Kapitel 9.1
Als wir zurückkehrten, war das Essen fertig und der Tisch gedeckt. Richard und ich brachten das zusammengeklaubte Campingmaterial in den Wäscheraum neben der Garage, wo wir Zelt, Klamotten, Rucksäcke und Decken zum Trocknen aufhingen. Ich legte auch unsere Bücher auf die Waschmaschine, in der Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch zu retten waren, bevor ich mich daran machte, schnell meine Beine zu säubern und meine Haare von ein oder zwei Laubblättern zu befreien. Den Inhalt der Kühltasche und des Proviantrucksacks verstauten wir in der Küche.
Am Tisch saßen Amy und ich unseren beiden Gastgebern gegenüber. Die Suppe duftete so köstlich, wie sie schmeckte, und während das Besteck klirrte und das Ofenfeuer hinter uns prasselte, plauderten wir über Gott und die Welt. Richard beschrieb uns das Wechselspiel aus Eintönigkeit und kreativem Schaffensmut, das seinen Job darstellte, Mariela gab Einblicke in ihre Reiterlebnisse und erzählte von zwei Turnieren, in denen sie beide Male bereits den zweiten Platz als Regionalmeisterin gewonnen hatte. Amy erzählte von ihrem Leben aus Cannon Beach, ratterte eine persönliche Top-Ten der seltsamsten Gäste herunter, die sie als Kellnerin schon bedient hatte (Ein Mann, der mit einer selbstgedruckten Eigenwährung zahlen wollte, reihte sich gleich hinter einem Typen ein, der sich davon überzeugen wollte, dass man die Krümmung der Erde tatsächlich am Pazifik erkennen konnte), und ich fasste im Groben unsere bisherige Reise zusammen, in deren Zuge wir hier zusammengefunden hatten. Wie schon bei Richard, sparte ich auch gegenüber Mariela nicht mit meinen Motiven, erzählte auch ihr von Jasper und Beth und dass es zwar eine aufweckende, aber auch schmerzende Erfahrung gewesen war, die beiden zu erwischen. Amys Hand suchte währenddessen die Meine und drückte sie unterm Tisch, und ich erwiderte den Druck womöglich so stark, dass es ein bisschen schmerzhaft für sie war.
Ich erzählte auch von unseren Erlebnissen, geizte nicht mit den Details. Ich erzählte von Adam und seinem Freund, erzählte davon, dass ich mich mit beiden „vergnügt" hatte ... und dass Amy diesen Prozess heimlich und nicht weniger vergnügt beobachtet hatte (wofür ich einen verspielten Klaps auf die Schulter von ihr bekam). Ich erzählte von unserem „intensiven Kennenlernen" in ihrer Wohnung, von unserem kleinen riskanten Unterfangen im Drugstore und unserem Märchenteich, den wir oben im Wald entdeckt hatten. Ich erzählte davon, wie sehr mir die Westküste gefiel, angefangen bei den Stränden und rauen Felsküsten, bis hin zu den dichten Nadel- und Kiefernwäldern sowie den kleinen Ortschaften, die zwischen den Hügeln hervorsprießten.
„Unser Plan ist, dass wir nach Kalifornien runterfahren", beendete ich die Zusammenfassung. „Wir wissen noch nicht ganz genau, wohin ... aber wir wollen die Städte sehen."
„Eine davon wird auf jeden Fall San Francisco sein." Amy hielt meine Hand immer noch fest und grinste mich an. „Die obligatorische Fahrt über die Golden Gate Bridge darf schließlich nicht fehlen."
„San Francisco ist eine tolle Stadt", sagte Mariela. Sie schaute zu Richard, und ich meinte zu sehen, dass sie unterm Tisch dieselbe Geste bei ihm vollzog wie Amy bei mir. „Wir verbinden damit ein paar schöne Erinnerungen."
Nach der Suppe blieben wir noch sitzen und tranken Rotwein – einen Montepulciano, wie Richard extra hervorhob, weil Amy erneut betonte, dass auch Hannibal Lecter Wein, genauer einen Chianti, getrunken und als exquisite Ergänzung für eine Leber angesehen habe. Dazu brachen wir das Honigbrot an, das Richard gebacken hatte, und obwohl es eine angenehme Art war, den Abend ausklingen zu lassen, überkam mich im Zuge des Alkohols und Sättigungsgefühls bald auch die Erschöpfung dieses langen, äußerst sonderbaren Tages. Ich sah Amy ihre Müdigkeit ebenso an, und gegen halb eins beschlossen wir schließlich, nach oben zu gehen.
„Im Bad dürften sich noch ein paar Zahnbürsten für euch befinden." Mariela hatte ein Bein übers andere geschlagen und hielt ihr halbvolles Weinglas grazil in der Hand, während sie sich uns halb zugewandt hatte. Ihre Augen leuchteten anmutig unter der Wirkung des Getränks. „Sucht euch gerne eines der beiden Gästezimmer aus. Es sind die zwei Türen links von der Treppe."
„Gute Nacht, ihr zwei." Richards Blick ruhte auf mich. Wissentlich und mit diesem leisen Lächeln.
