24
Hildegard blickte missmutig auf Ranhild hinab, die finster zurück zu ihr herauf starrte. Irmgard hatte Ranhild schnell und geschickt in Eisen gelegt, auch den zerstörten Arm, für den sie extra einen Strohsack geholt hatte, um ihn abgestützt und gerade in die Fesseln zu legen. Ranhild hatte erfreulicherweise kaum Widerstand geleistet. Nun saß sie auf dem Boden, von Ketten am Aufstehen gehindert.
Irmgard hockte neben Ranhilds Hand und sah Hildegard erwartungsvoll an.
Hildegard seufzte. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Arm heilen konnte. Bisher hatte sich die Magie von selbst eingefunden, wenn sie sie aus tiefstem Herzen wirken wollte. Bei Ranhild war das ganz sicher nicht der Fall. Hätte Ranhild einen Finger gerührt, Irmgard noch einmal zu verletzen, hätte Hildegard ihr mühelos jeden Knochen im Leib zermalmen können. Aber heilen?
Irmgard zuliebe. Das war vielleicht der Hebel, mit dem sie die Kräfte bewegen konnte fast gegen ihren eigentlichen Willen zu wirken.
Sie sah Irmgard an, bemühte sich, das Blut auf ihr nicht zu beachten, nur ihr Gesicht zu sehen. Das Gesicht des eigenwilligsten und starrköpfigsten Menschen, den sie kannte. Aufgewachsen mit brutaler Grausamkeit als nächstem Nachbarn, und doch so oft die Güte selbst. Der liebste Mensch, den sie in dieser Welt hatte.
Und dieser Mensch hatte einen innigen Wunsch.
Hildegard atmete tief, fühlte in sich hinein, versuchte, die Kraft zu finden und zu rufen. Sie spürte einen Funken, versuchte ihn zu greifen, ihn anzufachen. Der Funke schien sich ihr entziehen zu wollen, drohte, ihr zu entkommen. Sie strengte sich an, streckte sich innerlich, bemühte sich, den Flüchtling zu packen. Es ging nicht!
Hildegard schloss die Augen, suchte Ruhe. Da war der Funke. Sie rief ihn, bat ihn, zu wachsen, lud ihn ein, sie zu erfüllen. Langsam, ganz langsam, begann er zu wachsen. Hildegard öffnete die Augen, richtete den Blick auf den Arm. Das geschundene Glied allein gesehen, ohne den Feind, dem es gehörte, konnte das Mitleid in ihr ansprechen. Grausige Zerstörung musste ungeschehen gemacht werden, Zersplittertes und Zerrissenes wieder ganz werden.
Der Funke wuchs zur Flamme, die Flamme, mühsam, zum Feuer. Ein letztes Zögern, ein letzter Widerstand, dann schoss das Feuer aus Hildegard heraus.
Ranhild schrie, bäumte sich auf. Irmgard packte sie, sorgte dafür, dass der verletzte Arm gerade blieb. Ranhild erschlaffte, keuchte laut. Vorsichtig begann sie, ihre Finger zu bewegen, dann den Arm leicht zu drehen. Ungläubig starrte sie ihren geheilten Körperteil an. "Das... das hat weh getan!", stammelte sie.
Hildegard hatte eine gehässige Bemerkung über Schildmaiden, die keinen Schmerz kennen, auf der Zunge, aber sie kam nicht heraus. Ihre Zunge wollte sich nicht bewegen. Ihre Lippen waren taub. Es rauschte in ihren Ohren. Ihr Bauch verkrampfte sich. Langsam sackte sie zu Boden.
"Hilde!", schrie Irmi wie von weit weg. "Oh nein! Du... du hast dich komplett ausgelaugt! Du brauchst eine Stärkung! Warte, ich habe etwas dabei..."
Hildegard saß als Häuflein Elend auf dem Boden und sah mit leichter Verwunderung zu, wie Irmgard ein Fläschchen aus einer Tasche an ihrem Gürtel zog, entkorkte und ihr hinhielt. Sie wollte nichts trinken, sie wollte... Sie hatte keine Ahnung, was sie wollte.
"Du musst das trinken!", sagte Irmi. "Ich helfe dir..." Sie kam an Hildegards Seite, stützte ihr den Kopf und setzte ihr die Flasche an den Mund.
