U.2_Unter Beschuss
Erneut erklang ein Kanonenschuss und Tartara bemerkte erleichtert, dass er meilenweit am Schiff vorbeigesaust war. Nichtsdestotrotz war es zu gefährlich, noch weiter an Deck zu verweilen, weshalb sie aufstand und Kip die Hand reichte, damit er ebenfalls aufstand und ihr folgte. Kalt lag seine Hand in der ihren, während sie ihn zur Treppe zog.
Sie bedeutete ihm mit einem Finger, kurz zu warten, ehe sie zu Glanwen hinaufstürmte. Der Steuermann stand alleine auf der Brücke und lenkte die Triton nach Bauchgefühl. Kurzerhand hielt die Kapitänin, die sich für die Navigation zuständig fühlte, solange die Triton keinen eigenen Navigator besaß, ihm das Pergament hin.
»Wir müssen ein wenig mehr steuerbord«, meinte sie und deutete auf die eingezeichnete Insel und das Meer daneben.
Glanwen blickte sie ruhig an. »Das wird wohl noch ein wenig warten müssen. Wenn uns das andere Schiff noch weiter beschießt, legen wir ihm den Besanmast schutzlos vors Korn.« Der Steuermann hatte schon viele Seeschlachten erlebt. Aus diesem Grund wusste er um die Gefahren, dem Gegner das Heck zuzuwenden. Er besaß den Mut, gefährliche Manöver zu fahren, um den Feind zu versenken, die Gelassenheit, aufgeben zu können, bevor das Schiff versenkt wurde und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das schätzte Tartara so an ihm. Sie musste sich keine Sorgen machen, dass die Triton einen Havarieschaden erlitt, solange Glanwen das Ruder in seinen Händen hielt.
Tartara nickte ihm zu und begab sich dann wieder zur Treppe. Kip stand noch immer an jener Stelle, an der sie ihn hatte warten lassen. Mit einem nachdenklichen Ausdruck hatte der Junge, der wie eine Kanonenkugel angeflogen gekommen ist, sie fixiert. Tartara, der unwohl unter dem Blick des Ozeans wurde, schlug die Augen nieder und trat dann an ihm vorbei, um die Stufen hinunter zu gehen.
Die Triton klagte. Ihre Planken ächzten. Ihre Takelage zitterte. Das Schiff wollte nicht zurück in die Richtung des Urozeans, schon gar nicht, während es dabei unter Beschuss war. Schnell durch das Wasser glitt sie trotzdem, auch wenn Tartara nicht umhin konnte, ein Stocken in den der Bewegung zu erkennen.
Tartara bemerkte, wie der Blick des neben ihr die Treppen hinuntereilenden Jungen nach links und rechts wanderte, wie um alle Winkel des Schiffs erspähen zu können. Ob er schon von der Triton gehört hatte?
Nun waren sie am Batteriedeck angekommen und Tartara nahm wahr, dass der Junge von dem Geisterschiff ebenso unruhig wurde wie sie, als sie die abfeuernden Kanonen sahen und wie die Kanonenkugeln herumgeschleppt wurden. Niemand außer ihnen wusste um den Fluch, der auf dem Geisterschiff lastete oder dem dass auf dem Schiff nicht nur die Geister waren, sondern auch der Geisterrufer.
Ihr wurde übel und sie sah beiseite, um nicht die Freude auf den Gesichtern des Klabauters oder der Männer sehen zu müssen, die den beißenden Geruch alles andere als abstoßend fanden.
Mit einem Mal bemerkte sie, dass einige der Seemänner sie mit einem verspottenden Gesichtsausdruck anblickten. Sie, die junge, wenig erfahrene Kapitänin, beteiligte sich nicht am Feuern. Natürlich mussten sie denken, dass sie Angst hatte und der Aufgabe als Schiffsführer nicht gewachsen war.
Entschlossen atmete Tartara durch und lief dann auf einen der Hinterlader zu, der nicht belegt war. Dort angekommen überprüfte sie die Spannung des Brooktaus und schob dann die Stückpforte hoch. Zuerst griff sie in das bereit stehende Fass mit Schwarzpulver und füllte mit der Schaufel eine ordentliche Menge davon in den Hinterlader. Trotzdem befand sich eine Menge des Schwarzpulvers an ihren Händen.
Kurz blickte sie zum Klabauter, der ihren Blick aus glitzernden Augen erwiderte. Sie kniff ihre Augen finster zusammen, als die Kreatur, eine Kanonenkugel mit den starken Armen tragend, keine Anstalten machte, sich zu ihr hinüber zu bewegen.
Einer der Seemänner rief nach dem Klabauter. Sofort schoss der Kopf des Wesens in dessen Richtung. Lautstark verlangte der Mann nach der Kanonenkugel, ein, zwei wüste Beschimpfungen fielen, als der Klabauter sich nicht bewegte. Desinteressiert wandte jener sich von dem Mann ab und Tartara zu. Herausfordernd blickten sie einander in die Augen.
