Kapitel 22
Die zwei Wochen bis zur Party flogen davon. Der erste Schnee lag bereits, ich hatte zwölf Türchen meines Adventskalenders geöffnet, Stacy beobachtete mich weiterhin aus der Ferne, Hicks und ich waren trotzdem noch gute Freunde, Elsa, Jack und ich hatten uns vor ein paar Tagen eine Schneeballschlacht geleistet und im Eiskunstlauf kam ich auch voran. Es lief also alles super, das erste Mal seit der Diagnose. Ich fühlte mich wohl, gewollt, gemocht. Es tat mir immer noch im Herzen weh, Hicks und Stacy zusammen zu sehen, aber ich hatte mich daran gewöhnt. Er wollte sie und das war okay. Er sollte glücklich sein. So lange er mich nicht aus seinem Leben verbannte, war es mir recht.
»Woran denkst du, dass du so lächelst?«, fragte Elsa, die vor mir stand und gerade eine Farbe für meinen Lidschatten aussuchte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Dass ich mit voller Überzeugung endlich sagen kann, dass es mir gut geht. Ich bin nicht niedergeschlagen oder traurig oder wütend. Ich bin glücklich, fühle mich nach langer Zeit normal.«
»Naw, meine Süße, bring mich hier bloß nicht zum Weinen«, sagte meine Oma, die wieder über FaceTime dabei war, während Elsa mich für die Party fertig machte. Sie war nämlich schon in voller Montur. Ihr hellblaues Tanktop war bauchfrei und oben mit Spitze besetzt, ihre schwarze Lederjeans stoppte an ihrem Bauchnabel, wodurch man ihr Piercing dort sehen konnte. Schwarzer Eyeliner umrahmte ihre hellen Augen, ließ sie dadurch hervorstehen, was der lilane Lidschatten unterstrich. Ihre Haare hatte sie offen gelassen, sodass sie in Wellen über ihre Schulter fielen.
»Mich auch nicht, das verschmiert meine Wimperntusche«, sagte sie leicht lachend und tupfte sich vorsichtig unterm Auge entlang. »Aber, Granny, was sagst du zu dieser Farbe?« Sie hielt die Palette in die Kamera, zeigte mit dem Pinsel auf ein glitzerndes Goldbraun.
»Uh, das gefällt mir. Passt zu Weihnachten mit den ganzen Lichtern.«
»Genau das dachte ich auch«, sagte Elsa breit lächelnd. »Astrid, Augen zu.« Ich tat wie geheißen und spürte eine Sekunde später den Pinsel über mein Lid streichen.
»Ich kann kaum das Ergebnis erwarten«, sagte meine Oma. »Von dem was ich bis jetzt sehen durfte, hast du einen guten Geschmack, Elsa.«
»Dankeschön.« Ich konnte das aufrichtige Lächeln auf ihren Lippen förmlich hören.
»Hast du schon einen Lippenstift ausgesucht?«, fragte meine Oma.
»Ja, sie bekommt einen schönen bordeauxroten.«
»Sexy.«
Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt, aber dann würde Elsa mich erschlagen, darum beließ ich es bei einem tiefen Seufzer, weshalb die beiden lachten.
»So zieht man sich eben zu einer Party an«, beteuerte meine Oma und ich hörte, wie sie von einem Keks abbiss. Zur Weihnachtszeit backte sie immer Bleche voll damit und hörte erst nach den Feiertagen auf, weshalb sie jeden Tag welche verputzte.
»Augen auf«, befahl Elsa und ich ließ sie nicht warten. Sie betrachtete mein Gesicht von verschiedenen Seiten, nickte dann und nahm den Eyeliner in die Hand. »Augen zu.«
Meine Oma lachte. »Du wärst bestimmt eine gute Domina.«
»Grandma«, sagte ich warnend und versuchte mich nicht zu bewegen, während Elsa mir einen Strich übers Lid zog. Sie lachte nur.
»Vielleicht, aber wäre nicht mein Traumberuf.«
»Was wäre denn dein Traumberuf?«, fragte ich aus Neugier.
