Kapitel 1.1
Ich hörte das laute Stöhnen bereits, als ich die Wohnungstür aufschloss.
Es kam nicht überraschend. Irgendwo in meinem Hinterkopf, an einem Ort, den ich bisher wohlwissentlich von meiner restlichen Gedankenwelt abgeschottet hatte, hatte sich diese Wahrheit bereits vor Wochen wie eine Saat eingenistet und war gediehen, stetig begossen von verdrängter Wut, verdrängtem Unglauben, verdrängtem Zweifel. An jenem Abend, als ich die Bar außerplanmäßig früher verlassen hatte, weil meine beste Freundin Beth – entgegen ihrer Ankündigung – nicht erschienen war, brachen die Wurzeln jener scheußlichen Wahrheit ob jenes Stöhnens schließlich hervor, durchpflügten mein Bewusstsein und knoteten sich fest.
Ich konnte es nicht mehr leugnen.
Nun. Es erklärte zumindest, weshalb Beth nicht erschienen war.
Ich schloss die Tür hinter mir, musste es nicht einmal besonders leise tun, weil die beiden anscheinend voll bei der Sache waren. Jasper – mein Freund – hatte diesen unverwechselbaren hilflosen Klang, wenn er beim Sex stöhnte; so als wäre er von seiner eigenen Geilheit überfordert. Obwohl mir gefiel, dass er beim Geschlechtsakt nicht zu einem Taubstummen verkam, hatte diesem Klang doch immer etwas Lächerliches angehört. Vielleicht redete ich mir das an jenem Abend aber auch nur ein, während ich dort im Flur stand und hörte, wie er und meine beste Freundin in unserem Bett fickten.
Was mich in jenem Moment am meisten überraschte, war meine innere Ruhe. So als wäre ich plötzlich gänzlich losgelöst von der Situation, so als würde ich bloß noch über sie schweben und alles aus der Ferne beobachten. Die Wohnungsschlüssel beiseitelegen, Justine. Über den Flur entlanggehen, Justine. Nicht in den Garderobenspiegel sehen, Justine; lass nicht zu, dass dich abstruse Selbstzweifel überkommen. Gut so. Einfach weitergehen, Mädchen. Hörst du, wie sie um die Wette stöhnen? Wie das Bett knarzt? So heftig habt ihr es nie miteinander getrieben. Schweiß- und Sexaromen schwängern die Luft, füllen sie mit so stickiger, pappiger Hitze, dass du ihre glitschigen Körper beinahe schmecken kannst. Weiter, Mädchen, geh nur weiter. Ob sie verhüten? Ob er ein Kondom benutzt? Ob einer von den beiden auch nur für den Bruchteil einer Sekunde an dich denkt?
Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt auf, als ich sie erreichte. Und ich wartete darauf, dass es kam; der Impuls, der sämtliche heiße Wut in meinem Magen bündelte und wie Feuer meinen Rachen emporschnellen ließ; der Ausbruch des Jähzorns, der Enttäuschung, der Fassungslosigkeit; dieses letzte entscheidende Kribbeln in den Fingern, bevor ich die Tür zur Gänze aufstoßen und die beiden niedermachen würde; ich wartete darauf, dass ich endlich, da Verdrängen keine Option mehr war, die Initiative ergriff.
Ich tat es nicht.
Stattdessen ... lehnte ich mich ein Stück vor.
Durch den offenen Spalt war das Bett zu sehen. Beth ritt meinen Freund selbstvergessen, mit kehligem, heiserem Stöhnen. Ihr nackter Rücken glänzte. Strähnen ihres schwarzen Haares klebten vor lauter Schweiß an ihren Schulterblättern. Ihre Brüste wippten in dem harten Takt, den ihr Becken anschlug, ihre Nippel ragten steif auf; Jasper hatte die Nägel in ihre Hüften gekrallt, den Kopf in den Nacken gelegt, die Zähne in die Unterlippe vergraben, und sich ihr hingegeben. Vollends. Das Kopfende schlug immer wieder gegen die Wand.
