Von Currybrötchen und Baseball
Der nächste Tag begann für Hinata eigentlich ganz normal, so wie jeder Schultag. Er war am gestrigen Tag früh schlafen gegangen und trotzdem erst mit dem regulären Weckerklingeln aufgewacht. Er musste echt erschöpft gewesen sein, auch wenn er sich beim Training nicht wahnsinnig verausgabt hatte. Nachdem er zusammen mit seiner Mutter und Natsu sein Frühstück zu sich genommen hatte, begab er sich auf den Weg zur Schule. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, aber wenigstens regnete es nicht mehr.
In der Schule angekommen hatte er vor ihrer ersten Unterrichtsstunde noch Zeit sich wegen seinen ungemachten Hausaufgaben an Takahiro zu wenden, einen seiner Mitschüler, der in den meisten Fächern eine Bank vor ihm saß. Takahiro war nur wenige Zentimeter größer als er, trug eine Brille und engagierte sich im Kalligraphieclub der Schule. Sie hatten sich hin und wieder in den Pausen über ihre Clubaktivitäten ausgetauscht, daher wusste er Bescheid. Sein älterer Bruder war Student und beschäftigte sich viel mit japanischer Geschichte, daher war Takahiro selbst immer ein guter Ansprechpartner, wenn jemand aus der Klasse Probleme mit dem Stoff hatte.
"Danke, dass du mich wieder abschreiben lässt.", sagte Hinata mit einem strahlenden Lächeln, als er sich aus Takahiros Schulhelft ein paar kritzelige Notizen machte.
"Du hast eine Sauklaue.", erwiderte der nur kühl, musste aber trotzdem lächeln. Hinata musste sich beeilen, da ihr Lehrer es nicht gerne sah, wenn Schüler voneinander abschrieben, anstatt sich den Stoff selbst anzueignen. Es war ja nicht so, als ob Hinata sich nicht für die Geschichte seines Landes interessierte, aber leider war Herr Matsuoka einer dieser Lehrer, die es schafften, selbst die interessantesten Themen so schrecklich langweilig darzustellen, dass man schon nach der Hälfte der Stunde keine Lust mehr hatte, vorausgesetzt man hatte überhaupt je Lust gehabt.
So verlief dann auch der eigentliche Unterricht. Normalerweise war jetzt der "richtige" Zeitpunkt um sich ein bisschen auszuruhen und vor sich hinzuträumen, aber müde war Hinata nicht. Stattdessen spielte er den gestrigen Tag immer wieder in seinem Kopf durch, wie ein Videoplayer in Dauerschleife. Wie es Kageyama jetzt wohl gerade ging? Bestimmt hatte er sich krankschreiben lassen, wenn er nicht ganz verrückt war und den Anweisungen der Schulkrankenschwester Folge geleistet hatte. Selbst wenn er in der Schule erschien, würde er sicher nicht am Volleyballtraining teilnehmen dürfen und da war es vielleicht sinnvoller für ihn gleich zu Hause zu bleiben.
Da Hinatas Neugier hundertmal größer war, als sein Interesse am Geschichtsunterricht, kramte er irgendwann sein Handy aus der Tasche und schaute unter seinem Tisch, damit der Lehrer es nicht merkte, ob Kageyama ihm schon zurückgeschrieben hatte. Er hatte ihn ja extra dazu aufgefordert, ihm noch einmal Bescheid zu geben. Wie er schon erwartet hatte, war jedoch keine Nachricht von ihm angekommen.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm seine Vermutung. Um die Zeit war es wahrscheinlich, dass er noch im Bett lag. Hinata entschied sich dafür ihm noch eine Nachricht zu schreiben, für den Fall, dass er die letzte überlesen hatte. Er kam sich ein bisschen wie ein Stalker vor, aber er machte sich einfach Sorgen um seinen Freund und er würde wohl nicht zur Ruhe kommen, bis er eine Rückmeldung erhalten hatte, auch wenn es nur ein böser Smiley oder ein Schimpfwort war.
