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Alle auf dem Großen Markt wandten sich Hildegard zu. Alle bis auf Atgarion und Irmgard.
Hildegard musste dazwischengehen. Fast wäre sie direkt losgerannt, aber dann besann sie sich. Wenn sie in voller Bewaffnung auf die Bühne zustürmte, würde das leicht in einem tragischen Missverständnis enden.
"Wartet!", schrie sie. Was sollte sie so schnell mit ihren Sachen machen?
"Halt das!", sagte sie kurzentschlossen zu Marco und drückte ihm ihren Spieß in die Hand, den er verdattert entgegennahm. Sie riss sich den Schild vom Arm und fummelte hastig die Schnalle vom Schwertgehenk auf. Sie fluchte leise. In den Heldenliedern musste sich nie jemand mit so etwas aufhalten. Sie legte Marco das Schwert einfach über seine Arme. Im letzten Augenblick riss sie noch ihre Geldbörse von ihrem Gürtel und schob sie Marco zwischen die Finger.
"Für meine Großmutter, Lutgard, Altes Spital", stieß sie noch hervor, dann rannte sie los, an der sie anstierenden Ranhild vorbei, die Reihe entlang zur Gasse, weiter zur Bühne. Kurz vor der Treppe versperrten die Spießknechte, die die Bühne bewachten, ihr den Weg. "Lasst mich durch!", schrie Hildegard. "Ich muss auf die Bühne!" Verzweifelt sah sie hinauf. Atgarion und Irmgard starrten sich immer noch an.
Endlich wandte Atgarion den Blick zu Hildegard. "Lasst sie hochkommen."
Die Knechte gehorchten. Hildegard rannte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend. Oben blieb sie vor den Maiden stehen. Trude starrte sie ängstlich an, in anderen Gesichtern lag mehr Erstaunen.
Am liebsten wäre Hildegard weitergerannt und hätte sich vor Irmgard gestellt, doch das war sicherlich nicht klug. Sie musste die Aufmerksamkeit von Irmgard weglenken. Sie musste etwas sagen.
"Auch ich bin eine Maid dieser Stadt!", rief Hildegard, wandte sich der Menge zu und hob ihre Schwurhand. "Ich bin Hildegard, Tochter von Notker Krauter und Sieglinde Krauter, seinem ehelichen Weibe, Bürger dieser Stadt. Ich habe die Volljährigkeit erreicht und bin weder verehelicht noch verlobt. Das schwöre ich bei Wito und Wato!"
Alles starrte sie stumm an. Oben am Fenster im Knickerschen Haus war das Gesicht wieder deutlich zu sehen. Dort war jemand mit Sicherheit besonders gespannt, was als nächstes kommen würde.
Hildegard wandte sich jetzt halb Atgarion zu, so dass jeder sie noch gut verstehen konnte. "Meister Atgarion, ich will die Maid sein, die Ihr von dieser Stadt als Lohn empfangt. Ich habe für meine Stadt auf dem Schlachtfeld gekämpft, ich will mich nun auch hingeben und Euer sein. Nehmt mich!"
Schweigen war die Antwort. Atgarion stand immer noch neben Irmgard und sah von dort finster herüber. Irmgard starrte ihn an, als wollte sie seinen Blick zu ihr zurücklenken. Warum tat sie das?
"Bürgermeister!", brüllte Atgarion plötzlich. "Stimmt das? Ist sie eine Maid dieser Stadt?"
Knicker hatte sich schon weit zurückgezogen und kam hastig zur Bühne zurückgelaufen. "Meister Atgarion", rief er beschwichtigend. "Ich, äh..."
Hildegard sah ihn scharf an. Er sollte es nicht wagen, sie zu verleugnen. Sie war mit ihm persönlich aneinandergeraten, als er meinte, ihr Wehrdienst zählte nicht, sie müsste trotzdem die Ablösesumme zahlen. An das, was folgte, musste er sich gewiss erinnern. Die Zornesröte, die ihm trotz der Furcht vor Atgarion ins Gesicht gestiegen war, sprach dafür, dass er es tat.
"Äh, ja", brachte Knicker endlich heraus. "Sie ist eine Maid dieser Stadt, wie sie gesagt hat."
"Eine ehrliche Bürgerin, nicht etwa eine Ausgestoßene?", hakte Atgarion nach.
"Nein, nein, ich meine, ja", hakelte Knicker. "Sie ist eine ehrliche Bürgerin." Er warf Hildegard noch einen scheelen Blick zu, bevor er die Hand zum Schwur hob und das Kinn hochreckte, um seine Worte zu bekräftigen und seine Würde zu wahren.
"Warum war sie dann nicht bei den anderen?", fragte Atgarion scharf.
"Weil", begann der Bürgermeister und stockte kurz, bevor ihm die einfache Antwort in den Sinn kam, "weil sie beim Heer war, wie sie auch gesagt hat. Wir konnten natürlich nur die Maiden versammeln, die auch greifbar waren."
"Sind noch mehr Maiden nicht greifbar gewesen?", fragte Atgarion.
Hildegard konnte Knicker ansehen, wie er diesmal gründlicher über seine Antwort nachdachte.
"Hildegard ist eine ausgesprochene Ausnahme", sagte er schließlich. "Ich bin sicher, dass es keinen zweiten Fall ihrer Art gibt." Jetzt strahlte er wieder mehr Zuversicht aus. Er hatte nicht einmal gelogen. Nur nicht die Wahrheit gesagt.
Hildegard sollte es recht sein – wenn nur Atgarion endlich von Irmgard wegkam! Der stand aber immer noch bei ihr, drehte den Kopf sogar wieder halb zurück, so dass er Irmgard im Augenwinkel sehen musste – einschließlich des stechenden Blickes, den sie unverändert auf ihn geheftet hatte.
"Nehmt mich!", rief Hildegard noch einmal. Womit konnte sie ihn locken? "Eine Kriegerin für einen Krieger!"
Atgarion rührte sich nicht, starrte nachdenklich zwischen Hildegard und Irmgard hindurch auf einen Punkt irgendwo auf dem Boden der Bühne.
"Eine bessere werdet ihr nicht finden!", schob Hildegard nach.
"In dieser Stadt wohl kaum", sagte eine Stimme laut genug, dass es durch das Schweigen bis zu Hildegard drang. Ranhild. Hildegard wünschte sich für einen Augenblick, wenigstens ein Messer bei sich behalten zu haben.
Atgarion hob den Kopf und die Hand – und zeigte auf Hildegard. "Ich wähle sie."
Ein Raunen ging über den Platz, das sich wie das Anschwellen eines Sturmes anhörte. Das Heer sollte eigentlich wieder in Gleichtakt drei Doppelschläge mit den Spießen ausführen, aber das geriet sehr chaotisch, vermischte sich mit Rufen von Erstaunen, Freude, Wut.
Auch in Hildegard brauste es. Die Erleichterung, Irmgard gerettet zu haben, kämpfte mit dem Entsetzen vor dem Schicksal, das sie soeben für sich besiegelt hatte. Irmgard hatte endlich ihren Blick von Atgarion gelöst und sah Hildegard jetzt mit einer solchen Traurigkeit an, dass dieser die Brust zugeschnürt wurde.
Hildegard wagte ein kurzes, schmerzliches Lächeln, ein stummes "Ist schon gut". Irmgards Ausdruck änderte sich nicht.
Atgarions Diener kam auf die Bühne und geleitete Hildegard zum Wagen. Atgarion bestieg wieder sein Pferd, seine Kämpen nahmen den Wagen wieder in die Mitte, dann setzten sie sich in Bewegung. Im Vorbeifahren sah Hildegard Marco, immer noch mit ihren Sachen beladen und einem bestürzten Ausdruck im Gesicht. Ranhild dagegen zeigte ihr ein verächtliches Grinsen, bevor sie sich demonstrativ Marco zuwandte. Armer Marco. Hildegard hätte ihre Waffen einfach auf den Boden werfen sollen.
Sie wandte sich noch einmal zur Bühne um. Die Maiden standen in einem großen Pulk zusammen und starrten ihr nach. Manche winkten, manche hoben die zusammengelegten Hände zu einem Dankesgruß. Irmgard war nicht mehr zu sehen.
"Leb wohl", flüsterte Hildegard. Dann verschwand der Große Markt hinter den Häusern.
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