Mittlerweile hatten auch die restlichen Mitglieder der Besatzung ihre Blicke gehoben und beobachteten, was geschehen würde.
Tartaras Herz pochte laut. Ihre Hände zu Fäusten geballt, die Lippen aufeinander gebissen, die Augen zusammengekniffen. Eine Ewigkeit verstrich. Dann bewegte sich der Klabauter, lief schnell zu der Kanone, für die er sich entschieden hatte.
Kip blickte belustigt zu ihr und Tartara schenkte ihm ein ehrliches Lächeln. Auch sie hatte den kurzen Blick des Klabauters in die Richtung des Fremden gesehen, woraufhin er sich dafür entschieden hatte, der Kapitänin die schwere Eisenkugel zu bringen. Als das kleine, starke Wesen ihr nun auch noch die Kugel in den Hinterlader legen wollte, nahm sie ihm die Last aus den Händen und warf ihm einen warnenden Blick zu. Sie war dankbar, dass der Klabauter ihre Position als Kapitänin bewusst oder auch unbewusst gefestigt hatte, doch wenn er ihr jetzt noch die Hälfte der Vorbereitung für das Feuern einer Kanone abnahm, wäre aller Fortschritt dahin.
Im vollen Bewusstsein, dass alle ihre Handgriffe beobachtet wurden, zündete sie die Lunte und trat einige Schritte zurück. Noch während der Kanonenschuss ertönte, wandten die anderen sich wieder den eigenen Hinterladern zu und Tartara stand mit einem stolzen Grinsen neben dem Brooktau, beobachtete, wie der Hinterlader dagegenrollte und von ihm gestoppt wurde.
Tartara linste aus der Öffnung und wartete, bis der Rauch des Kanonendonners sich verzogen hatte. Schnell erkannte sie, dass das Schiff aus Ebenholz schräg im Wasser lag, der Bug reckte sich zum Himmel empor. Wie versteinert blickte sie zu und glaubte, dass sich eine Schicht aus Stein um ihr Herz wand. In kürzester Zeit waren nur noch die Toppen zu sehen und der Bugspriet.
Mit einem Gurgeln verschwand das Schiff in den Tiefen des Meeres und nichts als ein finsterer Wasserstrudel ließ noch darauf schließen, dass eben noch ein weiteres Schiff mit den Wellen getanzt hatte.
Die Triton ließ den kleiner werdenden Strudel hinter sich zurück, als sie sich steuerbord wandte.
Tartara schlug ihre Augen nieder und drehte sich zu den Farrach um, der neben sie getreten war und sie nun kritisch musterte. »Jetzt lass' doch nicht gleich den Klüver hängen!«, versuchte er sie aufzumuntern. »Ich bin mir sicher, dass das Schiff dir nicht böse ist und an Deck waren ja nur die Geister, um die musst du echt nicht trauern.« Sie nickte daraufhin und setzte ein Lächeln auf, eine Maske, durch die niemand ihre Trauer um den Freund ihres Onkels erahnen konnte. Niemand. Niemand außer Kip, der von dem Geisterrufer wusste und ihr außerdem so nahe war, dass er das helle Glänzen leiser Tränen sehen musste.
Über den Sieg gefeiert wurde nicht. Zu groß war die Unruhe darüber, was sie in wenigen Seemeilen erwarten würden. Die Mitglieder der Mannschaft verteilten sich wieder an Deck, wobei einige wenige bei den Kanonen blieben und durch die Stückpforten hinausspähten, wahrscheinlich, weil sie sich vergewissern wollten, dass das Geisterschiff nicht mysteriöserweise wieder durch die Oberfläche brach und sie erneut attackierte.
Tartara wusste, dass sie an Deck benötigt wurde. Die Mannschaft würde angesichts des Meeres der Vergessenen und der Strudel einige Anweisungen gebracuhen können. Kurzerhand zeigte sie auf die Treppe, die hoch zum Achterdeck zeigte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, hinter sich nichts als den weiten Ozean sehen zu müssen, um sicher zu sein, dass sie wirklich gerade ein Schiff versenkt hatte und die See um Vergebung beten zu können.
Der fremde Junge folgte ihr wortlos. Mehr und mehr begann Tartara, ihr Misstrauen abzulegen. Er schien keine Unruhe stiften zu wollen. Sie glaubte fest daran, dass er auf die Triton geschossen wurde, weil dies der einzige Weg für ihn gewesen war, zu überleben, sobald festgestanden hatte, dass das Schiff mit den lachsfarbenen Segeln sinken würde.
Als die Kapitänin endlich am Heck stand und ihr die salzige Luft kühl um die Nase strich, fühlte es sich mit einem Mal gar nicht mehr so an, als wären sie gerade an einer Seeschlacht beteiligt gewesen. Dennoch hatte sie das Gefühl, noch immer unter Beschuss zu stehen. Mit heller Gischt zielte der Ozean auf sie, bombardierte sie mit schlechtem Gewissen.