»Hm«, machte sie erst, wahrscheinlich weil sie sich auf das Make-Up konzentrierte. »Augen auf.« Sie betrachtete mich erneut, zeigte mir, ich solle sie wieder schließen und verbesserte irgendwas im Winkel meines rechten Auges. »Ich überlege, als Journalistin zu arbeiten. Wie du weißt, rede ich gerne und interessante Geschichten zu finden, fände ich recht abenteuerlich, spannend sogar. Kannst sie aufmachen.« Ich sah sie an. Sie nickte lächelnd. »Sieht super aus. Nicht wahr, Granny?«
Ich drehte mich zur Kamera. Meine Oma machte große Augen. »Wer ist denn das? Ist das meine Enkelin? Meine Kleine mit dem resting bitch face?« Elsa und sie lachten, während ich nur die Augen verdrehen konnte. »Ich ärgere dich zu gerne. Es sieht wirklich sehr gut aus. Jetzt hau mal den Lippenstift drauf und schlüpf in die Anziehsachen, ich will das Gesamtpaket sehen.«
Elsa lachte nochmal, hatte bereits den Lippenstift in der Hand und zeigte mir, wie ich meinen Mund machen sollte. Sie war sehr sanft mit allem, auch geduldig, als würde sie das öfter machen, was ich mir aber nicht vorstellen kann, immerhin war sie ein Einzelkind. Sie hatte wahrscheinlich nur viel an sich selbst geübt. Ich war wirklich froh, sie als Freundin zu haben. Nicht nur für so etwas, sie war da, wenn ich sie brauchte, sie redete mit mir, lachte mit mir, wollte etwas mit mir unternehmen. Sie war eine wahre Freundin, die erste in meinem Leben.
»Jetzt reib die Lippen zusammen, so«, sagte sie und machte es mir vor. Sie verbesserte wieder ein wenig und nickte dann erneut. »Dein Gesicht ist fertig, die Haare sollten jetzt lockig sein, ab in die Klamotten.«
Ach ja, ich hatte seit zwei Stunden Lockenwickler am Kopf hängen. Die wären anscheinend besser als ein Lockenstab. Ich vertraute Elsa damit voll und ganz, denn ich hatte keine Ahnung. So lange ich am Ende nicht wie eine Vogelscheuche aussah, war mir alles recht.
»Also, Granny, das hier wird das Outfit«, sagte Elsa und hielt es für meine Oma hoch, damit sie es sehen konnte.
Es waren ein bordeauxrotes Shirt mit kurzen Ärmeln und einem etwas weiten V-Ausschnitt, ein enganliegender dunkelbrauner Rock, der einen Einschnitt an der linken Seite hat, und eine dünne schwarze Strumpfhose mit Blumenmuster. Das erkannte man aber nur, wenn man nah dran war.
Meine Oma pfiff. »Ich wiederhole: Sexy. Welche Schuhe gibt es denn dazu?«
»Welche, die ich nicht anziehen werde«, sagte ich, aber Elsa hob sie trotzdem grinsend hoch. Es waren schwarze kniehohe Stiefel mit acht Zentimeter hohen Absätzen.
»Oh, die ziehst du an«, sagte meine Oma sofort. »Darauf stehen die Typen, das sag ich dir. Hicks wird dir buchstäblich zu Füßen liegen.«
»Grandma, darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Ja ja ja«, sagte sie mit einer wegwerfenden Geste. »Ich weiß, nicht einmischen und den ganzen Humbug. Diese Schuhe werden Hicks aber einen weiteren Tritt in deine Richtung geben, also zieh sie an.«
»Ich kann darin nicht laufen«, versuchte ich mich zu retten und widersprach nicht einmal mehr zum Thema Hicks.
»Das ist ganz einfach«, sagte Elsa. »Die haben auch einen dickeren Absatz, der läuft sich besser. Wir probieren gleich ein paar Runden aus, keine Sorge. Jetzt aber musst du dich von deinem übergroßen Shirt verabschieden und diesen BH anziehen.« Sie hielt einen in schwarz mit Spitze und V-Öffnung hoch. »Der Schnitt passt zum Shirt und er ist ein wenig mit Push-Up, das lässt deine Brüste zur Geltung kommen.«
Ich sah sie mit geöffnetem Mund an. »Du verarscht mich.«
Sie schüttelte grinsend den Kopf. »Nope.«
»Willst du, dass ich heute jemanden vögel oder warum torkelst du mich so auf?«
Sie wechselte einen Blick mit meiner Grandma und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. »Das ist nicht euer ernst. Ihr wollt, dass ich Hicks abschleppe? Den vergebenen Hicks, falls ihr das vergessen habt.«
»Der wird nicht mehr lange vergeben sein, wenn er dich darin sieht«, sagte meine Oma und schob sich einen Keks in den Mund.