-"Morgen :)) Geht's dir gut? Meld dich mal. LG"-
Er hatte die Nachricht gerade abgeschickt, als Herr Matsuoka seine Runde machte, um die Hausaufgaben zu kontrollieren. Hastig ließ Hinata das Handy in seine geöffnete Schultasche fallen und tat so, als ob er sich gerade mit seinem Lehrbuch beschäftigte, auch wenn es für Außenstehende vielleicht eher so aussah, als ob er den Buchkleber inhalierte. Er würde später noch einmal auf sein Handy schauen und wer weiß, vielleicht war ja wirklich alles in Ordnung und Kageyama würde bald wieder fit genug sein, um Volleyball spielen zu können. Er wünschte es ihm auf jeden Fall.
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Die Unterrichtsstunden zogen sich wie Kaugummi und auch um die Mittagszeit hatte Kageyama ihm noch nicht geantwortet. Aufgebracht und fast schon ein wenig verzweifelt drehte Hinata seine Kreise auf dem Schulhof. Sonst saß er jetzt immer mit seinen Freunden aus der Klasse, oder eben mit Kageyama, beim Essen, aber heute hatte er merkwürdigerweise nur die Hälfte seines Bentos herunterbekommen und den Rest für später einpacken müssen.
Das war doch wirklich ärgerlich, wie Kageyama ihn ignorierte. Er erwartete ja nicht, dass er ihm einen Roman schrieb, aber wenigstens ein kurzes Lebenszeichen, damit er die Sache für sich abschließen konnte. Erwartete er vielleicht zu viel von ihm? Immerhin ging es hier um Kageyama, der keine Probleme damit hatte, Leuten die kalte Schulter zu zeigen. Vielleicht zeigte er ja auch nur ihm die kalte Schulter, weil er eigentlich total genervt von ihm war.
Traurig aufseufzend packte Hinata mit dem Läuten der Schulklingel seine Sachen zusammen und begab sich wieder auf den Weg zurück in seinen Klassenraum. Noch zwei Stunden Unterricht und dann hatte er es geschafft und konnte endlich wieder zum Volleyballtraining und seinen Frust an Bällen auslassen. Auch, wenn es ohne Kageyama nicht dasselbe war.
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"Du bist heute total unkonzentriert, was ist denn los mit dir? Schlecht geschlafen?", fragte Tanaka ihn beim Training, nachdem er schon seinen dritten Aufschlag in Folge ins Netz gehauen hatte. Hinata hatte gehofft, dass das Volleyballtraining ihn aufheitern würde, aber immer wenn er das Netz vor sich sah, stellte er sich vor, wie Kageyama an einer Seite stand und nur drauf wartete, ihm einen seiner unmenschlich präzisen Bälle zuzuspielen. Und dann erinnerte er sich daran, dass Kageyama erstens nicht da war, zweitens ihn ignorierte und drittens höchstwahrscheinlich auch nichts von ihm wissen wollte und dann spürte er so einen Stich in seinem Inneren, dass ihm sogar die Lust auf Volleyball verging. So ähnlich hatte er sich auch nach ihrem schlimmen Streit gefühlt, und danach hatten sie auch mehrere Tage nicht mehr miteinander gesprochen. Aber das hatte zumindest direkt etwas mit Volleyball zu tun gehabt.
"Es ist wegen Kageyama, oder?", hatte Sugawara, der auf die beiden zuging, einmal wieder den richtigen Riecher und Hinata nickte, da es keinen Sinn machte, es jetzt noch abzustreiten. Seit dem letzten Abend drehten sich seine Gedanken nur noch um ihn und es kam ihm fast schon ungesund vor. Seine Mitspieler hatten leider auch nur über ein paar Ecken mitbekommen, dass Kageyama am heutigen Tag vom Unterricht ferngeblieben war, aber sonst hatten sie auch keine weiteren Informationen.
"Du machst dir Sorgen, weil er gestern ohnmächtig geworden ist, hab ich Recht?", fragte Suga einfühlsam und Hinata verzog das Gesicht zu einem Schmollmund wobei er einen der Volleybälle zwischen seinen Handflächen zusammendrückte. Natürlich machte er sich Sorgen, aber in erster Linie ärgerte er sich darüber, dass Kageyama ihn einfach so ignorierte. Sonst war er doch auch immer ehrlich und sagte ihm, wenn ihm etwas nicht passte. Warum konnte er das jetzt nicht auch so machen?
