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»So, die Zeit ist um. Siri, Joana und Paul, sammelt bitte die Arbeiten ein«, erklärte unsere Englischlehrerin auf deutsch - denn wenn sie es auf Englisch gesagt hätte, hätte locker die Hälfte der Schüler nicht verstanden was jetzt zu machen war. Im Groben und Ganzen war meine Klasse schon ziemlich dumm, vor allem wenn es um das Fach Englisch ging, denn man hätte schwören können, sie hätten noch nie von dieser Sprache gehört. Natürlich schoben sie alles auf die Lehrerin die - was für ein Wunder - auch stellvertretende Schulleiterin war und keinen Beliebtheitsbonus von den Schülern hatte.
Ich legte brav meinen Füller zur Seite und reichte mein Blatt Joana, die die Mittelreihe einsammelte. Danach wandte ich mich sofort meiner Banknachbarin Toni zu, die ganz zufrieden mit sich aussah und ihre ungefähr geschätzt schulterlangen Haare hinter die Ohren schob.
»Wusstest du alle Wörter?«, fragte ich sie von der Seite. Ihre braunen Augen wanderten zu mir herüber und sie nickte leicht.
»Joa, das Zusatzwort war doch classmate, oder?«
Diesmal nickte ich bestätigend, denn das hatte ich auch bei dem Zusatzpunkt auf's Blatt gekritzelt und ich bemerkte, wie sie erleichtert ausatmete.
»Und was habt ihr bei dem Wort Fehler hingeschrieben?«, mischte sich Anton, ein Junge mit dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren und blass grünen Augen, in unser Gespräch mit ein und drehte sich von seiner Bank vor uns zu uns herum.
»Fail«, sagte Antonia und Anton fügte hinzu, dass er auch Fail hingeschrieben hatte.
»Euch ist aber schon bewusst, dass das faults heißt?« Ich sah die beiden mit skeptischem Blick an und es tat mir wirklich leid, dass ich ihre Laune ein Stockwerk hinunter jagte. Doch nach drei Sekunden ging es ihn wieder wie gerade eben und die beiden antworteten im Chor: »Egal.«
Ich zuckte nur mit den Schultern, schickte Anton an sich wieder umzudrehen und verfolgte weiter den Unterricht, der öfters mal von ein paar meiner äußerst tollen Mitschüler unterbrochen wurde.
Als dann zum Glück die Doppelstunde vorüber war - meine Lehrerin hatte Gott sei gesegnet eher Schluss gemacht -, packten wir unsere Sachen ein und begaben uns ins oberste Geschoss zum Chemiezimmer, da wir heute schon wieder Chemie hatten.
Chemie war zwar kein schlimmes Fach, aber ein Fach, welches man nicht zu oft haben musste und nach dieser Stunde war der Wochenbedarf danach definitiv abgedeckt.
Schweigsam stapfte ich mit Antonia an meiner Seiter die Treppen hinauf und schlürfte dann den Gang ganz oben bis fast zum Ende hinter, um dann vor verschlossener Tür zu warten. Wir gesellten uns zu dem der Tür gegenüberliegendem Fenster, auf dessen Fensterbrett wir unsere Ranzen hievten um unseren Rücken ein wenig Last abnahmen.
Der Rest unserer Klasse trudelte nur gemächlich ein, da viele sich Zeit ließen und sicher auch welche einen Abstecher zu den Toiletten gemacht hatten.
Gerade wollte ich mit Toni ein Gespräch anfangen, als die Chemiezimmertür schwungvoll aufschwang und die ersten Schüler sich hinaus retteten. Ich blickte wachsam in die vorbei strömende Menge und beobachtete die Neuntklässler, wie sie an uns vorbei liefen und uns keines Blickes würdigten, entspannt.
Plötzlich trat ein Junge den ich noch nie an dieser Schule gesehen hatte durch die Tür hindurch. Seine kurzen braunen Haare klebten leicht in seiner Stirn, während seine dunklen braunen Augen die meine fixierten. Ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden, denn irgendwie zog er mich magisch an, auch wenn es sich seltsam anfühlte, einem wildfremden so tief in die Augen zu schauen.
Mein Herzschlag beschleunigte und die Zeit war fast stehen geblieben, in der wir uns in die Augen sahen und unsere Blicke nicht abwandten. Dann jedoch rief mein Unterbewusstsein mich zurück aus meiner Trance und der Blickkontakt wurde grauenhaft abgebrochen.
Der Junge verschwand um die nächste Ecke und unzählige Fragen blubberten langsam in mein Gehirn, Fragen, die ich mir noch nie gestellt hatte und welche, die etwas komisches in mir los traten.