Ich sah zu Elsa, die mich grinsend ansah und erwartend den BH hochhielt. »Ihr seid absolut irre, wenn ihr denkt, dass das funktioniert.« Trotzdem nahm ich ihr den BH aus der Hand und drehte mich um. Wir waren zwar sowas wie beste Freundinnen, aber das war mir weiterhin zu intim.
»Wir werden sehen«, trällerte sie hinter meinem Rücken.
Ich verdrehte die Augen und zog mein Shirt vorsichtig über meinen Kopf. Nachdem ich den BH angezogen habe, drehte ich mich wieder um, damit Elsa und meine Grandma es beurteilen konnten. Ich gab zu, dass es nicht schlecht aussah. So nah an Lingerie war ich noch nie gewesen.
»Ich wusste es, der sitzt super«, sagte Elsa und hielt mir das Oberteil hin. Sie half mir es anzuziehen, da es recht eng anlag und die Lockenwickler etwas dagegen hatten. Nachdem der Kampf vorbei war, bekam ich die Strumpfhose hingehalten und danach den Rock.
»Das sieht so gut aus an dir, meine Süße«, sagte meine Oma und musterte mich von oben bis unten. Ein fettes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht.
»Von jetzt an darfst du dich für Partys nur noch so anziehen«, sagte Elsa und zeigte mir, dass ich mich auf meinen Stuhl setzen soll.
Sie kümmerte sich die nächste halbe Stunde um meine Haare. Dabei knabberte meine Oma weiterhin an ihren selbstgebackenen Keksen und ich konnte nicht aufhören vor Nervosität mit dem Bein zu wippen. Noch nie hatte ich Ausschnitte oder kurze Röcke getragen, geschweige denn Schuhe mit Absätzen. Das würde eine Katastrophe werden, wahrscheinlich werden mich irgendwelche Vollidioten blöd anmachen nur weil sie einen Teil meiner Brüste sehen können. Wenn mich einer anfassen sollte, würden sie mit gebrochenen Knochen nach Hause gehen. Oder ins Krankenhaus.
»So«, sagte Elsa und legte einen Lockenwickler auf meinen Schreibtisch. »Das müssten alle gewesen sein.« Sie fing an, mit ihren Händen durch meine Haare zu gehen, um die dichten Locken zu lockern.
»Du siehst aus, wie meine Mutter damals nachdem sie morgens aufgestanden ist«, lachte meine Oma. »Sie hat die Teile immer über Nacht getragen.«
Ich zog meine Augenbrauen zusammen. »Wie hat sie es denn geschafft damit zu schlafen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie nie gefragt.«
Elsa war nach ein paar Minuten fertig mit meinem Aussehen und zwang mich dann in die Schuhe. Unter der Obhut der beiden machte ich meine ersten Schritte in meinem Zimmer, die sehr holprig waren, da ich das erste Mal halb umknickte und gegen Elsa fiel. Danach hielt sie mich am Ellenbogen fest, bis ich sicher genug auftrat. Ich sah nicht wirklich elegant und wie ein Model aus, aber ich schaffte es zu laufen, ohne mir die Haxen oder mein Genick zu brechen.
»Siehst du?«, sagte meine Oma grinsend. »Ganz einfach. Jetzt hol dir deinen Typen.« Ich rollte mit den Augen, musste aber ebenfalls grinsen.
Sie legte auf, Elsa und ich gingen beide nochmal auf Toilette und sie legte sich Lippenstift auf. Das hatte sie extra vorher noch nicht getan, da sie wusste, dass sie bei mir noch Wasser trinken würde. Nachdem wir unsere Jacken und sie ihre ebenfalls hohen Stiefel angezogen hatte, klingelte es bereits bei mir. Elsa öffnete die Tür, während ich mein Portemonnaie in meine Umhängetasche stopfte.