"Ich kann ja verstehen, dass dich das mitnimmt, aber gerade gibt es nicht wirklich viel, was du tun kannst. Unfälle passieren im Sport und ich bin mir sicher, dass er bald wieder auf die Beine kommt.", redete Sugawara auf ihn ein und auch der Rest seiner Mitspieler gab ihrem Vizekapitän Recht. Nur Asahi und Tsukishima hielten sich aus den Gesprächen heraus, auch wenn Hinata keinem von ihnen die Schuld an dem Unfall geben würde und auch nicht sauer auf sie war. Gerade Asahi war immer so rücksichtsvoll und für seinen starken Aufschlag musste er sich nun wirklich nicht entschuldigen.
"Lass uns noch ein paar Angriffsschläge trainieren.", forderte ihn Sugawara gegen Ende des Trainings auf, nachdem das Annahmetraining mit Nishinoya leider nicht so gut geklappt hatte, "Ich kann dir zwar deinen Kageyama nicht ersetzen, aber es schadet auch nicht, wenn wir auch mal ein paar "normale" Angriffe üben." Seinen letzten Satz unterstrich der Drittklässler mit einem breiten Zahnpastalächeln und Hinata kam sich ein wenig seltsam vor. "Seinen" Kageyama, so etwas sagte man doch normalerweise nur über Liebespaare. Aber Sugawara hatte es bestimmt anders gemeint.
Nachdem sie ihr Training beendet hatten und Hinata durch das Angriffstraining mit Sugawara, seine kleine "Depriphase" überwunden hatte, schien die Welt schon nicht mehr ganz so schrecklich auszusehen. Unglaublich, wie schnell sich seine Laune verbesserte, wenn er nur ein paar Bälle schlagen durfte. Kageyama durfte das gerade nicht und vielleicht war er ja deshalb so abweisend und wollte nicht mit ihm kommunizieren. So schnell wie er einen auf beleidigte Leberwurst machte, war das gar nicht so unwahrscheinlich.
Nachdem sich Hinata umgezogen und von seinen Mitspielern verabschiedet hatte, fasste er einen Entschluss. Er würde Kageyama zu Hause besuchen und ihm eine Freude machen, damit er sich nicht mehr so schlecht fühlte und an seinem Volleyballentzug zugrunde ging. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, worüber sich Kageyama wohl am meisten freuen würde.
Leise vor sich hersummend spazierte Hinata über die Straße, bis er wie immer auf seinem Heimweg am Sakanoshita Laden vorbeikam, der zu dem Zeitpunkt von einem Verwandten von Ukai übernommen wurde. Seitdem letzterer den Volleyballclub trainierte, übernahm er nur noch die Nachtschichten und war kaum noch im Laden anzutreffen. Schon, als Hinata das Schild erblickte, ging ihm ein Licht auf. Jetzt wusste er, was er Kageyama mitbringen würde. Wenn es außerhalb von Volleyball etwas gab, womit man Kageyama glücklich machen konnte, dann war das Essen.
Gleich, nachdem er den Laden betreten hatte, steuerte Hinata ein Regal mit diversen Backwaren an. Heute war ausnahmsweise einmal nicht alles ausverkauft und die Sachen sahen auch alle noch essbar aus. Kurzerhand schnappte er sich eine Papiertüte und packte ein Currybrötchen ein. Kageyama liebte alles, was mit Curry zu tun hatte und die Brötchen waren immer sehr begehrt. Nach kurzem Überlegen packte er auch noch ein zweites und ein drittes Brötchen ein und auf dem Weg zur Kasse strahlte ihn noch eine Packung Gun Gun Milch an, die er auch unbedingt noch einpacken musste. Hinata war äußerst froh darüber, dass er heute genug Geld mitgenommen hatte.
Die große Tüte in seinen Armen balancierend machte er sich auf den Weg zu Kageyamas Zuhause, den er mittlerweile schon fast komplett auswendig konnte. Er wollte sich seinem Mitspieler nicht aufdrängen und ihm auf die Nerven gehen, aber zumindest die Tüte wollte er ihm geben und sich nach seinem Wohlbefinden erkundigen. Es dauerte nicht lange, bis er vor der richtigen Haustür stand und den Klingelknopf betätigte, während er die Tüte mit den Fressalien in den Armen hielt wie einen Blumenstrauß.
