25
Hildegard hatte sich von Lutgard in eine andere Zelle führen lassen, wo sie ungestört miteinander sprechen konnten. Sie hatte keine Ahnung, was sie davon halten sollte.
Wahrscheinlich wollte ihre Großmutter ihr eine Predigt über irgendwelche Versäumnisse halten. In diesem Fall vielleicht, was sie bei der Heilung falsch gemacht hatte, dass es ihr selbst so schlecht danach ging.
Atgarion hatte Hildegard mehrfach und von schlimmeren Wunden geheilt, ohne ein einziges Mal einen Schwächeanfall zu erleiden und einen speziellen Trank zu brauchen.
Obwohl – Atgarion hatte mehrmals etwas getrunken, unmittelbar nachdem er sie geheilt hatte...
"Hilde...", sagte Lutgard sanft, nahm ihre beiden Hände und sah sie an – mit einem Lächeln. Das kam selten genug vor.
Plötzlich ließ Lutgard Hildegards Hände los, nahm sie stattdessen in den Arm, drückte sie an sich. "Oh, Kind...", flüsterte sie.
Verblüfft ließ Hildegard es geschehen, erwiderte die Umarmung zögerlich.
Lutgard löste sich ein wenig von ihr und sah ihr ins Gesicht. "Ich kann es kaum glauben...", flüsterte sie. "Du lebst!" Tränen traten aus ihren Augen.
Fassungslos starrte Hildegard sie an. "Ja", stammelte sie. "Ich... ich habe die Schlacht überlebt, und Atgarions Wahnsinn. Aber... aber du..."
"Das ist so wunderbar!", sagte Lutgard.
"Ja", sagte Hildegard. "Aber..." Sie schluckte. Sie wollte es nicht aussprechen, gerade jetzt nicht, aber es wollte einfach gesagt werden. "Ich dachte, es wäre dir egal, ob ich lebe oder sterbe!" Auch ihre Augen füllten sich nun mit Tränen.
"Nein!", flüsterte Lutgard. "Oh nein! Es war mir alles, nur nicht egal! Es hat mich so geschmerzt!"
"Was hat dich geschmerzt?" Die Tränen flossen ihr über die Wangen. "Das letzte Mal hast du mich vor Jahren umarmt, als Vater gestorben ist. Danach hast du mich nur noch angesehen, als... als wäre es dir lieber gewesen, ich wäre gestorben!"
"Nein!", sagte Lutgard. "Nein! So war es nicht! Ich habe dich mit Schmerzen angesehen, weil ich deinen Tod vor Augen hatte!"
"Was? Warum...?"
"Ich habe damals deinen Tod gesehen! Ich habe gesehen, wie du gestorben bist!"
Hildegard starrte ihre Großmutter entsetzt an. "Du hast gesehen, wie ich sterben werde?"
"Nein", sagte Lutgard. "Oder ja... Es ist schwierig. Ich wurde irr an meiner Gabe." Sie holte tief Luft. "Ich habe dich sterben sehen. Ab da fühlte es sich für mich an, als wäre es schon geschehen. Ich habe um dich getrauert. Und zugleich warst du noch da, hast noch gelebt, bei mir Trost und Rat gesucht. Das war schwer für mich. Und es war bestimmt schrecklich für dich, vor allem, weil du es nicht verstehen konntest."
"Ja", sagte Hildegard, während die Tränen von Jahren über ihre Wangen flossen.
Lutgard drückte sie wieder an sich. "Es tut mir leid!", flüsterte sie in Hildegards Ohr.
Hildegard schluchzte. Eine Weile hielten sie sich nur fest. Im Hintergrund war zu hören, wie die anderen zurückkamen und begannen, das Blut wegzuwischen.
Hildegard beruhigte sich. Langsam verstand sie einige Dinge – und andere noch nicht. Sie löste sich ein Stück von ihrer Großmutter und sah sie verwirrt an. "Aber... was ist jetzt anders? Ich bin doch noch nicht tot!"
"Nein, du bist nicht tot", sagte Lutgard. "Aber hättest du sterben sollen?"
Hildegard nickte langsam. "Oh ja! Mehrfach. Ich war in tödlicher Gefahr, der ich nicht hätte entrinnen können. Ich wurde mehrmals tödlich verwundet. Immer wieder hat jemand eingegriffen und das sichere Verderben abgewendet." Sie runzelte die Stirn und griff sich an den Hals. "Ich verstehe immer noch nicht, wie ich Ranhilds Messer entronnen bin."
