27
Hildegards Gedanken rasten. Das Verderben war noch vermeidbar, aber sie sah noch nicht den Weg, der drumherum führen würde.
Der Bürgermeister war keine große Hilfe. "Ich, äh, kann mir das nicht erklären! Es muss... ein Missverständnis..."
Der Graf hob die Hand. "Wir haben keine Zeit, Schuldige zu bestimmen. Und ich glaube, wir alle wissen, dass uns die Wahrheit leider, leider verschlossen bleiben muss. Was wir brauchen, sind Aussagen, zu denen Ihr, verehrter Bürgermeister, stehen könnt, und die Meister Atgarion zufriedenstellen werden. Ich erwarte Vorschläge."
Hildegard bemühte sich verzweifelt, doch ihr Kopf war wie leergefegt. Die Wahrheit war ihr leider, leider überhaupt nicht verschlossen und äußerst unwillig, andere Erzählungen neben sich zu dulden. Sie sah Irmgard an. Die nahm es immer mit der Wahrheit zu genau. Jetzt schwieg sie zum Glück.
"Wie gesagt", sagte der Bürgermeister, "wir könnten sagen, dass es, ähm, ein Missverständnis war. Ein Versehen."
"Eines?", fragte der Graf. "Nur die eine Person betreffend, die hier vor uns steht?"
"Ähm", sagte der Bürgermeister. "Das ist... eine schwierige Frage."
"Aber eine entscheidende", sagte der Graf und legte seine Fingerspitzen aneinander. "Betrachten wir zunächst Eure Aussage als solche. Wenn Euch bei der Erfüllung Eurer Vertragspflichten Fehler unterlaufen sind, ist Atgarion im Recht, vom Vertrag zurückzutreten."
Im Gesicht des Bürgermeisters zuckte es, aber er schwieg.
"Wenn wir stattdessen davon ausgehen", fuhr der Graf fort, "dass Ihr selbst hintergangen wurdet, dass sich eine Person aus eigenen Stücken unter die Maiden gemischt hat, die kein Recht dazu hatte, könntet Ihr Euch reinwaschen, indem Ihr die Übeltäterin verurteilt und hart bestraft."
Ein Hoffnungsschimmer leuchtete im Gesicht des Bürgermeisters auf.
Entsetzen durchflutete Hildegard. "Warum sollte sie das tun?", platzte es aus ihr heraus. "Warum sollte sie sich freiwillig in die Gefahr begeben? Sie musste das gleiche Schicksal wie das der Maid von Waldingen oder das der Maid von Wiesingen erwarten!"
"Leute tun die seltsamsten Dinge", sagte der Graf und sah Hildegard eindringlich an. "Aus den verschiedensten Gründen."
Hildegard schwieg.
"Bedauerlicherweise", sagte der Graf und wandte sich wieder an den Bürgermeister, "könnt Ihr offenbar nicht mit Überzeugung sagen, dass es sich um einen Einzelfall handelt. Spätestens an dem Punkt wird Atgarion Euch nicht mehr aus der Verantwortung lassen."
Der Hoffnungsschimmer auf dem Gesicht des Bürgermeisters erlosch.
"Wir kommen wohl nicht umhin, dafür zu sorgen", sagte der Graf, "dass die Auswahl der Maiden fehlerfrei abgelaufen ist. Da es, wie Ihr schon angeführt habt, Bürgermeister, kaum möglich sein wird, innerhalb eines halben Tages Leumundszeugen für jede einzelne von hundert Maiden beizubringen, müsst Ihr zusammen mit dem Rat summarisch für alle schwören, dass sie ehrliche Bürgerinnen sind, und dafür bürgen."
"Aber...", begann der Bürgermeister und warf einen schnellen Blick in Irmgards Richtung.
Der Graf seufzte. "Wenn Ihr meint, dass Ihr das für einige der Maiden, die Ihr gestellt habt, nicht tun könnt, dann müssen diese wohl bis heute Nachmittag... verschwunden sein."
Feuer loderte in Hildegard auf. "Bei allem Respekt, Euer Erlaucht", sagte sie. "Wenn jemand sie anrührt, wird er es mit mir zu tun bekommen!"
Der Graf warf Bernhardin einen schnellen Blick zu. Bernhardin streckte hektisch eine Hand empor und murmelte etwas. Ein Funkeln erfüllte die Luft um den Grafen und Bernhardin, schloss den Bürgermeister und den Mann in Schwarz aber nicht ein.
Der Bürgermeister hob entsetzt die Hände vors Gesicht.
"Wenn Ihr erlaubt", sagte der Mann in Schwarz mit leichtem Zittern in der Stimme, "ich hätte einen Vorschlag."
"Meister Frodebert", sagte der Graf ruhig, "ich bin begierig, der Stimme der Gelehrsamkeit zu lauschen."
"Es gibt ein Rechtsinstitut", sagte Frodebert, seine Worte mit dem Federkiel unterstreichend, "das hierzulande grundsätzlich bekannt, aber wenig gebräuchlich ist: adoptio, die Adoption oder Annahme an Kindes statt. Alle vormaligen Familienbeziehungen der Person, die an Kindes statt angenommen wird, erlöschen, stattdessen wird sie vollwertiger Nachkomme der annehmenden Person. Ihre vormalige Herkunft und damit ihr Stand gelten nicht mehr, haben rechtlich gesehen nie gegolten. Sie übernimmt Herkunft und Stand ihrer neuen Eltern."
