20
Irmgard blinzelte. Das grelle Leuchten war genauso unerwartet wieder verschwunden, wie es gekommen war. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, ihre Augen auf die Dunkelheit vorzubereiten.
"Endlich ist es vorbei!", krächzte Ranhild. "Dieses grässliche Licht, und das scheußliche Gefühl dabei..."
"Pst!", machte Irmgard und spähte und lauschte zur Tür hinaus. Sie hatte das Gefühl keineswegs scheußlich gefunden. Es hatte ihr eine unerwartete Ruhe verliehen. Ranhild hatte allerdings schon ausgesehen, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen.
Sie hatten es unentdeckt bis zu der Zelle geschafft, die Irmgard am Tag zuvor für einen "Gast" hatte vorbereiten müssen, also sehr wahrscheinlich für die erwählte Maid. Nachdem sie hier angelangt waren, war Atgarions Diener aber ständig umhergelaufen, so dass sie in diesem Versteck bleiben mussten, um nicht von ihm entdeckt zu werden.
Es war sehr beunruhigend gewesen, von dort alles zu belauschen. Erst noch das Toben der Menge, dann Hildegard, die offenbar zu den Leuten draußen sprach, und die Antwortrufe. Danach Kampflärm aus dem Raum der Scharfen Frage, und dann, während des Leuchtens, waren leise Gespräche zu erahnen gewesen.
"Können wir jetzt weiter?", fragte Ranhild.
"Warte", sagte Irmgard. "Da ist jemand auf der Treppe!"
"Nicht schon wieder", stöhnte Ranhild.
"Pst!", machte Irmgard wieder. Sie lauschte. "Atgarion wurde zum Grafen bestellt. Anscheinend geht er sofort hin. Wenn wir Glück haben, bleibt Hildegard hier."
"Na gut", flüsterte Ranhild zurück. "Dann warten wir noch."
*
Der Große Bernhardin nahm einen Schluck von dem Wein, den er zum Abort mitgenommen hatte. Ein lästiges leibliches Bedürfnis sollte ihn nicht daran hindern, die Nacht ohne Unterbrechung zu genießen. Der Tag hatte einen großen Sieg gebracht, für die Freien Städte, für den Grafen als ihren Obersten Feldhauptmann, und nicht zuletzt für ihn, Bernhardin.
Sein Anteil war für Außenstehende nicht ganz so offensichtlich, das stimmte. Aber war er nicht der Zauberer des Grafen? Ohne ihn wäre der Graf in ständiger Gefahr, Ziel magischer Attacken der Zauberer des Herzogs zu werden! Allein der Ruf des Großen Bernhardins reichte schon, das zu verhindern!
Atgarions Anteil war natürlich deutlich sichtbarer. Und direkter. Aber, und das war das Wunderbare, Atgarion tat mal wieder sein Bestes, seinen eigenen Ruhm und sein eigenes Ansehen zu zerstören. In dieser Nacht übertraf er sich sogar selbst. Die Wahl einer Maid in jeder Stadt war ja sowieso schon ungeheuerlich genug, dass sich Atgarion in den Städten keine Freunde machte.
Aber dann kam dieses dumme Mädchen, das erst verrückt genug gewesen war, als Spießknecht im Heer zu kämpften, und sich dann mit noch idiotischerem Heldenmut Atgarion als Opferlamm angeboten hatte – und Atgarion war dämlich genug gewesen, darauf einzugehen! Damit hatte er auch noch alle Sympathien beim Fußvolk verspielt, dem Teil des Heeres, der ihn nicht sowieso schon für seine bäurische Magie verachtete!
Bernhardin lachte in sich hinein und nahm noch einen Schluck Wein. Köstlich, wirklich köstlich! Sie hatten Atgarion in seinem Turm belagert! Natürlich hatte er sich das nicht selbst angesehen, aber er hatte seinen Augen und Ohren vor Ort. Sie hatten ihm von dem rasenden Mob erzählt, und von dem dramatischen Auftritt des Mädchens und ihren herzergreifenden Appellen. Schlussendlich würden die auch nur zu einem führen: Atgarions Schicksal zu besiegeln.
Nicht mehr lange, und Atgarion war aus dem Rennen. Dann war er, der Große Bernhardin, Hofzauberer des Grafen, der Held der Stunde, der magische Macher im Hintergrund, Vater des ruhmreichen Sieges in diesem Krieg!
"Auf den größten Zauberer weit und breit!", prostete er sich selbst zu, den Kelch mit nicht allzu sicherer Hand erhebend.
"Bernd, mein lieber Lehrling!"
Der Kelch fiel, Wein spritzte im Abort umher. Bernhardin saß da, den Mund offen, die Hosen heruntergelassen, die hochgeraffte Robe befleckt, ungläubig, wer sich hier, im kleinsten Gemach des Hauses, bei ihm eingefunden hatte.
Ulf strahlte ihn an, sich scheinbar der anrüchigen Umstände nicht bewusst. "Was für ein herzlicher Empfang! Ich bin froh, dass es dir nichts ausmacht, dass ich zu so später Stunde noch störe." Er beugte sich verschwörerisch vor. "Ich bin hier, um dich an meinem weisen Rat teilhaben zu lassen, den du, wie ich weiß, so sehr schätzt, dass du ihn dein ganzes Leben in deinem Herzen trägst."
