15
"Aaah!"
Den spitzen Schrei gab eine junge Frau von sich, die im dichten Gedränge auf dem kleinen Platz gegen Marco stolperte. Erschrocken sah sie ihn an und versuchte, wieder Abstand zu gewinnen, eine Hand zur Abwehr gehoben. Dann veränderte sich ihr Blick. "Ich erkenne dich", rief sie gegen das Gejohle und Geschrei der Menge an. "Du bist der, bei dem Hildegard ihre Sachen abgeladen hat, oder?"
Das klang nicht sehr schmeichelhaft, aber es ließ Marco offenbar weniger als eine Bedrohung erscheinen. "Ja", rief er zurück. "Unde du biste die Maide, die gegen Atgarrion aufbegehrret hat, rrichtig?"
"Was?", rief sie zurück. "Du sprichst seltsam!"
Marco seufzte. Es war wirklich nicht leicht mit den Menschen in dieser Stadt. "Ja!", rief er einfach noch einmal.
"Bist du ein Freund von Hildegard?"
Marco zögerte. Das war vielleicht etwas viel gesagt. Egal. "Ja!"
"Dann hilf mir, meine Schwester vor dieser Meute zu beschützen!", rief die Frau und zog eine jüngere Frau heran, die sie an der Hand hielt.
"He!", schrie die jüngere der älteren zu. "Du brauchst genauso viel Schutz wie ich!"
"Wirr tune, was wirr können!", sagte Marco und sah Dimis an. Der nickte und sie nahmen die beiden in die Mitte.
Die ältere sah Dimis misstrauisch an. "Ist das auch ein Freund von Hildegard?"
"Natürrliche!"
"Was?"
"Ja!" Mit dem Wort hatte er eindeutig den meisten Erfolg.
Die ältere schien zufrieden. "Ich bin Berta. Und das ist meine Schwester Mina."
"Marrco", sagte Marco und zeigte auf sich selbst. "Dimis", ergänzte er und zeigt auf diesen.
"Das sind eure Namen?", fragte Berta.
"Ja!"
"Kommt ihr aus einem anderen Land?"
"Ja!"
"Aus dem von Atgarion?!"
"Nein!" So genau wusste Marco das eigentlich nicht, aber er wollte auf jeden Fall nicht mit dem Kampfmagier in einen Topf geworfen werden.
Berta nickte und wandte sich wieder dem allgemeinen Geschehen zu.
Der Platz hatte sich in einen brodelnden Kessel verwandelt. Mehr und mehr Leute waren gekommen und hatten den Platz zum Bersten gefüllt. Torgers Beispiel hatte andere ermutigt, sich auch an die Allgemeinheit zu wenden, zumindest die der jeweiligen näheren Umgebung, und etwas zu deklamieren oder Schlachtrufe ertönen zu lassen, die auf mehr oder weniger Widerhall stießen. "Freiheit" und "Hildegard" hatten einen gewissen Erfolg, längere Rufe hatten schlechte Aussichten.
Viele Leute, besonders das Kriegsvolk, waren offensichtlich betrunken. Manche hatten sogar noch mehr zum Trinken mitgebracht, was die Lage nicht entspannte. Es wurde geschoben und gedrängelt, Getränke wurden verschüttet, auf Füße wurde getreten. Es wurde geschrien, Ellbogen und Knie berührten unsanft andere Körper, Fäuste wurden gehoben.
Marco wurde mulmig. Das Versprechen, Berta und Mina zu beschützen, war vielleicht etwas unbedacht gewesen. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt selbst unbeschadet hier herauskommen würde.
An der Treppe zum Turm verstärkte sich der Tumult. Bisher hatte sich noch niemand hinaufgewagt, noch keine getraut, Atgarion so deutlich herauszufordern. Taten sich jetzt die Mutigsten – oder die Betrunkensten – zum Sturm auf den Turm zusammen?
Ein einzelner Mann löste sich aus dem Gewühl und stieg mit raschem Schritt bis zur halben Höhe der Treppe, blieb dort stehen, legte den Kopf in den Nacken und hob eine Hand. Torger.
"Atgarion!", rief er mit dröhnender Stimme.
Der Lärm auf dem Platz ebbte zu gespanntem Gemurmel ab.
"Ich, Torger Olufsson, verlange, die Schildmaid zu sprechen!"
"Die Schildmaid! Die Schildmaid!", grölten die Trolländer am Fuß der Treppe.
Vom Turm kam keine Antwort. In der Menge breitete sich der neue Schlachtruf aus.
"Schildmaid! Schildmaid!"
"Atgarion!", rief Torger erneut. "Lasst mich mit der Schildmaid sprechen, an deren Seite ich in der Schlacht gestanden habe!"
"Schildmaid! Schildmaid!"
Die meisten mochten, wie kurz zuvor noch Marco, nicht wissen, was genau eine Schildmaid war, doch immer mehr nahmen den Ruf auf, der ganze Platz hallte davon wieder.
"Atgarion!", rief Torger zum dritten Mal. "Lasst mich sehen, dass Ihr der Schildmaid die Ehre angedeihen lasst, die dieser tapferen Heldin gebührt!"
"Schildmaid! Schildmaid!"
Der Ruf wurde zu einem Tosen. Leergetrunkene Becher und ausgebrannte Lampen flogen, prallten von der Mauer des Turms ab oder zerschellten an ihr. Ein kleines Fass wurde mit solcher Wucht geschleudert, dass es bis zur Tür hochflog und dort dumpf zerbarst.
Berta und Mina drückten sich enger an ihre Beschützer. Der Kessel drohte überzukochen.
*
"Warte!", flüsterte Irmgard und presste sich an die Wand des schmalen, finsteren Ganges.
"Was ist denn nun schon wieder?", zischte Ranhild.
"Hast du das gehört?", fragte Irmgard.
"Was denn?", fragte Ranhild ungeduldig zurück.
"Was der Mann gesagt hat?"
"Nein!", zischte Ranhild sehr bestimmt.
"Er lockt Atgarion möglicherweise zur Tür. Wir dürfen ihm auf keinen Fall in die Arme laufen."
"Wir erreichen aber auch nichts, wenn wir hier stehenbleiben!"
"Das ist wahr." Irmgard überlegte fieberhaft. "Wenn wir Glück haben, können wir uns hinter Atgarions Rücken zu den Zellen schleichen. Dort können wir uns verstecken, bis wir sicher sind, dass der weitere Weg frei ist."
"Zellen?"
"Ja."
"Wieso gibt es hier Zellen?"
"Dies ist der Rote Turm. Er heißt nicht so wegen der Farbe seiner Mauern."
Ranhild schwieg einen Moment. "Rot wie Blut? Gefängnis... und Folterkammer? Das Reich des Henkers?"
"Ja", flüsterte Irmgard. "Du hast mein Kleid als Schandkleid erkannt, und ich hatte dich gewarnt, dass ehrbare Leute hier nicht gesehen werden wollen. Ich dachte, du hättest verstanden, wer ich bin." Sie wartete auf eine Erwiderung. Es kam keine. "Willst du jetzt umkehren?"
"Nein", sagte Ranhild. "Ich habe eine Aufgabe zu erledigen."
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