Hildegard wollte zurückweichen, Irmi fortschieben, ihr sagen, dass sie nichts wollte. Aber es war zu anstrengend. Stattdessen trank sie. Es schmeckte bitter. Ein bisschen ging daneben. Das schöne Kleid.
"Das wird nicht ausreichen", sagte jemand hinter Hildegard. Sie kannte die Stimme. Großmutter.
Großmutter hockte sich zu ihr, hielt ihr auch eine Flasche an den Mund. "Trink." Sie sagte das so sanft.
Hildegard trank. Sie schmeckte nichts. Sie spürte Wärme, Hitze, im Hals, in der Brust, im Bauch; die Hitze breitete sich überallhin aus.
Hildegard blinzelte. Taubheit, Rauschen, Schmerzen – alles war verschwunden. Sie war wieder völlig klar. Sie blickte sich um. Alle sahen sie an, Ranhild mit Erstaunen, Irmgard mit Sorge, Großmutter mit... Fürsorge im Gesicht.
"Großmutter – was machst du hier?!" Hildegard stockte. So... vorwurfsvoll hatte sie gar nicht klingen wollen.
Lutgard schien das nicht zu stören. Sie lächelte. "Ich habe gesehen, dass ich gebraucht werde", sagte sie. "Dass du mich brauchst." Sie strich Hildegard liebevoll über die Wange.
Hildegard war sprachlos.
Irmgard hustete.
Lutgard wandte sich ihr zu, betrachtete ihren Hals. Dann griff sie in ihre Tasche und zog eine weitere Flasche hervor. "Trink das. Das hilft, das Blut in deinem Hals aufzulösen."
Irmgard nahm die Flasche nickend entgegen, hustete noch einmal und trank.
Lutgard stand auf, trat zu Ranhild und hockte sich neben sie. Sie betrachtete den geheilten Arm, nickte, sah Ranhild in die Augen. "Ich muss deinen Bauch berühren."
Ranhild sah aus, als wollte sie widersprechen, ließ es aber doch wortlos geschehen.
Lutgard legt die Hand auf Ranhilds Bauch, wartete eine kurze Weile. "Dem Kind geht es gut." Sie blickte Ranhild scharf an. "Das Kind muss leben."
Ranhild starrte sie mit großen Augen an.
"Dann wird sie wohl bis zu seiner Geburt in Ketten bleiben müssen", sagte Hildegard. "Ich traue ihr kein bisschen! Sie wird wieder versuchen, mich zu töten. Oder, noch schlimmer, Irmgard. Oder sonst jemanden, der mir lieb und teuer ist. Und wenn das Kind geboren ist, muss sie ihre gerechte Strafe erleiden, dafür, dass sie Irmgard so gut wie ermordet hat!"
"Das ist nicht gut für das Kind", sagte Irmgard. "Muhme", sprach sie Lutgard an, "habt Ihr eine bessere Lösung?"
Lutgard schwieg eine Weile, den Blick unverwandt auf Ranhild gerichtet. Hildegard meinte Angst in Ranhilds Augen zu sehen.
"Sie kann einen Heiligen Eid schwören", sagte Lutgard schließlich. "Sie muss schwören, dass sie nichts tun wird, was Hildegard und allen, die ihr lieb und teuer sind, schaden könnte, und dass sie alles tun wird, damit das Kind lebt."
"Und sich ihrer Strafe unterwirft, wenn das Kind geboren ist!", sagte Hildegard.
Lutgard sah sie an, dann nickte sie. "Wenn du darauf bestehst."
"Das ist eine gute Lösung", sagte Irmgard und zog ein Messer hervor.
"Wartet mal!", sagte Ranhild. "Was habt ihr vor? Was ist das für ein Eid?"
"Ein Heiliger Eid", sagte Lutgard, "ist eine Art Bannzauber. Du beschwörst ihn mit deinem Blut und kannst ihn nicht aus eigenen Stücken brechen."
"Einfach so?", fragte Ranhild.
"Es ist ein mächtiger Zauber", sagte Lutgard. "Nur wenige können ihn wirken, und sie tun es nicht gerne."
"Und wer soll ihn dann hier und jetzt wirken?", fragte Ranhild.
Lutgard sah ihr tief in die Augen.
