ZL.1_Giganten der Tiefsee
Irgendetwas regte sich im Meer.
Tartara merkte es nicht daran, dass die Orcas plötzlich langsamer wurden und ihre Richtung änderten; sie drehten um und schlugen die Richtung ein, aus der sie soeben gekommen waren. Sie merkte auch nicht, dass das Fauchen der Seeschlange zwar wieder angeschwollen war, dafür aber nicht mehr so dicht hinter ihr erklang, dass sie glaubte, das Ungeheuer würde sie im nächsten Moment erwischen.
Sie merkte es daran, dass sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete und ihre Zähne zu klappern begannen, obwohl das Wasser sich nicht kälter anfühlte als noch vor einer Sekunde. Da war ein Kribbeln in ihren Fingern, das sich zunächst kühl in ihren Händen ausgebreitet hatte und dann allerdings schlagartig wie eine brechende Welle aus Eis und Kälte über sie hereingebrochen war.
Tartara versuchte, einen Blick zu erhaschen auf das, was geschah. Sie konnte das aufgewirbelte Wasser erkennen, das sogar unter Wasser aufgewühlt erschien - dort, wo es eigentlich ruhig und still sein sollte. Zunächst sah sie nur endloses Blau und dahinter noch mehr Blau und direkt vor ihr, da huschten die Orcas wie riesige Geister vorbei, riesig und schattenhaft, leise und so, als würde ihnen das Wasser keinen Widerstand bereiten.
Es dauerte noch einige Sekunden, bis sich das enthüllte, was zunächst noch nicht zu sehen gewesen war, das aber schon ordentlich Wellen geschlagen hatte.
Da war die Seeschlange im Wasser, doch Tartara konnte nur ihren langgezogenen Kopf erkennen, die Bärte, die durch das Wasser pflügten und die hellen Augen, die vor Zorn beinahe hellweiße Funken zu sprühen schienen. Ihr Leib war kaum auszumachen, normalerweise blau und grünlich schimmernd, doch von keinem Sonnenstrahl berührt. Die Schuppen wirkten beinahe schwarz.
Dann jedoch, als Tartara noch mehr erkennen konnte, war sie gar nicht mehr sicher, ob die fehlende Sonne der Grund dafür war, dass sie den Leib des Ungeheuers in den dunklen Fluten nicht ausmachen konnte. Es dauerte noch zwei weitere Herzschläge, die ihr unter Wasser verboten laut vorkamen und dann waren sie mit einem Mal deutlich zu erkennen.
Die dunkelblauen Tentakel mit den Saugnäpfen, die sich um den länglichen Leib der Seeschlange wanden.
Das Wesen aus dem Urozean bäumte sich auf und versuchte, seinen Widersacher abzuschütteln. Dabei konnte sie einen Blick auf Manannan erhaschen.
Die ehemalige Göttin hatte sich einen der langen Bärte der Seeschlange gegriffen, während sie mit ihren Tentakeln fest den geschuppten Leib des Ungeheuers umklammert hielt. Es wirkte nicht so, als wäre dies ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte. Sie mochte zwar nicht mehr die Göttin über Gischt und Gezeiten, Tiere des Meeres und Tiefsee sein, doch in jenem Moment wirkte sie so unmenschlich, wie sie nur sein konnte.
Ihr Gesicht war verzerrt. In ihm waren Kummer niedergeschrieben und der Schatten jener Jahrzehnte, die sie gefangen gewesen waren, doch dann leuchtete aus ihm eine eherne Entschlossenheit hervor, die Tartara überraschte.
Manannan hatte ihre Aufmerksamkeit auf die Seeschlange gerichtet, ließ ihre Tentakel, sobald sich einer gelöst hatte, weil das Ungeheuer sich so viel bewegte, sofort wieder zurücksausen und sich um den Körper des Tieres winden. Einen Moment lang jedoch, als Tartara gerade ihren Blick von den Tentakeln abgewandt hatte und ihn zu Manannans Gesicht empor wanderen ließ, da trafen ihre Augen die der ehemaligen Göttin. Das Blau ihrer Augen wirkte endlos wie das Meer, wenn man vom Strand aus über seine Oberfläche hinweg sah, intensiv, sprechend.
