23
Hildegard starrte Ranhild an, die sie immer noch am Hals hielt, wenn auch nicht mehr ganz so hoch. Ihre Verblüffung spiegelte sich doppelt in Ranhilds Augen.
"Bitte", sagte Irmgard und hustete. "Das Kind ist wahrhaft unschuldig! Ich habe Gutes in ihm gespürt!"
"Wie stellst du dir das vor?", fragte Hildegard. "Soll ich sie einfach laufen lassen? Nach dem, was sie getan hat?!"
"Bitte", sagte Irmgard. "Ich werde mich deiner Strafe klaglos unterwerfen, aber verschone das Kind."
"Was für eine Strafe?", fragte Hildegard. "Irmi, du redest wirr!"
"Die Strafe dafür, dass ich Ranhild hierher gebracht habe", sagte Irmgard.
Hildegard zögerte. "Warum hast du das getan?"
"Weil ich dachte, sie wollte dir helfen", sagte Irmgard.
"Sie hat dich also belogen und dich trifft überhaupt keine Schuld!", sagte Hildegard.
"Sie hat mich nicht belogen", sagte Irmgard. "Sie hat nicht eindeutig gesagt, was sie vorhatte, und ich habe aus ihren Worten nur herausgehört, was ich hören wollte."
"Irmi – sie hat dich getäuscht! Das ist, was zählt!"
"Nein", sagte Irmgard. "Ich war äußerst fahrlässig. Nur durch ein Wunder hast du überlebt. Ich verdiene den Tod für meine Nachlässigkeit. Sprich meine Strafe aus, und ich werde mich dem unterwerfen."
"Irmi!", rief Hildegard. "Ich versuche die ganze Zeit, dein Leben zu retten! Nichts liegt mir ferner, als es dir zu nehmen!"
Irmgard antwortet nicht, sah Hildegard nur ernst in die Augen.
Hildegard erwiderte den Blick und rang nach Worten. Irmgards Denken war schon immer anders gewesen als das anderer Leute, und Hildegard hatte sich daran gewöhnt, mochte ihre Freundin wie sie war. Aber in dieser Nacht brachte sie sie langsam um das letzte bisschen Verstand, das die Torturen ihr gelassen hatten.
Hildegard atmete tief durch. Sie wusste, sie konnte Irmgard nicht von ihrer Sichtweise abbringen, also musste sie es anders anfangen. Sie schloss kurz die Augen, beachtete kaum Ranhilds Versuche, ihrem Griff zu entkommen, wartete auf eine Eingebung.
Hildegard öffnete die Augen wieder, sah Irmgard an, ihr ernstes Gesicht, das Blut an ihrem Hals und auf ihrem Kleid. "Irmgard", sagte sie mit fester Stimme, "ich verurteile dich, am Leben zu bleiben. Zu leben, dich deiner Fehler zu erinnern, und sie nicht zu wiederholen. Dein eigenes Leben und das derer, die dir am Herzen liegen, besser zu beschützen."
Irmgard senkte wortlos den Blick.
"Nimmst du mein Urteil an, wie du versprochen hast?", fragte Hildegard.
Irmgard sah Hildegard wieder in die Augen. "Ich danke dir. Deine Strafe ist hart und milde zugleich. Ihre Weisheit steht im klugen Gegensatz zu meiner Torheit. Ich nehme dein Urteil an, wie ich es versprochen habe."
"Seid ihr jetzt fertig mit eurem Narrenspiel?", krächzte Ranhild.
Hildegard wandte sich ihr zu, fühlte die Wut wieder hochkochen. "Du hinterhältige Lügnerin! Mörderin! Verräterin!" Mühsam beherrschte sie sich, die Hand an Ranhilds Kehle nicht zuzudrücken. "Was hast du gesagt? Ich verderbe dir alles? Ich habe dir etwas angetan, wofür ich den Tod verdient habe? Das musst du mir sagen? Du, die mir jeden Mann abspenstig gemacht hat, seit ich im Heer bin? Du, die meine Freundin ausgenutzt und umgebracht hat? Ich habe dir nie etwas angetan!"