Ranhild schluckte. "Ihr seid eine Seherin, eine Stabfrau?"
"So sagt man in Trolland", sagte Lutgard. "Hier sagt man Hexe."
*
"Frau Lutgard?", fragte eine Männerstimme.
"Ja, Meister Hans?"
Der Henker trat in die Zellentür. Entsetzen zog über sein Gesicht, als er Irmgard in ihrem immer noch blutigen Kleid sah, doch er fing sich schnell wieder. Ranhild, die von den Ketten befreit in einer Ecke stand und ihre Handgelenke rieb, bedachte er mit einem finsteren Blick, als wusste er genau, was sie getan hatte. Ranhild senkte den Blick.
Der Henker wandte sich Lutgard zu. "Hier sind ein paar junge Leute, die behaupten, dass Ihr ihre Anwesenheit verlangt habt. Ich habe gesagt, dass ich das nicht glaube, aber sie haben darauf bestanden, selbst als ich sagte, dass sie sich von mir geleiten lassen müssen, wenn sie zu Euch wollen."
Verwundert reckte sich Hildegard, um am Henker vorbeizuschauen. Hinter ihm standen Marco, Berta, Mina und Dimis!
"Es ist gut", sagte Lutgard. "Lasst sie hereinkommen. Bitte entschuldigt, dass sie Euch aufgehalten haben."
Der Henker verbeugte sich und trat zur Seite.
Zögerlich kamen die vier herein.
"Hildegarde!", rief Marco. "Ist alles in Orrdnung mit dirr?"
Hildegard rang sich ein Lächeln ab. "Es ist alles gut. Es ist lieb, dass ihr gekommen seid. Ihr müsst euch keine Sorgen machen!"
Mina stürzte an allen vorbei auf Irmgard zu, blieb direkt vor ihr stehen, streckte eine Hand nach ihrem Hals aus, ließ sie kurz vor der Berührung verharren. "Oh, meine Güte! Was ist mit dir geschehen?"
"Mina", fuhr Berta auf. "Du kannst doch nicht..."
Ärgerlich wandte Mina sich zu ihr um. "Und warum nicht, bitte schön? Wir haben uns von Meister Hans in den Roten Turm führen lassen, und jetzt darf ich seiner Tochter keine Hilfe anbieten?!" Sie drehte sich zurück zu Irmgard. "Brauchst du Hilfe?"
Irmgard lächelte. "Ist schon gut", sagte sie. "Mir wurde schon geholfen."
"Aber das ganze Blut...", sagte Mina. "Wie ist das passiert?!"
"Ich war nur dumm", sagte Irmgard.
Ungläubig starrte Mina sie an.
"Wie auch immer", sagte Berta, "Hildegard, ich glaube dir erst, dass du in Ordnung bist, wenn du mir das außerhalb dieses Turms sagst. Komm mit, bevor Atgarion zurückkehrt!"
"Nein", sagte Hildegard. "Das geht nicht! Das ist viel zu gefährlich. Ihr müsst mir einfach glauben. Es geht mir gut und es wird mir auch nichts mehr geschehen."
"Ach ja?", frage Berta. "Und wieso nicht? Weil Atgarion sich plötzlich in dich verliebt hat?"
"Nein", sagte Hildegard. "Weil er mich als seinen Lehrling angenommen und geschworen hat, mir nichts mehr zu tun."
Vier Paar großer Augen starrten sie an.
"Morgen wird alles offiziell verkündet", sagte Hildegard. "Ihr werdet dabei sein. Jetzt könnt ihr beruhigt nach Hause gehen und etwas schlafen. Es ist alles in Ordnung."
"Nicht ganz", sagte Lutgard. "Irmgard, du musst die dringend waschen und dir etwas Sauberes anziehen. Mina, Berta, Marco und...?"
"Dimis", stellte der sich vor.
"... Dimis, ihr kommt gerade recht, um euch nützlich zu machen. Lasst euch von Irmgard Wasser und Lappen geben und beseitigt das Blut auf dem Boden. Das zieht sonst nur Ratten an. Ranhild kann euch helfen. Ich muss derweil mit Hildegard sprechen – allein."
Einen Augenblick starrten alle Lutgard sprachlos an. Dann befolgten sie die Anweisungen.
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