Nachdem das Chemiezimmer frei war, strömten wir herein und ließen uns auf unsere Plätze nieder. Ich packte meine Sachen aus und lümmelte auf meinem Platz herum, da ich gerade keine Lust hatte mich mit Toni draußen vor dem Fenster an die warme Heizung zu stellen - denn die ganzen Fragen in meinem Hirn wollten alle nacheinander beantwortet werden, auch wenn ich wahrscheinlich auf keine einzige eine Antwort parat hatte.
In Gedanken ließ ich den Moment, als wir beide uns in die Augen gesehen hatten, Revue passieren. Es war anders gewesen als wenn ich mit einem männlichen Wesen aus meiner Klasse Blickkontakt gehalten hatte. Es hatte irgendwas gesagt und ausgemacht, auch wenn ich mir das sicher nur einbildete.
Seine Augen waren einfach so dunkel gewesen, wie ich es noch nie zuvor in echt gesehen hatte, und - ich weiß, das sagen immer alle in Klischeebüchern und es klingt total unglaubwürdig -, aber ich hatte hinein sehen können, in seine Seele, in ihn hinein und es hatte sich so angefühlt als würde er mir eine Tür öffnen. Eine Tür, die er nur für mich öffnete.
Das alles verwirrte mich dermaßen, dass meine Gedanken sich nur noch um diesen kurzen Augenblick drehten und mich völlig hippelig machten. Warum zum Henker konnte mich ein kleiner Blickwechsel so aus der Bahn werfen? Das war mir vorher noch nie passiert und ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, dass es so schnell passieren würde. Und überhaupt, warum konnten diese Gedanke so mein Hirn vernebeln, dass keine normalen, alltäglichen Überlegungen mehr darin Platz hatten?
Um mich auf andere Gedanken - auf sinnvollere - zu bringe, sah ich zur Uhr empor und stellte fest, dass es noch fünf Minuten Pause waren.
»Toni, wollen wir raus zur Heizung?«, fragte ich sie in gedämpfter Lautstärke und sagte das meiste mit meinen Augen, denn ich wusste, sie verstand mich auch so.
Auch wenn ich eigentlich gerade mich nicht an die Heizung stellen wollte, war es die einzige Möglichkeit wieder normal zu werden und über anderes Zeug nachzudenken.
Zum Glück nickte sie und wir beide packten zeitgleich unsere Flaschen, zogen sie aus den Seitentaschen unserer Ranzen heraus und verschwanden auf den breiten Flur vor der Zimmertür. Wir stellten uns dort hin, wo wir gerade eben auch gestanden hatten und lehnten uns an den wärmenden Heizkörper.
»Prost«, sagten wir gleichzeitig kichernd, als wir unsere Flaschen gegeneinander stießen und dann ein paar große Schlucke nahmen - da man im Chemiezimmer nur mit der Erlaubnis eines Lehrers oder einer Lehrerin trinken durfte, taten wir es immer auf dem Gang.
Plötzlich trat Trixie ebenfalls auf den Gang heraus und kam ungebeten zu uns hinüber, ließ sich neben Antonia und mir an der tollen Heizung nieder und nahm auch ein paar Schlucke aus ihrer Flasche.
Meine Freundin und ich warfen uns einen alles sagenden Blick zu und mehr benötigte es auch nicht. Innerlich betete ich, dass sie nicht wieder ihren legendären Spruch raus haute, der mir wie schon gesagt tierisch auf die Nerven ging und mich zum durchdrehen beförderte.
»Wie geht's?«, fragte sie zu ihrem Glück, was trotzdem genauso nervig war, da sie überhaupt etwas gefragt hatte.
Ich versuchte nicht die Augen zu verdrehen und entgegnete lieber mal nichts, denn das übernahm schon die ebenfalls genervte Antonia: »Wo ist denn Sophie geblieben? War sie gestern nicht noch in der Schule?«
Das war zwar keine Antwort sondern eine Gegenfrage, aber mehr konnte Trixie nicht erwarten.
»Sie hat mir geschrieben, dass sie krank ist.«
»Nice«, rutschte es mir heraus, schnell kaschierte ich es noch mit einem lauten Huster und verbesserte mich eilig: »Ähm, gaaaanz schlimm. Sie wird hoffentlich schnell wieder gesund?«
Ehe irgendjemand der beiden darauf etwas hätte erwidern können, kam unsere Chemielehrerin - die zufälligerweise auch Biologie bei uns unterrichtete und unsere stellvertretende Klassenleiterin war - zu uns und orderte uns ins Zimmer.
Wir gehorchten und liefen zurück zu unseren Plätzen, dann wurde die Tür geschlossen, das Stundenklingen ertönte und die Stunde begann.
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