Auf der Treppe konnten mich meine Beine kaum mehr halten. Als wir vorm Spiegel standen und uns die Zähne putzten, machten sich die ersten Muskelschmerzen bemerkbar, und die Schrammen und Kratzer an meinem Arm brannten mit jeder Putzbewegung von Neuem auf. Amy stöhnte ebenso und sank in einem verspielten Akt des Aufgebens gegen mich. Als ich ausspuckte und mein Spiegelbild betrachtete, schauten blutunterlaufene Augen zurück.
Wir wählten das vorletzte Zimmer auf dem Flur – jenes, das näher am Schlafgemach unserer beiden Gastgeber lag. Es besaß ein großes, flaches Doppelbett mit samtweißen Kissen und Decken, hinter dem sich eine Natursteinwand auftat, die dem kunstvoll anmutenden Minimalismus dieses Raumes etwas Grobes, Rustikales verlieh. Die übrigen Wände bestanden aus dunkler Tapete, die einen Großteil des weißen Deckenlichts verschluckte, der helle Laminatboden war aus Eiche und der weiße Kleiderschrank in Hochglanzoptik gehalten. Ein flauschiger schwarzer Teppich lag vor dem Bett.
Amy zog sich bis aufs T-Shirt aus. „Ich bin völlig erledigt." Mit dem Gesicht voran warf sie sich in die Kissen. Klatschte regelrecht hinein.
Auch ich entledigte mich bis aufs Oberteil. Trotz meiner Müdigkeit konnte ich es mir nicht nehmen, die schlichte Einrichtung des Zimmers ein oder zwei Sekunden lang zu bewundern. So wenig man diesem Haus von außen ansah, dass es von Künstlern bewohnt wurde, desto mehr bemerkte man es, wenn man sich drinnen aufhielt.
Amy drehte sich auf den Rücken und stützte sich mit den Ellenbogen ab. „Weißt du", sagte sie lächelnd, „das ist das erste Mal, dass wir beide uns ein normales Bett teilen."
Grinsend löschte ich das Licht und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Der weiche Stoff raschelte, duftete nach Waschmittel. „Da hast du recht."
Sie kuschelte sich an mich. „Wäre ich nicht so furchtbar müde, hätte ich nichts dagegen ... das angemessen einzuweihen." Unter der Decke wanderte ihr Zeigefinger an meinem Arm entlang.
„Wir sollten schlafen."
Ihr Finger wanderte weiter. „Worüber haben du und Richard geredet? Als ihr oben im Wald wart?"
Ich dachte an den Moment zurück, als ich auf ihn zugekrochen war. Seine Erektion durch die Jeans erfühlt hatte.
„Über mich, größtenteils." Ich fasst es in groben, spärlichen Worten für sie zusammen. Dabei ließ ich auch den letzten Part nicht aus.
Als ich fertig war, vollzog ihr Finger kreisende Bewegungen. „Du magst das wirklich, oder?" Ein Richtungswechsel gegen den Uhrzeigersinn. „Ein bisschen unterwürfig zu sein?"
„Ich schätze, das werde ich herausfinden."
„Mariela hat auch ein paar Anspielungen gemacht." Amy schob ihr Bein zwischen meine, rieb mit ihrem Fuß an den meinen entlang. „Hat mir davon erzählt, dass sie viele der Frauen, die in Corvallis mit ihr reiten, attraktiv findet. Auch die Männer. Und dass sie und Richard ... dass sie viele Wege haben, damit umzugehen."
Aus irgendeinem Grund musste ich daran denken, was sie vorhin beim Abendessen gesagt hatte: San Francisco ist eine tolle Stadt. Wir verbinden damit ein paar schöne Erinnerungen.
„Auf dich scheint sie auch ein Auge geworfen zu haben", sagte ich schmunzelnd.
„Hoffentlich", erwiderte Amy.
Ich musste kichern. Kurzerhand schlang ich einen Arm um sie und drückte sie fester an mich, streichelte ihr durchs Haar und küsste sie auf die Schläfe.
Dann sahen wir uns durch die Dunkelheit wieder an. „Du hast dich also entschieden?", fragte sie leise.
Ich hob eher reflexartig die Brauen. Sie schien es zu merken.
„Dass du nicht mehr zurückwillst. Dass du Portland hinter dir lassen willst. Dein Studium ..."
Für einen kurzen Moment überlegte ich. „Ich glaube, diesen Entschluss hatte ich schon gefasst, kurz nachdem ich dich kennengelernt habe, Amy."
Sie schloss ihre Hände um meine Wangen und küsste mich. Es war so zärtlich, so warm und auf eine so seltsame Art gefühlvoll, dass mein Magen Kapriolen schlug. Keine von uns machte Anstalten, den Kuss zu unterbrechen. Unsere Zungen spielten sanft und innig und lange miteinander.
Schließlich bettete Amy ihr Gesicht so nahe an meines, dass sich unsere Nasenspitzen berührten.
„Vielleicht werde ich heute auch mal von dir träumen, Justine."
Sie hauchte mir einen letzten, seichten Kuss auf die Nasenspitze, bevor sie sich an mich kuschelte.
Es gab keine schönere Art, einander in den Schlaf zu wiegen.
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