Lutgard streckte die Hand aus, strich über Hildegards Kragen. "Es war das Kleid. Keine Klinge kann es durchdringen."
Hildegard starrte sie an. "Wie kann das sein? Und woher weißt du das?"
"Es war einmal für mich bestimmt", sagte Lutgard mit einem versonnenen Blick.
Hildegard war sprachlos.
Lutgard sah ihr in die Augen. "Hilde... Meine Gabe hat mich getäuscht. Was ich gesehen habe, hat mich so geschmerzt, dass ich nicht weiter geschaut habe. Erst dein Bote hat mich dazu gebracht."
"Mein Bote?", fragte Hildegard. "Das hat Ulf auch schon gesagt. Aber Marco sollte dir doch nur meine Sachen bringen!"
Lutgard lächelte. "Als dieser Junge stammelnd vor mir stand und unwissentlich in meinen Wunden bohrte, habe ich mich überwunden und versucht zu sehen, was los war. Aus dem, was ich sah, wurde mir klar, dass ich damals nicht dein Ende gesehen hatte."
Hildegard rang nach Worten. "All die Jahre...", brachte sie heraus.
"Es tut mir so leid!", sagte Lutgard. "Aber jetzt wird alles gut. Es warten noch viele Aufgaben auf dich, und du wirst sie wunderbar meistern!"
"Hast du das... gesehen?", fragte Hildegard.
Lutgard lächelte. "Ich weiß es einfach."
*
Müde setzte Hildegard sich auf die Strohmatratze, legte das Schwert neben sich ab und stellte ihr Talglicht auf den Boden. Das Blut war weggewischt, die Ketten, die Ranhild gehalten hatten, waren fortgeräumt. Alle waren schnell gegangen, bevor Atgarion zurückkehrte.
Hildegard starrte in die flackernde Flamme. Feuer. Magie fühlte sich an wie Feuer. Ein Brennen, das durch den Körper zog, und dann... irgendetwas bewirkte, irgendwie.
Undeutliche Gedanken huschten durch Hildegards Kopf. Jeder Versuch, sie zu packen, missglückte ihr. Sie hatte das Gefühl, dass sie mehr über Magie wusste, aber das Wissen versteckte sich. Sie schüttelte den Kopf. Das war alles Unsinn, Hirngespinste, von der Müdigkeit hervorgerufen.
Sie sollte schlafen. Der Tag war lang gewesen, von der Nacht nicht mehr viel übrig. Unschlüssig glitt ihre Hand über die Matratze. Der Tag hatte viele Herausforderungen gebracht, die sie gerne eine Weile vergessen wollte. Sie hatte aber Angst, dass sie wiederkommen würden, wenn sie ihre Augen schloss.
Eine Bewegung im Augenwinkel ließ sie nach ihrem Schwert greifen. Jemand stand in der Tür – Irmgard! Fast hätte Hildegard sie nicht erkannt; sie hatte kein Licht bei sich und trug ein Kleid, das Hildegard noch nie gesehen hatte.
"Was machst du hier?!", flüsterte Hildegard. "Wenn Atgarion dich erwischt!"
"Ich wollte nach dir sehen", flüsterte Irmgard zurück. "Geht es dir gut?"
Hildegard seufzte. "Es geht." Sie legte das Schwert wieder auf den Boden. "Wenn du schon einmal hier bist, dann setz dich zu mir."
Irmgard folgte der Aufforderung, setzte sich so weit entfernt, wie es ging, auf die Matratze.
"Was soll das?", fragte Hildegard. "Komm näher!"
"Ich bin immer noch die Henkerstochter", sagte Irmgard, "und du bist jetzt des Kampfmagiers Lehrling."
"Wir sind allein", sagte Hildegard. "Niemand sieht uns, und mir ist es gleich, was du bist. Mir ist auch gleich, was ich bin. Du bist meine beste Freundin! Oder willst du mich nicht mehr?"
"Willst du mich denn noch?"
"Natürlich! Du bist mir das Liebste auf der ganzen Welt!"
Schweigend rückte Irmgard näher. Hildegard zog sie noch weiter heran und nahm sie in den Arm. Zögerlich ließ Irmgard es geschehen.
"Irmi!", flüsterte Hildegard. "Ich bin so froh!"
Irmgard sagte nichts, erwiderte die Umarmung aber fester.
"Darf ich dich um etwas bitten?", fragte Hildegard.
"Um alles", sagte Irmgard.
"Legst du dich noch zu mir? Ich kann sonst bestimmt nicht schlafen."
Irmgard zögert kurz. "Gut", sagte sie.
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