Der Teil von Bernhardins Verstand, der noch funktionierte, fragte sich, ob er den Morgen noch erleben würde.
*
"Iste dirre nichte zu kalte?", fragte Marco Berta.
Sie saßen an eins der Häuschen am Platz vor dem Turm angelehnt, Berta unter Marcos Mantel in seinen Arm geschmiegt. Neben ihnen saßen Dimis und Mina in gleicher Weise.
Viele Maiden hatten sich nach Hildegards Ansprache von ihren neu gefundenen Beschützern nach Hause geleiten lassen. Die beiden Schwestern gehörten allerdings zu denen, die partout bleiben wollten. So blieb Marco und Dimis nichts anderes übrig, als auch auszuharren.
Marco war das insgeheim ganz recht. Er machte sich immer noch große Sorgen um Hildegard und war sich sicher, dass er in dieser Nacht kein Auge zumachen würde.
"Nein, kein bisschen", sagte Berta. "Ist richtig kuschelig. Sag mal, warum ziehst du eigentlich die Wörter so lang?"
"Wase?", fragte Marco verwirrt.
"Da, du machst es schon wieder!", sagte Berta. "Warum sagst du 'Wase'? Es heißt einfach nur 'Was'!"
"Aberr... Dase iste so schwerr auszusprechene!"
"Nein, ist es gar nicht. Hör doch: 'Was'. Ganz einfach!"
"'Wass'", probierte Marco.
"Schon besser", sagte Berta. "Jetzt ist nur das S zu lang; du klingst wie eine Schlange! Einfach nur: 'Was'."
"'Was'", versuchte es Marco noch einmal. "Iste dase besserr?"
"Viel besser. Aber du musst auch einfach 'ist' und 'das' sagen."
Marco seufzte. "Ist... das... besserr?"
"Sehr viel besser! Nur dein R rollt noch so, aber das ist süß."
"Ah", sagte Marco, unsicher, ob er süß klingen wollte.
"Warum sprichst du nicht wie Marco?", fragte Mina Dimis.
"Weil ich aus einem anderen Land komme", sagte Dimis. "Und ich spreche eure Sprache schon länger."
"Bist du schon länger hier?", fragte Mina.
"Ja", sagte Dimis, "ich glaube..."
"Da kommt jemand aus dem Turm!", unterbrach ihn Berta.
"Atgarrion!", sagte Marco.
Atemlos beobachteten die vier, wie der Kampfmagier den Turm verließ, die Treppe herunterstieg und mit schnellem Schritt und grimmigem Blick davonging, ohne die erschrockenen Gesichter der auf dem Platz Verbliebenen zu beachten.
"Was hat das zu bedeuten?", fragte Berta.
"Dase... Das musse... Das muss mit dem Boten zu tun haben, derr gerrade hierr warr!", brachte Marco etwas mühsam heraus.
"Das glaube ich auch", sagte Dimis. "Jemand hat Atgarion zu sich gerufen. Das kann eigentlich nur der Graf gewesen sein, wenn Atgarion dem Folge leistet."
"Dann ist er bestimmt länger weg", sagte Berta aufgeregt, "und Hildegard ist immer noch da drin. Das ist die Gelegenheit!"
"Was... fürr eine Gelegenheit?", fragte Marco.
"Zu Hildegard zu kommen und zu sehen, ob wir ihr helfen können, natürlich!", sagte Berta. "Kommt!"
Sie sprang auf und zog Marco mit sich. Mina und Dimis folgten zögerlich. Berta führte sie an nun verwunderten Gesichtern vorbei bis zur Turmtreppe und dann hinauf. Sie ergriff kurzentschlossen die Türklinke – und fand die Tür verriegelt. Sie hob ihre Hand und ballte sie zur Faust.
"Nichte!", flüsterte Marco noch, aber Berta klopfte einfach an.
Nichts geschah.
"Wirr sollten...", begann Marco.
Berta klopfte noch einmal lauter.
"Wer ist da?", ertönte einen Stimme durch die geschlossene Tür.
"Freunde von Hildegard", sagte Berta. "Lasst uns ein, wir wollen fragen, ob sie etwas braucht."
"Ich lasse nur den Meister ein", antwortete die Stimme. "Die Maid braucht nichts. Geht nach Hause."
"Wir wollen das von ihr selbst hören!", rief Berta.
"Das geht nicht", sagte die Stimme. "Geht nach Hause. Habt eine gute Nacht!"
Berta klopfte noch einmal. "Nein! Wir müssen Hildegard sprechen!"
"Verschwindet besser", sagte die Stimme, "bevor der Meister zurückkommt."
Berta ballte beide Hände zu Fäusten, ließ die Tür aber nun in Ruhe.
"Komm", sagte Marco. "Wirr sollten nicht vorr derr Türr stehenbleiben."
Widerstrebend folgte Berta ihm und den anderen nach unten.
"Err hat gesagt, sie brraucht nichts", sagte Marco. "Das klingt doch, als ginge es ihrr gut."
"Oder als wäre sie tot", sagte Berta.
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