Wie er schon erwartet hatte, war es nicht Kageyama selbst, der ihm nach ein paar Sekunden die Tür öffnete, sondern eine ältere Frau mit tieschwarzen, zurückgebundenen Haaren und müde wirkenden Augen. Hinata kannte Kageyamas Eltern schon von früheren Besuchen, aber heute wirkte die Mutter seines Volleyballpartner anders als sonst. Die dunklen Augenringe sprachen wirklich Bände.
"Guten Tag, ich würde gerne mit Kag- ich meine mit Tobio sprechen. Ich hab ihm was mitgebracht.", stammelte er und ärgerte sich darüber, dass er immer noch so nervös wurde, wenn er Kageyama bei seinem Vornamen nannte. Es war doch nur ein Name und Tobio hieß nun einmal Tobio.
Kageyamas Mutter blinzelte ein paar mal und gab dann ein leises Seufzen von sich.
"Lieb von dir, dass du dich extra auf den Weg gemacht hast, aber Tobio ist nicht mehr hier.", sagte sie mit sanfter Stimme und einem erzwungenen Lächeln. Jetzt verstand Hinata überhaupt nichts mehr. War Kageyama etwa abgehauen? Vielleicht um heimlich zu trainieren, weil ihm die Decke auf den Kopf gefallen war?
"Wo ist er denn, wenn er nicht hier ist?", fragte Hinata und wunderte sich über die vage Aussage. Er hatte da schon so eine Vorahnung, und die gefiel ihm gar nicht.
"Ach...als wir gestern Abend nach Hause gekommen sind, haben wir unserem armen Tobio auf dem Sofa vorgefunden. Er hat die ganze Zeit über Kopfschmerzen geklagt und ich musste ihm die Aspirin geradezu aus der Hand reißen, weil er die doch immer so schlecht verträgt.", erklärte Kageyamas Mutter ihm die Situation, bevor Hinata seine eigenen Theorien aufstellen konnte, "Als er dann in sein Zimmer wollte, ist er auf dem Weg immer wieder umgekippt und hat sich übergeben müssen und da hat mein Mann dann den Krankenwagen gerufen."
Hinata brauchte eine Weile, bis er die Worte verarbeitet hatte und sie in seinem Bewusstsein angekommen waren. Kageyama war also im Krankenhaus? Besorgt umklammerte er die Tüte in seinen Händen noch fester und biss sich auf die Lippe. Dann war es doch schlimmer um ihn bestellt, als er gedacht hatte. So ein Mist..
"Die Ärzte meinten, Verdacht auf Gehirnerschütterung. Tobio hat noch etwas von einem Volleyballunfall erzählt, aber sonst hat er gestern nur wirres Zeug geredet.", fuhr Kageyamas Mutter fort und Hinata merkte, wie er immer weiter in sich zusammensank. Kageyama lag mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus und konnte vielleicht über lange Zeit kein Volleyball mehr spielen und er regte sich darüber auf, dass er ihm nicht auf dem Handy antwortete.
"Ich war heute vormittag schon im Krankenhaus und es scheint ihm zum Glück schon wieder besser zu gehen.", sagte Kageyamas Mutter und lächelte Hinata noch einmal aufmunternd an, "Er würde sich bestimmt freuen, wenn du ihn besuchen kommst. Ihr seid doch immerhin beste Freunde." Hinata zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln und versprach, genau das auch zu tun. Er hatte ja sowieso vorgehabt, Kageyama zu besuchen und ob das jetzt zu Hause oder im Krankenhaus war, machte jetzt keinen so großen Unterschied mehr. Zumindest war er froh, dass sein Freund gerade nicht im Sterben lag und fit genug war, um Besuch zu empfangen. Trotzdem tat es ihm weh, dass dieser blöde Unfall scheinbar solche Auswirkungen gehabt hatte.