"Ich dir Männer abspenstig gemacht?", presste Ranhild hervor. "Du hast die Männer mit deinen blonden Haaren so in deinen Bann geschlagen, dass ich keinen halten konnte! Und das reichte dir nicht einmal! Du, die keinen Tropfen trolländischen Blutes in den Adern hat, musstest dich auch noch als Schildmaid ausgeben! Ich hätte die Schildmaid sein sollen, auf die Lieder gedichtet werden! Und deine... Freundin? Die Henkerstochter?! Sie steht hier und lebt!"
Hildegard fand vor Wut kaum Worte. "Ich habe die Männer in meinen Bann geschlagen? Die ich dann in deinem Lager wiedergefunden habe? Du konntest keinen halten? Hast du es überhaupt versucht?! Und wann habe ich mich als Schildmaid ausgegeben? Ich weiß nicht einmal genau, was das bedeutet! Was kann ich dafür, wenn ein Trolländer, ein echter Trolländer, mich so nennt? Und, ja, Irmgard ist meine Freundin!" Hildegard zog Ranhild näher an sich heran. "Du hast alles getan, dass sie tot sein müsste!", schrie sie ihr ins Gesicht. "Nur durch unwahrscheinliches Glück lebt sie noch!"
"Durch deine neugewonnene Schwarze Kunst, meinst du wohl!", zischte Ranhild. "Lass davon ab und kämpfe ehrlich, wie eine wahre Schildmaid!"
"Du meinst, ich soll mich an dich anschleichen und dir die Kehle durchschneiden?", zischte Hildegard zurück. "Wenn du darauf bestehst!"
"Bitte!", rief Irmgard dazwischen. "Das Kind!"
"Hör auf davon!", knurrte Ranhild. "Du redest die ganze Zeit nur wirres Zeug. Ich trage kein Kind unter meinem Herzen!"
"Ich habe es ganz deutlich gespürt", sagte Irmgard. "Spürst du nichts? Häufige Übelkeit? Ungewohnten Hunger? Wut oder Traurigkeit aus heiterem Himmel? Schmerzen ohne Grund? Wann hattest du zuletzt deine Blutungen?"
Ranhilds Gesicht blieb zornverzerrt, doch ihre Augen huschten hin und her, als würden sie ungeliebten Erinnerungen ausweichen. "Das hat nichts zu bedeuten", sagte sie schließlich.
"Glaub mir", sagte Irmgard. "Du trägst ein Kind, und es ist gut. Das Kind muss leben." Ihr Blick ging zu Hildegard.
Hildegard seufzte. "Irmi, ich glaube dir, aber was soll ich machen? Ich kann sie nicht laufen lassen! Nicht nur, dass sie eine Strafe verdient: Sie würde es noch einmal versuchen, mich umzubringen – und dich!"
"Es muss einen Weg geben", sagte Irmgard. "Du hast recht, du kannst sie nicht laufen lassen. Wir müssen auf sie aufpassen, und wir müssen das Kind auch vor ihr schützen." Irmgard sah nachdenklich drein, dann verzog sie das Gesicht in Sorge. "Ich fürchte, wir müssen sie erst einmal in Eisen legen. Das gibt mir die Zeit, eine bessere Lösung zu finden."
"Ihr könnt euch die Mühe sparen", höhnte Ranhild und hielt ihren zerstörten Arm hoch. Das Handgelenk schien an der falschen Stelle zu sein, Knochen hatten die Haut durchbohrt. "Wahrscheinlich bringt mich diese Wunde um. Deine Fürsorge kommt zu spät, Irmgard!"
Irmgard musterte den Arm. "Das ist in der Tat eine Gefahr. Ich fürchte, der Arm muss amputiert werden, aber selbst dann könntest du daran sterben."
Diese Bestätigung machte Ranhild offensichtlich nicht glücklicher.
Irmgard sah Hildegard an. "Am besten wäre eine Heilung."
"Was du nicht sagst", sagte Hildegard. "Und wer soll die durchführen? Wir können sie schlecht in Eisen zum Witu-Heiligtum schleppen."
Irmgard sah Hildegard wortlos bittend an.
Hildegards Augen weiteten sich. "Nein! Das kannst du nicht von mir verlangen!"
"Für das Kind", sagte Irmgard. "Bitte."
Hildegard seufzte. "Besorg erst etwas, um sie zu fesseln. Magische Kräfte hin oder her, mir wird der Arm lahm."
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