Tartara verstand. Manannan verschaffte ihr die Zeit, die sie benötigte. Die Orcas mochten nicht auf sie hören, weil sie so unfassbar intelligtente und eigenwillige Tiere waren oder weil Tartara die Macht, die ihr nicht rechtmäßig gehörte, einfach nicht richtig anwenden konnte, doch so oder so würde es mit ihnen nicht funktionieren. Sie sah den Tieren zu, wie sie sich abwandten, nachdem sie die Rückenflosse des einen Orcas losgelassen hatte.
Sie glitt durch das Wasser und spürte den Widerstand, den sie zuvor verspürt und der sie verlangsamt hatte, erneut. Dieses Mal hatte sie allerdings nicht das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Manannan gab ihr ein Empfinden von Sicherheit.
Der Weg zurück zum Urozean kam ihr unendlich lang vor. Er war zwar noch in Sichtweite, doch in kürzester Zeit hatten die Orcas sie weiter davon weggetragen als gedacht.
Tartara sah den Urozean näher kommen, langsam, aber stetig. Ihre Armzüge wurden stärker und schneller, obwohl sie sie kaum noch spürte. Sie fühlte sich wie mechanisch, in Bewegung gesetzt wie eine Aufziehpuppe.
Dann schlug etwas von der Seite gegen sie.
Tartara hätte Luft ausgestoßen und gekeucht, wäre sie über der Wasseroberfläche gewesen. Doch sie befand sich unter Wasser und so konnte sie nur schmerzverzerrt ihr Gesicht verziehen und leicht benebelt mitbekommen, dass sie mehrere Meter zur Seite geschleudert wurde.
Das Meer fing sie auf. Sie landete nicht hart, auch wenn sie das für einen Moment zu glauben begann. Die Stelle, an der die Flosse der Seeschlange sie getroffen hatte sowie der Rest ihres Körpers, noch immer geschunden von der Durchquerung des Strudels, schmerzten und brannten wie Feuer.
Das Meer, das über ihre Haut strich, versprach dieses Mal jedoch keine Linderung.
Während sie noch versuchte, die Kontrolle über ihren Körper wiederzuerlangen und im Wasser anzuhalten, merkte sie, dass ihr der hauchdünne Faden aus den Händen glitt, jener goldene Faden, den sie benötigte, dringender als alles andere.
Sie war genervt. Genervt davon, dass jeder Schritt und Schwimmzug in Richtung des Urozeans sie weiter von diesem fortzubringen schien. Ihre Hände, die sie nach dem dünnen Faden ausstreckte, griff ins Leere. Da war nur Wasser zwischen ihren Händen, das sie zu verspotten schien und durch ihre Finger rann.
Langsam sank das Garn zu Boden. Weil es so vollgesogen war, schimmerte es kaum und war auf dem Weg zum Meeresgrund nur noch in den ersten Sekunden vor seinem Absinken sichtbar. Dann verschmolz es mit den Fluten und sank für Tartara in unerreichbare Ferne.
Sie wusste, sie musste ihm nur nachtauchen und sie würde es einholen, lange bevor es den Sandboden oder die Felsen unter ihnen berührte.
Doch sie zögerte.
Sie hatte Angst, nach dem Garn zu greifen, es wieder in den Händen zu halten. Das Hinterteil der Seeschlange zuckte noch immer durch das Wasser und war eine zerstörerische Macht, die Leben fordern konnte.
Der Weg nach unten, in die Tiefe, war gefährlich. Sie war hier, im riesigen, weiten Ozean und umringt von Giganten, Herrschern über die Weltmeere. Sie waren ineinander verschlungen, kämpften und versuchten, den jeweiligen anderen zu bezwingen. Natürlich konnte sie nach dem Garn tauchen, aber was maßte sie sich eigentlich an? Von ihnen verschont werden? Würde nicht passieren. Da machte sie sich gar nichts vor.
Alles, was ihr blieb und was sie tun konnte, war es, abzuwarten. Sich zu merken, wo ungefähr das Garn zum Meeresboden hinabgesunken war. Zu verharren, bis sie in Sicherheit war.
Nur dass es für sie nicht so etwas zu geben schien. Die bittere Erkenntnis traf Tartara härter, als sie sollte. Sie würde nicht in Sicherheit sein. Nicht jetzt und vielleicht niemals.