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Die Flure der hiesigen Klinik waren weiß und steril, überall stank es nach Desinfikationsmittel und Hinata hatte schon beim Betreten des Gebäudes das Gefühl gehabt, hier nicht hinzugehören. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte mal in einem Krankenhaus gewesen war. Vielleicht, als seine Schwester geboren wurde aber selbst das war schon mehrere Jahre her und er war selbst noch so jung gewesen, dass er sich nur noch vage daran erinnern konnte. Es war hektisch und unübersichtlich, Schwestern in weißen und himmelblauen Kitteln liefen von einem Zimmer zum nächsten und wann immer Hinata einer krank aussehenden Person begegnete, wich er gleich um ein paar Meter aus. Wie konnte es Kageyama hier bloß aushalten, wenn er schon nach ein paar Minuten das Gefühl hatte, den Verstand zu verlieren?
Als er schließlich vor der Tür mit der richtigen Zimmernummer stand, brauchte er eine Weile, bis er sich traute, anzuklopfen. Aber auch dann bekam er keine Antwort. Also entweder war er doch im falschen Flur gelandet oder Kageyama ignorierte ihn schon wieder. Oder er war eingeschlafen, das konnte natürlich auch sein. Jetzt, wo Hinata den weiten Weg auf sich genommen hatte, wollte er aber auch nicht einfach wieder umkehren, also nahm er seinen Mut zusammen und öffnete die Tür so langsam und so leise, wie es ihm möglich war. Also wahrscheinlich immer noch viel zu laut, aber er gab sich wenigstens Mühe.
Nachdem er das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, stellte sich daraus, dass er tatsächlich richtig war. Im ersten Bett lag beziehungsweise saß tatsächlich niemand anderes als sein Freund und Teamkollege Kageyama, mit einem Kopfhörer im Ohr und einer Zeitschrift, die über seinem Schoß ausgebreitet war. Auch, wenn Kageyamas Mutter schon erwähnt hatte, dass es ihrem Sohn wieder besser ging, war Hinata trotzdem überrascht, dass Kageyama gar nicht wie ein Sterbenskranker aussah. Im Gegenteil, er hatte den gleichen mürrischen Gesichtsausdruck aufgesetzt, für den er schon im Volleyballclub bekannt war und konzentrierte sich wohl gerade auf den Inhalt seiner Zeitschrift.
"Hey, Kageyama!", begrüßte Hinata ihn freudig und konnte im nächsten Moment sehen, wie der Angesprochene sich erschrocken zu ihm umdrehte und verwirrt den Kopf schief legte. Hinata wollte sich schon Sorgen machen, als Kageyamas Augen plötzlich aufleuchteten und sich seine ganze Körperhaltung veränderte. Er lächelte nicht aber er runzelte auch nicht mehr die Stirn. In Kageyama-Sprache war das so ähnlich, als würde er ihm mit Anlauf in die Arme springen und Hinatas Herz machte bei dem Gedanken einen Hüpfer. Kageyama ging es also gut und er freute sich ihn zu sehen. Noch besser hätte der Tag nicht ausgehen können.
"Ich wollte mal schauen, ob du noch lebst, Schlaffiyama.", witzelte Hinata um seine plötzliche Aufregung zu überspielen und nahm auf dem Stuhl neben Kageyamas Bett Platz, der nur minimal bequemer war, als der Klappstuhl im Schulkrankenzimmer, aber er tat seinen Zweck. Kageyama drehte sich zu ihm um und schenkte ihm seine ganze Aufmerksamkeit, als wäre er die einzige Person im ganzen Universum.
"Woher weißt du, dass ich hier bin?", fragte er mit rauer Stimme und klang schon wieder fast wie der Alte. Hinata erzählte ihm von seinem Versuch, ihn zu erreichen und auch davon, wie Kageyamas Mutter ihm gesagt hatte, dass sie ihn ins Krankenhaus gebracht hatten. Ein paar Details ließ er natürlich aus, aber sonst erzählte er ihm alles, was ihm auf dem Herzen lag und Kageyama hörte ihm geduldig zu. Als Hinata sein Gegenüber genauer unter die Lupe nahm, fiel ihm auf, dass man von dem Unfall rein äußerlich nur noch einen kleinen roten Fleck sehen konnte, der Kageyamas Stirn zierte. Von der Schwellung war zum Glück nichts mehr zu sehen.
