Kapitel 36
Den ganzen Weg zum Krankenhaus verbrachten wir schweigend. Selbst Javier, die immer wenigstens ein Lächeln auf den Lippen trug, saß mit Schock ins Gesicht geschrieben auf dem Beifahrersitz. Oh, wie sie geschrien und geweint hatte, nachdem Hicks in deren Schlafzimmer gegangen war, um die beiden zu wecken und ihnen die Nachricht zu überbringen. Grobian hatte sie zwar etwas beruhigt, aber war genauso schockiert, wie wir alle. Deshalb haben wir jetzt fast zwei Stunden gebraucht, um zum Krankenhaus zu kommen.
Hicks hielt die ganze Zeit meine Hand fest, als wäre ich eine Rettungsleine. Wahrscheinlich war ich das in dem Moment auch. Ich konnte mir nicht vorstellen wie das war nach über sechs Jahren den Anruf zu erhalten, auf den man schon lange nicht mehr gehofft hat. Was in Hicks' Kopf gerade für ein Chaos sein musste, es ließ mein Herz schmerzen. Ich wünschte, ich könnte ihm das irgendwie erleichtern, aber seine Emotionen konnte ich ihm leider nicht mildern. Ich konnte nur bei ihm bleiben und seine Hand halten, wenn er es wollte.
Grobian parkte und wir stiegen aus. Sobald ich um das Auto rum war, nahm Hicks sofort wieder meine Hand. Keiner von uns sprach ein Wort. Selbst an der Rezeption nicht, wo Dr. Miller auf uns wartete. Er nickte uns nur zur Begrüßung zu und lief voran. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in die 5. Etage, liefen zu Station A und B in absolutem Schweigen. Hicks' Mutter war wohl noch in demselben Raum. Die Tür war geschlossen und davor drehte sich Dr. Miller zu uns um.
»Sie hat nach dir gefragt, Hicks. Du solltest erst einmal alleine reingehen, ihr alles in Ruhe erklären«, sagte er sanft.
Er nickte. Dr. Miller verabschiedete sich und lief den Gang entlang, wo er am Ende um die Ecke bog. Grobian klopfte einmal auf Hicks' Schulter bevor er und Javier sich auf die Stühle setzten, die ein paar Meter entfernt standen.
Hicks drehte sich zu mir. Ich konnte die Angst und Unsicherheit in seinen Augen erkennen und wünschte mir umso mehr, dass ich ihm einen Teil der Last abnehmen könnte. Ich versuchte mich an einem Lächeln, welches hoffentlich aufmunternd aussah und presste einen Kuss auf seinen Handrücken. Danach drückte ich seine Hand einmal und ließ ihn los.
Er sah mich noch zwei Sekunden lang an, dann ging er zur Tür, klopfte und ging hinein. Grobian, Javier und ich blieben im Flur zurück und warteten.
❁
Hicks
Ich hätte Astrid am liebsten mit hineingenommen, hätte sie gerne als Anker bei mir gehabt, aber das wäre zu viel auf einmal für meine Mutter. Also ging ich alleine in das Zimmer, was ich seit sechs Jahren kannte, mit klopfendem Herzen und der Hoffnung, dass meine Mama noch diejenige war, an die ich mich erinnerte.
Sie saß auf einem der gepolsterten Stühle, auf denen ich immer gesessen hatte, wenn ich sie besuchen war, und schaute aus dem Fenster in den nebeligen Morgen. Ihre braunen Haare waren mittlerweile mit grauen Strähnen versehen und so lang gewachsen, dass sie ihr über den gesamten Rücken reichten. Sie waren gekämmt worden und man hatte ihr Anziehsachen gegeben, eine graue Jogginghose, eine weiße Strickjacke und helle Schlüpfschuhe.
Als sie die Tür sich schließen hörte, drehte sie ihren Kopf zu mir. Ihre Augen weiteten sich sofort, ihr Mund öffnete sich, als sie mich musterte und langsam mühevoll aufstand.
Ich wusste nicht, ob ich auf sie zurennen oder hier stehen bleiben sollte. Sie war eindeutig schockiert, wahrscheinlich weil ich mich in den letzten sechs Jahren so sehr verändert hatte, aber sie erkannte mich trotzdem als ihren Sohn. Das sah ich in ihren Augen, als sie mir wieder ins Gesicht schaute.
Es brauchte keine Worte, als sie ihre Arme ausstreckte. In drei großen Schritten war ich bei ihr und drückte sie so fest an mich, wie ich es mir erlaubte, und weinte in ihre Schulter. Sie lag wirklich nicht mehr im Bett, sie stand hier und hielt mich fest und atmete von selbst und weinte genauso wie ich. Sie war wach, sie war wach ...