»Oho, wer ist denn diese Schönheit?«, hörte ich Jack sagen, der heute Abend unser Fahrer war. Sie küssten sich, was ich ebenfalls nur hörte, da ich versuchte, mein Handy in die kleine Tasche zu kriegen. »Hallo, Astrid.«
»Hi, Jack«, sagte ich und schaffte es, den Knopf zuzudrücken. Dann schaute ich endlich lächelnd auf. »Deine Freundin musste mir ja eine kleine Tasche andrehen.« Die Angesprochene streckte mir die Zunge heraus.
Er lachte. »Es gibt nur kleine für eine Sache oder große, in die du dein gesamtes Interieur stecken kannst.«
»Das stimmt nicht«, verteidigte sich Elsa gespielt empört. »Hör nicht auf ihn, er hat keine Ahnung. Außerdem passt diese Tasche perfekt zu deinem Outfit, du musst ja nicht alles mitnehmen.«
»Da sind mein Portemonnaie, Handy, Schlüssel und der Lippenstift drin.«
Sie hob die Schultern hoch. »Reicht doch.«
Bei meinem Augenrollen lachte Jack erneut und die beiden gingen die Stufen hinunter. Ich war hinter ihnen, knipste das Licht aus, da mein Vater auf der Nachtschicht war, schloss die Haustür ab und folgte ihnen zum Auto. Es war vorgeheizt und roch nach Vanille. Die Fahrt über witzelten wir über Dinge, die heute passieren würden, während Jacks Popmusik Playlist im Hintergrund lief.
»Ich sage, dass Hicks sich heute umentscheiden wird«, warf Elsa mit einem Grinsen in meine Richtung in den Raum. »Denkst du nicht auch, Jack?«
»Ich hoffe es«, antwortete er und bog ab. »Stacy kommt nicht an dich ran, vor allem mit dem Outfit. Also, nicht, dass du sonst hässlich aussehen würdest oder so, du siehst auch ohne Schminke und allem gut aus. Nur, es ist schon ein bisschen was anderes.«
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte ich leicht lachend. »Trotzdem denke ich nicht, dass er an einem Abend einfach alles aufgibt, was er mit Stacy hat.«
Jack sah mich im Rückspiegel mit erhobener Augenbraue an. »Glaub mir, das wäre nicht das erste Mal, dass er darüber nachdenkt. Er braucht nur einen Schubser, einen heftigen, der möglicherweise blaue Flecken hinterlässt, aber dann kapiert er es endlich.«
Hoffentlich, lange halte ich das nicht mehr aus, dachte ich mir und seufzte noch einmal, während ich die durch ein paar Straßenlaternen erhellte Dunkelheit außerhalb des Fensters beobachtete. Es dauerte nicht mehr lange, bis wir bei Mitchell angekommen waren. Die Straße und komplette Einfahrt waren bereits zugeparkt, sodass Jack das Auto an der Ecke hinstellte. Die Musik war bis dahin zu hören, zumindest der rhythmische Beat des Songs, den Text konnten wir nicht ausmachen.
»Scheiße ist das kalt«, fluchte ich und legte meine Arme um mich. »Warum nochmal sollte ich nur eine Lederjacke anziehen?«
»Weil es da drinnen gleich warm sein wird«, sagte Elsa grinsend. »Dann bist du froh, sie los zu sein.«
Der Vorgarten war mit Rauchern, Vapern und Leuten, die frische Luft brauchten gefüllt. Die Musik war mittlerweile so laut, dass man sich anbrüllen musste, um miteinander zu reden und sobald wir die Türschwelle überschritten hatten, erschlug mich fast die plötzliche Hitze. Elsa hatte bereits im Laufen ihre Jacke ausgezogen und hing sie gerade an die ewig lange Garderobe, die im Flur an der Wand befestigt war.
»Ich hab's ja gesagt«, schrie sie mir zwinkernd zu.
Mit einem Grinsen im Gesicht, zog auch ich meine Jacke aus. Als ich gerade meinen zweiten Arm daraus befreit hatte, stupste sie mich an und zeigte mit dem Kopf in Richtung des offenen Wohnraumes. Dort stand Hicks, der mich wie hypnotisiert ansah, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Dabei lagen seine Augen das erste Mal nicht auf meinem Gesicht. Mein Herz fing sofort an heftig zu klopfen und ich merkte, wie sich meine Wangen rot verfärbten. Die beiden hatten tatsächlich Recht behalten, denn dieser Blick sprach Bände.
Er hatte angebissen.
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