"Ich hab deine Nachrichten gelesen.", sagte Kageyama schließlich mit ausdrucksloser Stimme und Hinata hob überrascht beide Augenbrauen, "Ich wollte dir zurückschreiben, aber dann hab ich es nicht mehr geschafft und hier drin ist kein Handyempfang." Jetzt verstand Hinata, warum er sich nicht gemeldet hatte. Er hatte ihn gar nicht ignoriert, er hatte schlicht und einfach keine Möglichkeit dazu gehabt, ihm zu schreiben. Und er hatte sich die ganze Zeit darüber den Kopf zerbrochen. Alles völlig umsonst. Ein bisschen albern kam er sich ja schon vor. Wie ein Stalker...
"Wie geht's dir jetzt eigentlich? Hast du immer noch Kopfschmerzen?", fragte Hinata schließlich und versuchte sich nicht von dem lauten Husten des sehr alten Mannes hinter ihm irritieren zu lassen, der allen Anschein nach die Ehre hatte, Kageyamas Zimmergenosse zu sein. Zumindest wusste Hinata jetzt, dass er noch lebte.
"Es geht schon. Die Ärzte meinten ich hätte wohl ein geschütteltes Gehirn oder sowas. Ein paar Tage wollen sie mich hierbehalten und dann muss ich mich schonen.", murrte Kageyama und hatte wieder seinen finsteren Blick aufgesetzt. Hinata konnte verstehen, dass ihm das nicht gefiel. Allein die Vorstellung für nur einen Tag ans Bett gefesselt zu sein, war für ihn wie eine Szene aus einem schrecklichen Horrorfilm. Ein Blick auf die Infusionsnadel in Kageyamas linkem Arm bekräftigte seine Annahme bloß noch. Das sah wirklich alles andere als angenehm aus.
"Ich hab dir was mitgebracht. Als Trost.", meinte Hinata und holte eins von den Currybrötchen aus der Tüte, um es Kageyama anzubieten, "Ich weiß zwar nicht, ob du das überhaupt essen-" Er hatte seinen Satz noch nicht einmal in Gedanken beendet, als Kageyama große Augen bekam, ihm das Brötchen regelrecht aus der Hand riss und sofort einen großen Bissen davon nahm.
"-darfst.", beendete Hinata seinen Halbsatz und schaute Kageyama entgeistert dabei zu, wie der unbehelligt den Brötchenteig durchkaute und ihn aus großen, unschuldigen Augen ansah, bevor er die Stirn runzelte und wieder sein Schmollen aufsetzte.
"Was guckst du so?", fragte er mit vollem Mund, "Das Krankenhausessen schmeckt wie alte Schuhsohle." Irgendwie erinnerte er Hinata in dem Moment an einen Hamster und die Vorstellung, wie sein Gegenüber als Hamster aussehen würde, war so verdammt komisch, dass er in einen Lachanfall ausbrach und dabei fast erstickte. Zum Glück war er schon in einem Krankenhaus, da konnte nicht mehr viel schiefgehen.
"Hey, mach dich gefälligst nicht über mich lustig, du Idiot!", beschwerte sich Kageyama immer noch mit vollen Backen aber das führte nur dazu, dass Hinata noch mehr lachen musste. Die ganze Anspannung, die er seit dem gestrigen Ereignis mit sich herumgetragen hatte, war mit einem mal verschwunden. Kageyama ging es gut und er hatte dank ihm endlich etwas Vernüftiges zu essen.
"Was machst du hier eigentlich den ganzen Tag, außer rumzuliegen?", fragte Hinata nachdem er sich einigermaßen beruhigt und Kageyama sein Brötchen aufgegessen hatte. Eigentlich wollte er die Zeitschrift auf dem Bett seines Freundes ansprechen, aber bei dem Titel "Stricken & Häkeln für den Winter" konnte er sich nicht so recht vorstellen, dass Kageyama den Inhalt überhaupt ernst nahm, zudem er gerade eine Doppelseite mit Werbeanzeigen für Schokoeis aufgeschlagen hatte.
"Fernsehen gucken.", antworte Kageyama schließlich und zeigte mit dem Finger auf einen kleinen Fernseher über seinem Bett, auf dem, wer hätte es gedacht, ein Sportsender lief. Den Ton hörte er augenscheinlich über seine Kopfhörer.
