, der eigentlich dem Richter vorbehalten war. Er hatte seine Rüstung ebenfalls abgelegt und von seinem Diener ein reich verziertes Gewand mit fremdartigen Mustern und eine ebensolche Kappe geben lassen. Über das Gewand hatte er sein Schwert gegürtet. Eine Hand lag auf dem Knauf, die andere war in die Seite gestützt. Der finstere Blick seines bärtigen Gesichts ruhte unverwandt auf Hildegard.
Sie bemühte sich, Haltung zu bewahren. Sie war nicht so auf Ruhm, Glanz und Ehre versessen wie Ranhild, aber solange es ging, wollte sie sich eine gewisse Würde bewahren. Sie schaffte es sogar, ihm in die Augen zu sehen, obwohl ihr Blick es sicher nicht mit dem von Irmgard aufnehmen konnte.
Was würde er mit ihr tun? Wofür hatte er sich die Maiden versprechen lassen?
Magie war in den Freien Städten nicht heimisch, abgesehen von den wenigen mit Heilkräften begabten Priestern und den in den Städten ansässigen Rittern mit ihren Schwertzaubern. Umso mehr Misstrauen und wilde Gerüchte gab es bezüglich der geheimnisvollen Künste.
Irgendwoher, so wurde gesagt, mussten Zaubernde ihre Kräfte beziehen. Heilkräfte und die Kampfzauber der Ritter konnte man als besondere Formen des Friedens und der Stärke sehen, die von Wito und Wato gewährt wurden. Auch die Kräfte der ehrwürdigen Hofzauberer des Königs, der Fürsten und anderer Edler waren sicherlich darauf zurückzuführen.
Bei anderen Zauberkundigen, die nicht in der Gunst der Herrschenden standen, waren die Dinge dagegen nicht so klar. Diese, so munkelte man, mussten sich ihre Kräfte von Dämonen erkaufen. Für welchen Preis, da gingen die Meinungen auseinander. Manche meinten, man müsse mit Blut bezahlen, andere meinten, mit Körperteilen. Wieder andere waren sich sicher, man musste seine Seele geben – oder die von anderen.
Würde Atgarion Hildegard zur Ader lassen, ein Körperteil abschneiden oder ihre Seele rauben? Würde das ihren Tod bedeuten, wie bei der Maid von Waldingen, oder sie als leere Hülle zurücklassen, wie die Maid von Wiesingen?
Hildegard hätte fast den Kopf geschüttelt. Eigentlich glaubte sie nicht an diese Gerüchte. Warum sollten manche Zauberkundige ihre Kräfte einfach als Segen erhalten und andere grausige Geschäfte eingehen müssen? Das klang doch alles eher nach Neid und Missgunst denen gegenüber, die nicht unter höherem Schutz standen.
Aber irgendetwas hatte Atgarion den vorherigen erwählten Maiden angetan, und das stand nun ihr bevor.
Sie atmete tief durch. Ein Geruch von Eisen stieg ihr in die Nase.
Unvermittelt stand Atgarion auf, stellte sich direkt vor Hildegard. Sie war groß für eine Frau, sehr zu Ranhilds Missfallen, aber Atgarion überragte sie um einen Kopf. Er beugte sich zu ihr herunter.
"Was ist auf dem Schlachtfeld geschehen?", fragte er. Es klang, als würde er sie zum Geständnis auffordern, wie es schon so oft in dieser Kammer geschehen war.
Hildegard war verwirrt. "Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um meine Stadt zu retten", war das Beste, was ihr als Antwort einfiel.
"Nein!", war seine Erwiderung. "Du hast mehr getan, als in deiner Macht stand!"
Sprachlos starrte sie ihn an. Also war es wahr: Er hatte sie an seiner Macht teilhaben lassen! Aber warum sie?
"Wie kann das sein?!", donnerte Atgarion ihr ins Gesicht.
Hildegard zuckte zusammen. "Wie kann ich das wissen?", entfuhr es ihr. "Das war doch Euer Werk!"
Er funkelte sie an. "Ich habe", sagte er langsam, "dich gespürt. Dein Verlangen nach Macht. Meiner Macht. Aber ich habe sie dir nicht gegeben." Sein Gesicht kam ihrem näher. "Hast du sie dir genommen?!", donnerte er.
Hildegard zitterte, halb vor Angst, halb vor Empörung. "Wie sollte ich das tun? Ihr seid der Kampfmagier! Ich habe keine Ahnung von Zauberei."
Zorn loderte in seinen Augen. "Das soll ich dir glauben?! Du weißt es nicht?"
"Nein!", gab Hildegard mit mehr Mut zurück, als sie haben sollte. "Ich weiß es nicht! Woher sollte ich?"
Atgarion schnaubte. Abrupt wandte er sich ab, riss die Hände hoch, als wollte er etwas packen, machte zwei Schritte in die eine Richtung, ballte die Hände zu Fäusten, machte zwei Schritte in die andere Richtung. Ebenso abrupt wandte er sich ihr wieder zu, brachte sein Gesicht direkt vor ihres.
"Hast du jemals zuvor einen Feind besiegt, der dir übermächtig war?!", fragte er, Wut aus jedem Wort heraustropfend.
"Ich habe Gegner im Kampf besiegt", erwiderte Hildegard, "weil ich mich in der Fechtkunst so lange geübt habe, bis ich es konnte! Ich bin einfach eine gewöhnliche Maid dieser Stadt, keine Zauberin! Und ich habe für meine Stadt gekämpft. Gekämpft wie..." Ihr kamen Marcos Worte in den Sinn. "Gekämpft wie eine Löwin! Mag sein, dass mich die Verzweiflung beflügelt hat. Mag sein, dass mir dabei jemand besondere Kräfte verliehen hat. Wenn Ihr das nicht wart, dann hat es vielleicht Wato gefallen, mir beizustehen; wer weiß?"
Eindringlich sah sie Atgarion an.
Der stierte zurück, immer noch vor Wut schnaubend.
Was wollte er bloß von ihr? Verdächtigte er sie, ihm ins Handwerk gepfuscht zu haben? Glaubte er, dass sie ihm Ruhm und Verdienst schmälern wollte? Das konnte doch nicht sein! Wer hatte schon bemerkt, was sie getan hatte, außer denen, die direkt neben ihr gestanden hatten? Nun, er hatte es irgendwie bemerkt, was seltsam genug war.
Sie hätte ja selbst gern gewusst, was genau vor sich gegangen war. Aber der einzige Mensch, von dem sie geglaubt hätte, dass er es ihr erklären konnte, wollte die Antwort jetzt von ihr haben.
"Hast du", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, "jemals etwas getan, was du nicht tun konntest? Irgendetwas?"
Sie starrte ihn an. Das wurde ja immer seltsamer! Seine Frage ergab überhaupt keinen Sinn. Entweder hatte sie es getan, dann konnte sie es offensichtlich tun, oder sie konnte es nicht tun, dann hatte sie es auch nicht getan. Ein flüchtiger Gedanke schwebte im Hintergrund herum, eine dunkle Erinnerung an etwas, was vielleicht gewesen war, obwohl es nicht gewesen sein konnte, aber er entschwand, bevor sie ihn greifen konnte. Unsinn, dachte sie. Ein Trugbild, geboren aus den Schatten der tanzenden Talglichter.
"Nein", sagte sie bestimmt.
Atgarion presste seine Lippen zusammen. Er hob eine seiner Fäuste; die Knöchel traten weiß hervor und sie zitterte. "Also", presste er hervor, "muss ich mit dir verfahren wie mit den anderen."
Dann schlug er zu.
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