21
Irmgard stand an der Tür und lauschte.
"Können wir jetzt endlich?", fragte Ranhild ärgerlich.
Sie waren immer noch nicht aus der Zelle herausgekommen, da Atgarions Diener nicht zur Ruhe kam. Gerade wimmelte er offenbar irgendwelche Leute ab, die den erstaunlichen Mut bewiesen hatten, an die Turmtür zu klopfen. Das war möglicherweise eine gute Gelegenheit.
"Ja", flüsterte Irmgard. "Komm, wir... Nein, warte! Da kommt jemand!"
"Oh nein!", zischte Ranhild, "jetzt reicht es mir!"
"Pst!", machte Irmgard und lauschte noch angestrengter. "Ich... Ich glaube, es ist Hildegard... Sie kommt genau hierher!"
"Ausgezeichnet", flüsterte Ranhild, rückte näher von hinten an Irmgard heran und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Die Berührung ließ Irmgard zusammenzucken. Nicht nur, dass sie ungewohnt war, weil nur wenige Menschen sie freiwillig anfassten. Durch diesen direkten Kontakt spürte sie nun deutlich, dass das Gute in Ranhild nicht in ihrem Herzen wohnte.
*
Lutgard stand allein in einer dunklen Gasse und starrte vor sich hin. Für das, was sie sah, brauchte sie kein Licht. Hier, wo sie keiner sah, hatte sie die Arme an ihre Brust gepresst, nicht nur wegen der Nachtkälte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, entspannten sich wieder. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, verkrampften sich ihre Hände zu Klauen.
"Solch Narrheit!", flüsterte sie.
Dann lief sie los.
*
Hildegard leuchtete sich den Weg durch den Roten Turm. Hunderte von Gedanken und Gefühlen wirbelten durch ihren Kopf und ihr Herz. Sie sehnte sich nach Ruhe. Noch mehr sehnte sie sich nach einem Menschen, der ihr den dafür nötigen Frieden geben konnte. Doch die einzige Person, die das hätte tun können, war unerreichbar, obwohl so nah.
Gerade noch hatte tatsächlich jemand an die Tür geklopft und verlangt, Hildegard zu sprechen. Atgarions Diener hatte sie abgewimmelt. Hildegard war ihm dankbar dafür. Es war ein schönes Gefühl, dass sich jemand so um sie sorgte, doch sie konnte den Leuten einfach nicht noch einmal gegenübertreten. Jetzt war der Diener oben und räumte geräuschvoll die Zerstörung auf, die Atgarion und sie im Raum der Scharfen Frage hinterlassen hatten.
Hildegard erreichte die Zelle, die ihr als Nachtlager zugewiesen war. Als sie nach der Tür griff, meinte sie ein leises Geräusch zu hören. Ratten? Die sollten ihr jetzt besser nicht in die Quere kommen...
Als sie eingetreten war, bemerkte sie als Erstes, dass sie in etwas Nasses trat. Im nächsten Augenblick schloss sich ein Arm um sie, fesselte ihre Oberarme an ihren Körper – und sie hatte ein Messer an der Kehle.
"Endlich!", zischte eine Stimme in ihr Ohr. "Wenn selbst Atgarion dich nicht umbringen will, dann tu' ich es eben selbst!"
Ranhild! Wie war sie hereingekommen?! Und was war das Nasse? Hildegard bekam fast keine Luft mehr, aber eine unerklärliche Unruhe brachte sie dazu, trotzdem als allererstes nach unten zu ihren Füßen zu spähen. Von dort starrten weit aufgerissene Augen zu ihr hoch, ein offener Mund schrie ihr einen tonlosen Schrei zu, eine verkrampfte Hand streckte sich ihr entgegen.
Irmgard! Blut, so viel Blut!
"Du verdammtes Miststück!", zischte Ranhild in Hildegards Ohr. "Alles, alles musst du mir verderben!"
Hildegard hörte es kaum. Sie sah nur Irmgard, Irmgard, deren letzte Lebensfunken kurz vor dem Verlöschen waren.
Feuer durchströmte Hildegards Adern. Ein Gedanke ohne Worte formte sich, ein Wille, eine Tat. Kraft strömte, durch Hildegard, aus ihr heraus, in ein Ziel. Das Ziel bäumte sich auf, zuckte wild, krümmte und wand sich.