"Woah...! Ich wusste gar nicht, dass du dich für Baseball interessierst.", merkte Hinata an, als er einen genaueren Blick auf die Sendung warf, bei der gerade ein Spiel der Profiligen ausgetragen wurde. Die Golden Eagles aus Sendai kannte er sogar noch, von denen hatte er sich früher auch ein paar Spiele angesehen, eins davon sogar live.
"Ich hab keine Ahnung von Baseball, aber es ist der einzige Sender auf dem was anderes kommt, als der Wetterbericht.", gab Kageyama zu und stützte sein Kinn auf einer Hand ab, während er mit den Augen die Bewegungen der Spieler verfolgte, "Der da zum Beispiel! Was zur Hölle macht der mit dem Schläger? Will der dem Typen hinter ihm eins auf die Rübe hauen, wenn er den Ball nicht fängt oder was soll das?" Hinata musste bei seiner Erklärung lachen, weil Kageyama es so trocken herüberbrachte, als ob es ganz selbstverständlich wäre sich beim Sport mit Schlägern zu verprügeln.
"Nein, das ist der Batter.", sagte er, aber natürlich reichte das als Erkärung nicht aus.
"Häh? Was für ein Bettler?", fragte Kageyama und Hinata konnte tausend Fragezeichen in seinem Gesicht sehen. Jetzt fragte er sich ernsthaft, ob Kageyama über Nacht einen Sinn für Sarkasmus entwickelt hatte, oder ob er wirklich so wenig von Baseball verstand. Also versuchte er ihm lang und breit zu erklären, worum es beim Baseball eigentlich ging, warum der Typ im Fernsehen einen Schläger hatte und wie man bei der Sportart überhaupt punktete. Hinata war grottenschlecht im Erklären, aber nachdem er ein paar Vergleiche zum Brennball aufgestellt hatte, schien Kageyama die ganze Sache etwas geläufiger zu sein. Brennball kannten sie immerhin aus dem Sportunterricht.
"Mir wäre das zu langweilig.", gab Kageyama schließlich sein Fazit ab und lehnte sich in seinem Kissen zurück, "Es gibt keine Sportart, die schöner ist, als Volleyball." Bei letzterem musste Hinata seinem Freund recht geben. Volleyball war einfach das Coolste von allem, obwohl andere Sportarten auch einen gewissen Reiz hatten.
"Woher weißt du eigentlich so viel über Baseball?" fragte Kageyama ihn, nachdem sie das Spiel zwecks Mangel an anderen Beschäftigungsmöglichkeiten noch eine Weile verfolgt hatten, "Sonst hast du doch keine Ahnung von irgendwas, warum ausgerechnet Baseball?" Hinata entschied sich, die Beleidigung zu überhören. In Krankenhäusern war es sicher nicht angebracht, sich wegen so etwas zu streiten und er kannte sich und Kageyama gut genug um zu wissen, dass Streitereien zwischen ihnen schnell eskalierten. Kageyama musste sich schonen, da ging so etwas nicht.
"Ich hab in der Grundschule Baseball gespielt.", antwortete er schließlich und war schon ein bisschen stolz auf sich, "Aber ehrlich gesagt, konnte ich mich damals noch nicht so richtig für eine Sportart entscheiden. Ich hab auch gerne Fußball gespielt und Basketball fand ich auch ganz toll, aber da waren leider immer alle besser als ich."
"Wahrscheinlich, weil du einfach zu klein dafür warst.", meinte Kageyama trocken und jetzt war es Hinata, der einen übertriebenen Schmollmund zog.
"Jedenfalls hab ich mich dann an der Mittelschule für Volleyball entschieden und hab meine Entscheidung nie bereut.", sagte er selbstsicher, streckte seine Brust raus und verschränkte die Arme davor. Es war ihm egal, ob es kindisch aussah, oder nicht.
"Ich hab Volleyball seit der Grundschule gespielt.", sagte Kageyama und Hinata wunderte sich kein bisschen darüber. In Kageyamas Kopf gab es quasi nur Volleyball.