Sie fragte sich, ob sie jemals Sicherheit erfahren hatte, unendliche, wärmende Sicherheit. Sie konnte sich nicht erinnern. Ihre Gedanken waren wie leergefegt, als hätte jene Dunkelheit, die die Tiefen der Meere beherrschte, sich jetzt auch in ihrem Kopf breitgemacht.
Doch nein, halt! Hatte es nicht wenigstens ein paar Momente voller Licht und Leben gegeben, wo sie sich nicht vor Gefahren hatte fürchten müssen?
Beinahe wie von selbst wanderte ihre Hand empor.
Irgendeine Strömung unter Wasser schien es ihr besonders schwer machen zu wollen. Ihre Hand traf auf Widerstand und Tartara musste all ihre Kräfte und restliche Energie aufwenden, um sie emporzuheben. In Richtung ihrer Brust zu lenken. Den Kompass zu berühren, der noch immer an der Kette um ihren Hals hing und sie das ganze Abenteuer hindurch begleitet hatte. Erinnerungen an Fanann An Croí, ihre Heimat, fluteten ihre Gedanken.
Und mit diesem Gedanken kamen auch noch die anderen, die ihr etwas bedeuteten: Ihre Familie, das Schiff, die Mannschaft... Sie erfüllten sie mit Wärme und Licht und ließen sie wieder daran glauben, dass sie das hier überleben konnte.
Tartara schloss ihre Finger so fest um den Kompass, dass sie befürchtete, das Glas über dem Blatt würde zerspringen.
Ihre Gedanken waren noch ganz woanders, in fernen Hafenstädten, über der Wasseroberfläche, segelten an Bord eines Schiffes über die Weltmeere, doch abrupt wurden sie ihr entrissen. Tartara riss ihre Augen auf. Sie hatte sie nicht geschlossen vorher, doch kaum noch ihre Umgebung wahrgenommen.
Sie waren erschienen, die Bewohner der Ozeane. Die Orcas, die zuvor vom Urozean weggeschwommen waren, kehrten zurück, schattenhafte Giganten, die in einem riesigen Schwarm aus Vielfalt schwammen. Da waren Haie (die Tartara ein wenig Angst machten), kleine Fische und große, einige Rochen, die schwerelos durch das Wasser glitten, die Orcas, sogar ein Wal war dabei, der die Schwertwale noch um einiges an Größe überbot. Schildkröten, Quallen, Robben, sie alle bildeten einen riesigen Schwarm.
Es war ein Wunder, dass die zerstörerische Gewalt der Natur für einen Moment innehielt und dass die Haie nicht jene Fische verfolgten und fraßen, die sich normalerweise fast ganz unten in der Nahrungskette befanden.
Tartara, die all jene Fische beobachtete und regungslos im Wasser verharrte, fühlte sich beinahe erschlagen von der Größe des Schwarms, der sich da gebildet hatte. Und es wurden immer mehr. Von allen Richtungen kamen Fische, ein nie endender Strom aus Meerestieren und noch mehr Meerestieren. Sie begann, sich zu fragen, ob noch alle von ihnen regional waren oder ob sie von fernen Ozeanen angeschwommen kamen, weil sie, Tartara, sie zu sich rief.
Mit einem Mal fühlte sie sich wieder so geborgen wie in ihrer Heimat, umringt von den Bewohnern des Meeres, die ihr wie eine riesige Familie vorkamen. Hier fühlte sie sich wohl, behütet und sie glaubte, dass sie an der Seite der Meeresbewohner das schaffen konnte, was ihr eine solche Angst bereitete.
Endlich war es soweit. Der Zeitpunkt, den sie die letzten Tage und Wochen unbewusst herbeigesehnt hatte, war gekommen. Jetzt würde endlich der Urozean in seine Schranken verwiesen werden, wäre nie wieder in der Lage, Schiffe und ihre Mannschaften zu verschlingen. Und all das, ohne es vollends zu zerstören. Das Wunderwerk in der Natur, die zerstörerische, alte Macht, Ursprung aller Sagen, Heimat der Wellenlichter.
Endlich, dachte Tartara. Endlich, endlich, endlich.
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