Hildegard wurde schwindelig. Das Messer drückte sich in ihren Hals, ließ sie fast das Bewusstsein verlieren. Sie spürte nicht einmal mehr, wie es in ihre Kehle schnitt. Ihr Körper zuckte im Verlangen nach Luft.
"Ja, fühl den Schmerz!", zischte Ranhilds Stimme in ihr Ohr. "Vielleicht kannst du mit deinem letzten Atemzug ermessen, was du mir angetan hast! Und jetzt stirb!" Ranhild riss an dem Messer, als wollte sie Hildegard den Kopf abschneiden.
Sterne tanzten vor Hildegards Augen, Schwärze zog auf. Ein Gedanke kämpfte sich durch den Sog des Todes: Lebe – rette Irmgard!
Eine Feuersbrunst loderte in Hildegard auf. Ihre Hand schoss hoch, sprengte die feindliche Umarmung, packte den Arm, der das Messer führte, und drückte zu. Knochen knackten. Ein erstickter Schmerzlaut ertönte. Der Druck an Hildegards Hals verschwand. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft – und sog befreienden Atem ein!
Das Messer schlug scheppernd auf dem Boden auf. Wut loderte in Hildegard auf. Erbarmungslos drückte sie weiter, verdrehte den Arm ihrer Feindin. Hässliche Geräusche ertönten. Ranhild gab einen gurgelnden Schrei von sich und ging auf die Knie. Hildegard schnaufte, riss Ranhild an ihrem zerstörten Arm herum und ließ dann los. Ranhild fiel auf den Rücken und blieb wimmernd liegen.
Hildegard keuchte. Ungläubig griff sie sich an den Hals. Sie fühlte den hohen Kragen des Kleides, ihre eigene Berührung verursachte leichten Schmerz, aber sie spürte kein Blut. Selbst das Kleid fühlte sich unversehrt an, ihre Finger ertasteten keinen Schnitt. Wie konnte das sein? War das Kleid nicht nur herbeigezaubert, sondern auch verzaubert und hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt?
Sie sah zu Irmgard hinunter. Die lag am Boden, würgte und hustete, rang nach Luft – und atmete. Freude und Erleichterung durchströmten Hildegard. Irmgard lebte!
Ranhild langte mit ihrem heilen Arm nach dem Messer. Blitzschnell ging Hildegard in die Knie, packte Ranhild an der Kehle und hob sie daran mit sich hoch, hoch und höher, bis Ranhilds Zehen den Boden gerade noch berührten.
"Du... Natter!", stieß Hildegard hervor. "Ich sollte dich Atgarion übergeben!" Wut brannte in ihr und ließ sie eine beängstigende Befriedigung verspüren bei dem Gedanken, dass Ranhild dasselbe Ordal durchleiden sollte wie sie.
Ranhilds heile Hand griff nach Hildegards Arm, und selbst der zerstörte Arm versuchte unwillkürlich zu helfen, aber vergebens. Ranhilds Fuß trat nach Hildegard, doch ein verstärkter Druck auf den Hals unterband den Versuch.
"Gnade", sagte eine krächzende Stimme. Nicht Ranhilds, sondern Irmgards.
"Was?", fragte Hildegard irritiert.
Irmgard hatte sich auf ihre Arme gestützt, ließ den Kopf hängen, hustete, würgte etwas hervor. "Gnade", krächzte sie dann erneut.
"Gnade?!", fragte Hildegard. "Das kannst du nicht meinen!"
Irmgard hob den Kopf, sah Hildegard an. "Tu mit mir, was du willst, aber verschone das Kind", presste sie hervor.
"Mit dir? Wieso mit dir?", fragte Hildegard. "Und welches Kind? Etwas sie?" Sie schüttelte Ranhild ein wenig, die ein gurgelndes Geräusch von sich gab.
Irmgard würgte erneut, schüttelte hustend den Kopf.
"Was meinst du dann?! Welches Kind?"
Irmgard hustete noch einmal, atmete tief durch. "Das Kind, welches sie unter ihrem Herzen trägt."
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