Erneut wurde sie sich auch der Verantwortung bewusst, die auf ihr lastete. Je näher sie dem Urozean kamen, desto mehr Entscheidungen würde sie treffen müssen, die das Wohlergehen des Schiffes betrafen. Sie musste wissen, wann es Zeit war, den Befehl zum Umdrehen zu geben, bevor die Triton für immer in den Tiefen des Ozeans versank. Sie muste darauf achten, dass die Moral der Mannschaft hoch blieb, sodass niemand auf die Idee kam, in der Nähe der Urozeans noch eine Meuterei zu starten.
Da war Kip, von dem sie nicht sicher sein konnte, was seine Absichten betraf und auf den sie ein Auge haben musste, denn er war ein Fremder auf ihrem Schiff und obwohl die Triton noch nicht protestiert hatte, fühlte sie sich unwohl, ihn bei ihrem Abenteuer an Bord zu haben. Er schien anständig, doch war mindestens ebenso mysteriös. Sie wollte ihm nicht blind vertrauen, nur um es am Ende zu bereuen.
Zu allem Übel, als fühlte sie sich nicht schon elendig genug, löste sich, als eine besonders zornige Woge hinter dem Schiff herrauschte und an Heck zerschellte, der Verschluss der Kompasskette, der sowieso nie sonderlich gut gehalten hatte. Tartara, die zuerst überprüft hatte, dass das Wasser wieder vom Achterdeck hinunterfloss, musste berstürzt mit ansehen, wie der Kompass ihres Vaters auf die Kante des Schanzkeides fiel und von dort aus in Richtung des Ozeans hüpfte. Schnell sprang sie nach vorne und streckte ihren Arm nach fallenden Gegenstand aus, doch sie war zu spät. Mit einem unspektakulären Platschen landete der Kompass auf den wilden Wogen und schien dort für einige Momente zu schwimmen, ehe er unterging.
Entmutigt zog Tartara ihren Arm zurück, ließ ihn über die Reling schleifen. Ohne den Kompass wäre die ganze Reise umsonst gewesen. Sie musste ihn wiederholen, auch wenn das bedeutete, sich in das Meer zu stürzen, das ihr so viel Schrecken bereit hatte.
Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, schwang sie ein Bein über die Reling, dann das andere. Mit zittrigen Beinen stand die Kapitänin hoch oben, das Meer unter sich. Als sie ihren Kopf zur Seite wandte, sah sie dort Kip, der neben sie getreten war, zwischen ihnen nur die Reling und salzige Luft.
»Ich habe Angst.« Ihre Worte wurden über das Meer getragen. Sie blickte über die heftig schäumende Oberfläche und schloss die Augen.
Tartara fühlte sich nicht bereit und doch wusste sie, dass sie jetzt springen musste, sonst würde sie den Kompass nie wiederfinden, der noch nicht so weit in die Tiefe getrudelt sein konnte. Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie, dass der Junge mit den Augen wie der Ozean ebenfalls über die Reling gestiegen war und sie nun fest ansah.
»Ich weiß.«
Dann nahm er ihre Hand und gleichzeitig sprangen sie. Während Tartara fiel und fiel, konnte sie nur an die Stimme Kips denken, die so rau war wie der Ozean selbst. Im nächsten Moment brachen sie durch die Oberfläche und wurden sofort von eisigem Wasser willkommen geheißen, das jedoch nach einiger Zeit nicht mehr so kalt war.
Tartara tauchte tief. Ihr war, als hätte jemand ihren Namen gerufen und führe sie in die Richtung, die sie nun einschlug. Tiefer und tiefer, dorthin, wo das Wasser kalt und dunkel war. Während sie das Gefühl von Leichtigkeit genoss, dass sie unter Wasser immer ergriff, bemerkte sie, dass sie keine Angst mehr verspürte. Da war das endlose Blau vor ihr, unter ihr, über ihr und sie streckte die Arme aus, ließ zu, das Wasser sie umspielte und ihren Körper bewegte, wie es wollte.
Erst, als die Kälte über ihre Füße kroch und an den Beinen empor, eine Gänsehaut hinterlassend, bewegte Tartara sich, um nicht zu erfrieren.
Wenige Meter vor sich konnte sie den Kompass sehen, der mit den Strömungen tanzte. Ein Armzug, zwei, dann war sie dort angekommen und streckte erleichtert die Hand nach dem Relikt ihres Vaters aus. Doch mit einem Mal spürte sie, dass das Wasser anders schwappte als sonst. Ähnlich wie bei ihrer Rückkehr nach Fanann An Croí, schmecktet der Ozean auch jetzt wieder nach nahendem Unheil.
Tartara schloss ihre Finger um den Kompass, umklammerte ihn dann fest und vollführte eine Drehung im Wasser, nur um sich mit zwei mitternachtsschwarzen Knopfaugen auf Augenhöhe zu befinden, die wie eine Kanonenkugel aus sie zuschossen.
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