Sie drückte sich soweit zurück, dass sie mich wieder ansehen konnte und nahm mein Gesicht in ihre Hände. »Sieh dich an, milaya moya. Du bist so groß und hast längere Haare. Sind das Bartstoppeln?« Ihre Stimme war heiser von dem Gerät, an dem sie so lange angeschlossen gewesen war, aber man konnte sie trotzdem verstehen.
Ich lachte auf, was zu einem halben Schluchzen wurde. »Ja, leider. Die hätten wirklich nicht mit der Pubertät kommen müssen.«
Das brachte sie zum Lachen. »Du hast immer noch deinen Sinn für Humor.« Sie musterte mein Gesicht, wodurch ihr Ausdruck noch trauriger wurde. »Oh, mein Liebling, es tut mir so leid. Alles, was passiert ist. Dein Vater, Antonia, ich ... Du musst so schrecklich gelitten haben.«
»Ich habe gelitten? Du hast sechs Jahre im Koma gelegen, Mama«, flüsterte ich und konnte die neue Welle an Tränen nicht unterdrücken.
Sie schüttelte ihren Kopf, ihre Daumen strichen über meine Wangen. »Aber du musstest damit leben. Du musstest weitermachen, zur Schule gehen, dich in einem neuen Haus mit neuen ...« Sie schluckte. »Sag mir, haben dich deine neuen Eltern gut behandelt?«
Sie hatten es ihr nicht gesagt. Sie dachte, ich wäre von anderen Leuten adoptiert worden ...
Jetzt schüttelte ich meinen Kopf. »Mama, ich lebe bei Grobian und Javier.« Ihr entkam ein Laut, der als Schluchzer durchgehen konnte. »Ich wurde der Familie nicht weggenommen. Sie waren alle immer da für mich. Sie werden jetzt auch für dich da sein.«
Sie drückte mich wieder an sich für eine kleine Weile, strich mir dabei durch die Haare. Danach setzten wir uns an den Tisch und ich erzählte ihr alles, was passiert war, seitdem ich damals im Krankenhaus aufgewacht war. Wie ich zuerst die Welt nicht verstanden habe und dann so wütend war, dass ich ein absoluter Albtraum für Grobian und Javier gewesen war. Wie ich Jack kennengelernt habe und wir seitdem beste Freunde waren. Ich erzählte ihr von meinen Hobbys, von Elsa, dann von Stacy und am Ende von Astrid. Es dauerte fast eine Stunde, in der eine Krankenschwester auch schon hineingeschaut hatte, ob alles in Ordnung sei. Am Ende saßen wir dort mit gequollenen, roten Augen, aufgeplustertem Gesicht und miteinander verwobenen Händen.
»Moy syn«, sagte sie leise. »Ich kann nicht in Worte fassen, wie stolz ich auf dich bin. Du bist so ein guter junger Mann, so aufrichtig und tolerant und intelligent. Ich liebe dich so sehr, milaya moya, und ich werde dich nie wieder alleine lassen. Das verspreche ich dir. Nie wieder.«
Ich lächelte sie an. »Ya tebya lyublyu.«
Wir wuschen unsere Gesichter am Waschbecken in dem kleinen Badezimmer, bevor ich die Zimmertür öffnete und Grobian und Javier zeigte, dass sie reinkommen konnten. Ich ging derweil in den Flur hinaus zu Astrid, die aufstand und zu mir kam. Bevor sie etwas sagen konnte, drückte ich sie an mich. Sie legte sofort ihre Arme um mich und hielt mich fest. Ich war so verdammt froh sie bei mir zu haben.
»Wie geht es ihr?«, fragte sie, nachdem sie ihren Kopf zurückgezogen hat.
»Wenn man an die Umstände denkt, finde ich ziemlich gut«, sagte ich mit einem Lächeln auf den Lippen. »Sie hat gefragt, ob ich dich ihr gleich vorstellen kann.«
»Das möchte sie?«
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. »Warum sollte sie nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es nur so früh nicht erwartet. Ich dachte, sie möchte sich erst wieder mit euch einleben, ihrer Familie.«
Meine Hände wanderten an ihre Wangen. »Du gehörst zu mir, also gehörst du auch zur Familie.« Das entlockte ihr ein Lächeln und auch wenn sie es versuchte zu verstecken, konnte ich die geröteten Wangen erkennen.
Nach ein paar Minuten gingen wir beide zusammen in den Raum. Javier saß weinend auf einem der Stühle, Grobian war neben ihr und beruhigte sie. Meine Mutter bemerkte uns, ließ Javiers Hand los und kam auf uns zu. Sie schloss Astrid direkt in ihre Arme.