"Ich verstehe", sagte der Graf. "Wenn Bürgermeister und Rat also bei einer der Maiden zu große Bedenken haben, für sie zu schwören und zu bürgen, könnten diese Bedenken durch Adoption durch unzweifelhaft ehrliche Bürger ausgeräumt werden. Seht Ihr das auch so, Bürgermeister?"
"Nun ja", sagte der Bürgermeister zögerlich, "wenn der gelehrte Meister Frodebert versichert, dass diese Adoption auch hierzulande gültig ist, werde ich ihm nicht widersprechen. Es bleibt nur die Frage..." Sein Blick huschte wieder zu Irmgard. "Es bleibt nur die Frage, wer sich zur Adoption einer solchen... Person bereit erklärt."
"Wie wäre es dann", sagte der Graf, "wenn, der Einfachheit halber und damit ihr ganz sicher sein könnt, dass die neuen Eltern ehrliche Bürger sind, Ihr selbst diese Person an Kindes statt annehmt, Bürgermeister?"
Der Bürgermeister sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen. Die Augen sprangen ihm fast aus dem Kopf, sein Mund stand halb offen, rote Flecken bildeten sich in seinem Gesicht. "Nein!", hauchte er.
"Ich werde jemanden finden, der es tut!", verkündete Hildegard. "Notfalls tue ich es selbst!"
"Ein interessanter Gedanke", sagte der Graf. "Damit wäre eine Maid die Mutter einer Maid... Es wäre wohl besser, jemand anderen zu finden. Gut, dann ist das eine weitere Aufgabe für dich, Hildegard."
Hildegard nickte entschlossen.
Der Bürgermeister beruhigte sich etwas.
"Schön", sagte der Graf. "Wir haben einen Weg. Allerdings geht es um insgesamt hundert Maiden. Muss Hildegard für sie alle neue Eltern finden, Bürgermeister?"
"Nun ja", sagte der Bürgermeister. "Das wäre natürlich die beste Lösung. In vielen Fällen könnte man vielleicht..."
"Euer Erlaucht", unterbrach Hildegard, "wir sollten meinem zukünftigen Lehrherren nicht zu deutlich machen, wie viele Fehler hätten geschehen sein können. Die Adoption einer Maid als besonderen Fall wird er akzeptieren; auf mehr Zugeständnisse dieser Art können wir nicht hoffen. Die anderen Fälle müssen und können anders gelöst werden."
"Tatsächlich?", fragte der Graf mit erhobenen Augenbrauen. "Und wie?"
"Mit Geld", sagte Hildegard.
Der Bürgermeister zuckte zusammen.
"Es gibt den Fall", führte Hildegard aus, "dass schon allein die Abstammung die Unehrlichkeit begründet und daher nicht zu heilen ist – hat man nicht die Weisheit eines Gelehrten zur Verfügung."
Meister Frodebert reckte sich ein wenig, unverkennbar geschmeichelt.
"In allen anderen Fällen", fuhr Hildegard fort, "ist Armut das wahre Gebrechen, das Unehrlichkeit nach sich zieht. Behebt es, und das Problem ist gelöst."
"Man kann den Maiden doch nicht einfach so Geld geben!", entrüstete sich der Bürgermeister. "Das untergräbt die Moral und verdirbt die Sitten!"
"Eine Stiftung!", ließ sich Frodebert vernehmen.
"Wie meint Ihr, Meister Frodebert?", fragte der Graf.
"Bürgermeister und Rat der Stadt könnten eine Stiftung zugunsten der Maiden einrichten", erklärte Frodebert. "Sie könnten eine Schwesternschaft gründen, der alle Maiden, die zur Wahl standen, beitreten. Die Stiftung garantiert, dass allen Mitgliedern der Schwesternschaft notfalls die nötigen Mittel gestellt werden, damit sie als ehrliche Bürgerinnen gelten können. Die Stiftung behält aber die Aufsicht über Maiden und Mittel."
"Das klingt nach einer ausgezeichneten Idee", sagte der Graf. "Das 'Rechtsinstitut', wie Ihr es nennt, Meister Frodebert, einer Stiftung ist hierzulande auf jeden Fall wohlbekannt und gebräuchlich."
"Ja", sagte der Bürgermeister zaghaft. "Aber... wer soll diese Stiftung mit den nötigen Mitteln ausstatten?"
"Das versteht sich doch von selbst", sagte der Graf. "Wer hat denn mit der Auswahl der Maiden die Fragen aufgeworfen, die uns nun solche Schwierigkeiten bereiten und drohen, den Kampf der Freien Städte gegen den Herzog zum Scheitern zu verurteilen. Ich bin sicher, wenn jedes Ratsmitglied einen für ihn kleinen Teil beiträgt..."
Der Bürgermeister gab ein erstickendes Geräusch von sich.
"Bernhardin", sagte der Graf. "Der Bürgermeister braucht Eure Heilkräfte. Schnell."
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