"Aber so richtig Spaß gemacht hat es mir erst wieder auf der Oberschule.", fuhr er fort und Hinata musste nicht lange überlegen, um zu verstehen, wie es gemeint war. Er konnte sich noch gut an ihr erstes Spiel gegeneinander erinnern. Auf der Mittelschule hatte sich Kageyama wie ein egoistischer Diktator verhalten und einen Großteil der Spielzeit damit verbracht, seine Mitspieler zur Schnecke zu machen. Natürlich machte das keinen Spaß und war bestimmt auch schlecht für die Stimmbänder. Zudem seine Teamkameraden auch irgendwann die Schnauze voll davon hatten, und ihn fallen gelassen haben.
"Seit ich mit dir zusammenspiele, macht es mir wieder Spaß.", sagte Kageyama mit leiser Stimme, während der sich alte Mann im Hintergrund scheinbar gerade den halben Lungenflügel raushustete und Hinata sich darum fragte, ob er sich verhört hatte. Er wollte nachfragen, wie Kageyama das gemeint hatte, doch der fand scheinbar plötzlich die Eiswerbung in seinem Strickmagazin spannender als ihre Unterhaltung. Ein leichter Rotschimmer lag auf seinen sonst eher blassen Wangen und Hinata fragte sich, warum ihn diese Worte so verrückt machen. Es ging ihm doch nur um Volleyball und nicht um ihn. Kageyama sah jede Person in Relation zu Volleyball, da gab es nichts anderes. Warum musste er so viel in diese eine Aussage hineininterpretieren?
"Ich glaub, ich muss dann auch langsam mal nach Hause.", sagte Hinata, als ihm die Situation und das Schweigen zwischen ihnen unangenehm wurde und er das Gefühl hatte, einfach nur wegzuwollen. In letzter Zeit hatte er ständig so merkwürdige Stimmungsschwankungen und so gut wie immer hatten sie etwas mit Kageyama zu tun. Der schaute ihn nur mit einem Blick an, den man fast schon als "enttäuscht" interpretieren konnte, aber Hinata hatte nicht gelogen. Es war tatsächlich schon spät und seine Mutter und Natsu machten sich bestimmt Sorgen um ihn.
"Kommst du morgen wieder?", fragte er ihn, als Hinata schon auf dem Weg zur Tür war und zwang ihn somit dazu, sich noch einmal umzudrehen. So, wie Kageyama ihn ansah, hatte er fast schon etwas Verletzliches an sich, aber das lag bestimmt einfach an der tristen Krankenhausatmosphäre, die jede noch stolze Person wirken ließ, wie ein Häufchen Elend. Er freute sich darauf, endlich dieses Gebäude zu verlassen. Trotzdem nickte er und winkte seinem Freund noch einmal zu, bis er sich tatsächlich dazu zwingen musste, die Tür hinter sich zu schließen und auf dem schnellsten Weg ins Freie zu flüchten.
Natürlich war es draußen bereits dunkel, er hatte um die Zeit aber auch nichts anderes erwartet. Im Dunkeln hatte das Klinikgebäude etwas Mystisches an sich, mit seinen kleinen Fenstern, die fast alle von gleißendem Licht aus den Krankenzimmern erstrahlt wurden. Mit einem Seufzen schwang sich Hinata auf sein Fahrrad und ließ seine Gedanken schweifen. In letzter Zeit fühlte er sich in Kageyamas Nähe immer seltsamer, auch wenn nichts Großartiges zwischen ihnen vorgefallen war. Den einen Moment fühlte er sich wohl in seiner Nähe, dann war er wieder nervös und angespannt und wenn sie getrennt waren, dachte er auch ständig nur an ihn. Langsam fragte er sich wirklich, wer von beiden hier ein geschütteltes Gehirn hatte.
Aber eine Sache war bemerkenswert. Obwohl Kageyama und er sonst fast nur auf dem Platz kommunizierten und sich auch dort oft in die Haare bekamen, hatten sie sich heute ganz friedlich miteinander unterhalten und sich nicht gestritten. Vielleicht hatte der Unfall doch etwas in ihnen verändert. Bei dem bloßen Gedanken bekam Hinata schon Kopfschmerzen, also beließ er es dabei. Er würde Kageyama am nächsten Tag auch wieder besuchen kommen und wenn sie irgendwann wieder zusammen auf dem Platz standen, konnten sich ihre Gegner auf etwas gefasst machen.
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