Sie fickte ihn. Sie fickte meinen Freund, mit dem ich seit drei Jahren zusammen war, und mit dem ich diese Wohnung – dieses Bett – seit zweien teilte. Mein Freund fickte Beth – ein Mädchen, das ich seit der Schulzeit meine beste Freundin genannt hatte. Mit der ich im Kino Händchen gehalten hatte, wenn uns ein Horrorfilm zu unheimlich geworden war und sich ein Jumpscare angedroht hatte. Ebenjene Hand stemmte sie nun auf Jaspers Brust ab, während ihre Hüften einen noch krampfhafteren Rhythmus annahmen und ihre Schenkel zuckten. Ich hörte das Schmatzen, hörte, wie nass sie dort unten war, und roch, wie ihre Säfte die Laken vollsogen. Sie war so erregt, dass es mich nicht gewundert hätte, hätte sie angefangen zu sabbern.
Ich stand nur da. In jenem Moment schrieb ich die Hitze, die sich dort in mir sammelte, die jeden meiner Nervenstränge anzusengen und zu strapazieren schien, lediglich meiner Wut zu. In jenem Augenblick war mir nicht einmal klar, dass ich mit meiner linken Hand über meinen eigenen Oberschenkel fuhr, auf die Innenseite zu. Oder dass ich meine eigenen Zähne in die Unterlippe gegraben hatte.
Durch ihr Keuchen hinweg, ohne vom Tempo abzulassen, sahen die beiden einander mit fahrigem Blick an. Sie lächelten sich zu. Triumphal. Überlegen. Und da wurde es einem Teil von mir, mit einem seltsamen Ziehen im Unterleib, klar.
Sie wussten, was sie taten.
Wussten, dass sie mich demütigten.
Und es schien sie nur noch mehr anzumachen.
Beth beugte sich hinab, leckte Jasper den Schweiß von der Brust und küsste ihn. Innig. Lang. Ihre Hüften zuckten dabei unkontrolliert, und ich sah, wie er winselnd die Arme um sie schlang und sich verkrampfte.
„Komm in mir", raunte sie ihm zu; ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme, hörte den rauen, wollüstigen Klang darin. „Ich will, dass du in mir kommst."
Jasper jaulte förmlich. Er winkelte die Beine an, küsste Beth inbrünstig, schien ihr dabei das halbe Gesicht abzulecken. Die beiden verhedderten sich in einer heißen, verschwitzten Umarmung, wirbelten einem gemeinsamen Höhepunkt entgegen.
Mit trockenem Mund gelang es mir, mich abzuwenden. Ich drehte mich einfach fort. Ging ins Wohnzimmer. Während sie schrien und stöhnten und das Bett immer wieder an die Wand schlug, gelang es mir – noch immer mit jener seltsamen Ruhe – ein paar Sachen zusammenzusuchen: Ein langärmeliges Oberteil, das ich auf der Couch liegenlassen hatte. Den Akku meines Handys. Eine Wolldecke. Einen Rucksack. In der Küche fanden sich Taschentücher, Streichhölzer, Feuerzeuge, etlicher anderer Krimskrams, den ich – ohne bewusst darüber nachzudenken – einfach in die Tasche stopfte. Es war, als hätte mein Kopf auf Automatik geschaltet. Im Bad schnappte ich mir eine Packung billiger Ersatzzahnbürsten, die angebrochene Tube Zahnpasta, Pflaster. In der Küche fand ich Chipstüten und Wasserflaschen. Zurück auf dem Flur warf ich mich in meine Sommerjacke, stopfte meine Geldbörse hinein und schulterte den Rucksack. Taube Finger schlossen sich um meine Autoschlüssel. Bevor ich jedoch ging, nahm ich noch Zettel und Stift zur Hand. Die beiden schrien sich drüben die Kehle aus dem Leib, fielen in ein Tal unbändigster, primitivster Lust, als ich auf die Kugelschreibermine klickte und schrieb:
Ihr braucht mich nicht zu suchen. Denn ich brauche euch auch nicht mehr.
Ich ließ den Zettel auf der Kommode liegen und verließ die Wohnung.
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