»Du siehst genauso aus, wie Hicks dich beschrieben hat«, sagte sie leise, nachdem sie sie losgelassen hat.
Ich sah meine Mutter fragend an. »Wann habe ich sie dir denn beschrieben?«
»Oh, ich weiß nicht, irgendwann. Auf jeden Fall wusste ich von den blonden Haaren und blauen Augen.«
Das hatte ich ihr erzählt, als sie noch im Koma gelegen hatte. Es war doch aber nicht möglich, dass sie sich daran erinnerte, oder? Ich hatte ihr nämlich so viel über die Zeit erzählt, das konnte sie nicht alles wissen.
»Weißt du«, sagte Astrid, die wohl meinen Gesichtsausdruck deuten konnte, »es gibt keine konkreten Studien dazu, was der Körper mitbekommt, wenn ein Mensch im Koma liegt. Manche wissen gar nichts, wenn sie aufwachen, andere erinnern sich daran, wie zu ihnen gesprochen wurde.«
Meine Mutter lächelte mich an. »Ich erinnere mich auf jeden Fall an deine Stimme. Nicht an alles, was du mir erzählt hast, aber an manches. Von Astrid hast du so ... aufgeregt und emotionsvoll gesprochen, das hat sich mein Hirn wohl gemerkt.«
Meine Wangen erröteten, weshalb die beiden lachten. Astrid legte einen Arm um mich, als wir uns zu der mittlerweilen beruhigten Javier an den Tisch setzten und es genossen, das erste Mal seit so langer Zeit beisammen zu sein.
❁
Drei Wochen später gab es bei uns im Haus eine Familienfeier, zu der auch Astrids Vater, Jack und Elsa eingeladen waren. Meine Mutter wollte sie alle unbedingt kennenlernen und bei ihrer "Willkommen zu Hause!" Party dabeihaben.
Es gab Kuchen, Gebäck, Snacks, Musik und jede Menge Gespräche, Erzählungen und Geschichten. Wir überlasteten sie natürlich nicht, wenn sie sagte es war ihr zu viel, dann wechselten wir das Thema, aber heute schien sie einfach die Zeit nachholen zu wollen. Sie wollte wissen, was alle die letzten sechs Jahre gemacht haben und wo sie heute im Leben standen. Sie war genauso wie früher, freundlich zu jedem Menschen und eine super Zuhörerin. Ich war dermaßen froh darüber, dass sie ihren Lebenswillen noch hat.
Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, ist sie in das Gästezimmer gezogen, was wundervoll für uns war, denn so hatten wir sie direkt bei uns. Sie schien aber bereits nach etwas eigenem zu gucken, würde aber erst eine Arbeit suchen, nachdem die Ärzte sie vollkommen durchgecheckt hatten, dass auch wirklich alles in Ordnung war und so bleiben würde. Bis jetzt sah es sehr vielversprechend aus. Sie musste nur wieder an Muskeln zulegen und sich an richtiges Essen gewöhnen, wobei wir ihr behilflich waren.
Astrid fand mich in der Küche, wo ich mir eine Pause von meiner lauten Familie gönnte. Sie hatte ein Grinsen aufgesetzt, wahrscheinlich weil irgendwer gerade eine verrückte Geschichte ausgepackt hat. Sie legte ihre Arme um mich und schaute hinauf in mein Gesicht.
»Was machst du hier alleine?«, fragte sie.
Ich legte eine Hand an ihren Hinterkopf, die andere lag auf ihrer Hüfte. »Meine Ohren schützen.«
Sie lachte, weshalb ich lächeln musste. »Verständlich, deine Tante kann sehr laut sein. Weißt du, woran ich gedacht habe?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben bald unsere Abschlussprüfungen. Was machen wir danach?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ganz ehrlich? Keine Ahnung.«
Ein Grinsen bildete sich wieder in ihrem Gesicht. »Dann werden wir wohl beide erst einmal nichts tun.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Hast du auch keine Entscheidung getroffen?«
»Nope«, sagte sie. »Ich werde mir wahrscheinlich einen Nebenjob irgendwo suchen, weiterhin trainieren und dann schauen, wo mich das Leben hinführt.«
»Das klingt nicht schlecht. Vielleicht mache ich das auch, nur ohne das Training.«
Sie lachte und küsste mich. »So lange wir zusammen sind.«
Ich mochte, wie das klang. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. »So lange wir zusammen sind.«
———
Hier wieder die Übersetzungen:
• Milaya moya bedeutet Mein Liebling
• Moy syn beduetet Mein Sohn
• Ya tebya lyublyu bedeutet Ich liebe dich
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro